Es ist immer wieder spannend, alte Denkmodelle der Philosophie zu entdecken, die sich entgegen aller Erwartungen als überaus relevant für die heutige Zeit erweisen. Es ist sehr interessant, solche Denkmodelle auf aktuelle Situationen oder Gegebenheiten anzuwenden. Das macht die Philosophie lebendig – und auch unsere Gegenwart, die so neue Impulse bekommt.

Ein solches Denkmodell ist der “Gesellschaftsvertrag”: Damit Individuen – gerade in einer größeren Anzahl – zusammen leben oder auch nur zusammen arbeiten können, braucht es Regeln. Doch woher kommen diese Regeln und was gibt es für Kriterien, nach denen man diese Regeln aufstellen kann?

Hier gibt es ein seit Jahrhunderten erprobtes Modell: den Gesellschaftsvertrag.

Zu Beginn der Neuzeit gab es folgende Situation, die bewältigt werden musste. Bis dahin verfügte die Gesellschaft über ein starkes religiöses Fundament. Die Regeln, nach denen die Gesellschaft funktionierte, waren die Regeln der Religion.

Diese Regeln – wie auch die Religion selbst – gerieten immer mehr in die Kritik. Die Frage wurde immer stärker, wie man die Grundlagen der Gesellschaft rational begründen kann: wie ist die Gesellschaft eigentlich entstanden und wie kann man an ihr weiterbauen, dass sie gut funktioniert?


Die Aufklärung

Ein Meilenstein setzte hier der Engländer Thomas Hobbes (1588-1679). Hobbes ging davon aus, dass der Mensch sich in seinem ursprünglichen Zustand wie ein Tier verhält und übereinander herfällt, in einem „Krieg jeden gegen jeden“.

Thomas Hobbes, Quelle: www.wikipedia.org

Damit der Mensch überhaupt zu einem geregelten Zusammensein findet, beschließen die einzelnen Menschen aus freiem Willen heraus miteinander einen Vertrag abzuschließen. In diesem Vertrag treten die Menschen einen großen Teil ihrer Rechte an den Staat ab, der wiederum die Menschen voreinander schützt.

Jetzt kann man zu Recht einwenden: so einen Vertrag hat es doch nie gegeben! Völlig richtig, das wusste auch Hobbes. Es handelt sich um einen gedanklichen Kniff, um eine argumentative Lücke zu füllen.

Die Lücke besteht in der Legitimation von Regeln. Wenn die Gesellschaft und ihre Regeln nicht gottgegeben oder auf Gottes Willen hin geschaffen sind: wonach dann? Nach der Vernunft, sagt Hobbes. Die Gesellschaft muss nach der Vernunft gebaut werden. Die Vernunft sorgt dafür, dass die Menschen gut und sinnvoll miteinander umgehen. Die Gesellschaft kann nur dann funktionieren, wenn die Menschen sich – wie in einem Vertrag – verbindlich auf dieses Fundament verständigt haben und als Fundament der Gesellschaft funktionieren.

Das Erzählen von diesem Vertragsabschluss in der Urzeit dient dazu, etwas historisch zu begründen, was in der Gegenwart vollendet werden muss: die Gestaltung der Gesellschaft, aufbauend auf einer gegenseitigen Verständigung und auf der Vernunft.

 

John Locke, Quelle: www.wikipedia.org

In der gesamten Aufklärungszeit wird weiter an diesem „Gesellschaftsvertrag“ gefeilt, vor allem durch John Locke (1632-1704), der die Rolle des einzelnen Menschen gegenüber dem Staat deutlich stärkt, und durch Jean-Jaques Rousseau (1712-1778), der den ursprünglichen Zustand des Menschen – also den außer- oder vorgesellschaftlichen Zustand – deutlich positiver sieht.

Immanuel Kant (1724-1804) erkennt im Modell des Gesellschaftsvertrags schließlich sogar ein Muss: der Mensch muss sich frei für diesen Vertrag entscheiden, um überhaupt in Gemeinschaft leben zu können und eine für alle Menschen gemeinsame Basis des öffentlichen Rechts schaffen zu können.

20. Jahrhundert

John Rawls, Quelle: www.wikipedia.org

Eine interessante Weiterführung des Gesellschaftsvertrags liefert im 20. Jahrhundert John Rawls (1921-2002). In seinem Hauptwerk „Eine Theorie der Gerechtigkeit“ von 1971 schildert er folgende Situation: die Menschen schließen einen Gesellschaftsvertrag und regeln ihr Zusammenleben, wobei sie nicht wissen, wer mit welchen Fähigkeiten sich später in dieser Gesellschaft befinden wird. Diesen „Schleier des Nichtwissens“ braucht es, so Rawls, um eine Gesellschaft zu bauen, die wirklich auf der Gerechtigkeit aufbaut, und nicht eigene, persönliche Vorteile im Blick hat.


Fazit

Dieses Modell des Gesellschaftsvertrages ist eine gedankliche Hilfe, Kriterien zu benennen, das gesellschaftliche Leben zu gestalten: es geht darum, einen offenen gesellschaftlichen Diskurs zu entwickeln, in dem die Menschen gemeinsam und vernünftig die Regeln festlegen, unter denen sie leben wollen. Dabei sollen sie nicht auf die Vorteile einzelner schauen, sondern die Regeln so anlegen, dass sie dem gesellschaftlichen Zusammen nützen und gleichzeitig die Rechte des Einzelnen wahren.

  • Sind die Regeln und Gesetze so aufgestellt, dass jeder ihnen nach vernünftiger Überlegung zustimmen sollte?
  • Sind die Institutionen, welche die Gesellschaft regieren, so angeordnet, dass sie in einem vernünftigen Miteinander stehen und effektiv zum Wohle der Allgemeinheit arbeiten können?
  • Sind die Regeln in dem Sinne gerecht, dass sie keinen bevorteilen oder neue Ungerechtigkeiten provozieren?
  • Stehen das Wohl der Allgemeinheit und die Freiheit des Einzelnen in einem angemessenen Verhältnis?

Das Modell des Gesellschaftsvertrags setzt natürlich gewisse Dinge voraus, die unter Umständen nicht bei jedem gegeben sind: gegenseitige Toleranz und die Orientierung an der Vernunft. Doch dieser Anspruch muss vorhanden sein, wenn es darum geht, mit einem gewissen Optimismus an die vernünftige Gestaltung der Gesellschaft zu gehen.

Dieses Modell lässt sich nicht nur für gesellschaftliche Fragen benutzen, sondern auch für einzelne Unternehmen:

  • Werden Entscheidungen im Unternehmen so getroffen, dass jeder im Unternehmen diesen Entscheidungen nach vernünftiger Überlegung zustimmen könnte?
  • Ist das Unternehmen so aufgebaut, dass die Abteilungen in einem vernünftigen Miteinander stehen?
  • Stehen das Wohl des Unternehmens und das Wohl der Mitarbeiter in einem angemessenen Verhältnis?

Die Unternehmen sind Gesellschaften im Kleinformat, die darauf angewiesen sind, dass es vernünftige Regeln gibt und sie vernünftig funktionieren. Auch hier geht es darum, im „Change Management“ die Unternehmen dahingehend zu verändern, dass das Gesamt des Unternehmens im Auge behalten wird ohne die Rechte oder das Wohlergehen der einzelnen Mitarbeiter zu missachten.

 

Literaturempfehlungen:

Locke, John: Zwei Abhandlungen über die Regierung.

Rawls, John: Eine Theorie der Gerechtigkeit.

Rousseau, Jean-Jacques: Der Gesellschaftsvertrag.