Am 9. November, dem letzten Samstag, jährte sich zum 30. Mal der Fall der Berliner Mauer.
Was ist seitdem schiefgelaufen?
Was ist schiefgelaufen, dass auch 30 Jahre später die Deutsche Einheit eigenartig oberflächlich erscheint? Dass sich die Deutschen immer noch in Ossis und Wessis einteilen? Und es in der Tat noch immer bedeutende Unterschiede und Ressentiments zwischen Ossis und Wessis gibt?
Was ist da schiefgelaufen bei der Deutschen Einheit?
Wissen, wie es nicht geht: Fusionen von Unternehmen
Man kommt dem vielleicht auf die Spur, wenn man auf einen anderen Bereich gibt, in dem es auch ständig Vereinigungen und Zusammenführungen gibt, die oft scheitern: die Wirtschaft bzw. fusionierende Unternehmen.
Wenn zwei Unternehmen fusionieren, also im Normalfall das eine Unternehmen das andere aufkauft, dann ist es eine große Herausforderung, aus zwei Unternehmen ein gut funktionierendes Unternehmen zu schaffen. Schöne Grüße an Allianz-Dresdner Bank oder Daimler-Chrysler.
Wichtigster und meistunterschätzter Faktor ist die Unternehmenskultur. Zwei Unternehmen mit unterschiedlichen Unternehmenskulturen, unterschiedlichen Mechanismen, Verhaltensweisen, Mentalitäten usw. müssen sich zusammenraufen.
Dieses „Zusammenraufen“ wird oft so durchgeführt, dass das dominante Unternehmen sämtliche Führungspositionen im kleineren Unternehmen besetzt und dieses nach und nach auf das dominante Unternehmen gedrillt werden soll.
Das Ergebnis: die Mitarbeiter im kleineren Unternehmen fühlen sich bevormundet und unterdrückt. Da können auch viel Geld und tolle Versprechungen an eine tolle gemeinsame Zukunft nicht viel helfen.
Die Fusion zweier Staaten: die Deutsche Einheit
Ähnlich geschah es bei der Deutschen Einheit. Die Deutsche Einheit war natürlich weder faktisch noch rechtlich das Zusammengehen zweier gleichberechtigter Partner, sondern die (freiwillige) Aufnahme des einen in den Verbund des anderen. Westliche Politiker genauso wie westliche Wirtschaftsleute besetzten schnell alle Schaltstellen im Osten. Die Geschichte und die Eigenheiten des Ostens spielten keine Rolle mehr.
Nun ist es ja kein Zufall, dass der Westen den Osten schluckte und nicht umgekehrt. Der Osten war politisch wie wirtschaftlich völlig bankrott. Es war klar, dass es auch in einem neuen Deutschland nicht weitergehen konnte wie gewohnt.
Entweder hätte man den Osten behutsamer übernehmen sollen oder – was ich favorisiere – man hätte mit dem Osten genauer aufarbeiten sollen, warum er eigentlich gescheitert ist. Das wirklich aufarbeiten, was in den letzten Jahrzehnten passiert ist. Man kann ein Land nicht mit Geld und Wissen aus dem Westen zuschütten und dann glauben, dass alles wie im Westen funktioniert.
Diese Aufarbeitung dessen, was im Osten zwischen 1945 und 1990 eigentlich passiert ist, steht gesellschaftlich bis heute aus. Der Geschichtsunterricht endet sowohl im Osten wie auch im Westen mit dem Jahr 1945. Östliche Politiker lehnen es ab, die DDR als „Unrechtsstaat“ zu bezeichnen.
Was hier stattfindet, ist mangelnde Aufarbeitung dessen, was dauerhafte Bespitzelung, das Einmauern der eigenen Bevölkerung und Hunderte Tote an der DDR-Mauer bedeuten.
Die Überlegenheit des Westens
Er konnte sich zu Recht als Sieger fühlen. Die liberale Gesellschaftsidee des Westens hatte über die sozialistische Gesellschaftsidee des Ostens gesiegt. Nun ging der Westen hin und begann den Osten mit seinem Geld und mit seiner Wirtschaft zu beglücken, versprach „blühende Landschaften“, bemühte sich aber nicht, den Osten innerlich mitzunehmen. Dies musste man nicht, weil man sich zu Recht überlegen fühlen konnte. Die Frage ist nur, was man auf Dauer mit diesem Gefühl der Überlegenheit beim Gegenüber bewirkt – auch wenn dieses Gefühl berechtigt ist.
Die Konsequenz war bei vielen Ossis das Gefühl, das eine System durch ein anderes System ersetzt zu haben. Genau auf dieser Klaviatur konnte die SED-Nachfolgepartei PDS/Linke lange Zeit meisterhaft spielen und auch die AfD setzt genau hier an, wenn sie mit „Wir sind das Volk!“ und „Vollende die Wende!“ deutlich macht: Euer Kampf gegen das System muss weitergehen, jetzt nicht gegen Erich, sondern gegen Angela!
Gemeinsame Vision
Auch bei Fusionen von Unternehmen gibt es gewöhnlich einen großen Partner, der gewonnen hat, und einen kleinen Partner, der geschluckt wird. Damit sich der große Partner nicht verschluckt, muss er einen schwierigen Spagat hinkriegen: überlegen zu sein, aber diese Überlegenheit nicht auszuspielen, deutlich zu machen, dass eine neue Zeit anbricht, aber auch der kleiner Partner aktiv mitgestalten kann.
Das ist ein Spagat, der nicht immer gelingt, den man aber versuchen muss, wenn eine Unternehmensfusion auf Dauer gelingen soll.
Dieser Spagat ist in Deutschland nach der Wiedervereinigung nicht versucht worden. Es gab und gibt keine gemeinsame Vision. Wie soll ein neues, wiedervereinigtes Deutschland aussehen? Was ist die gesellschaftliche Klammer? Nur die Wirtschaftskraft?
Auch in diese Lücke versteht es die AfD meisterhaft einzudringen, indem sie eine Identität anbietet: die der Verklärung der deutschen Vergangenheit und der Abwendung gegenüber allem Fremden.
Dem hat die deutsche Politik erschreckend wenig entgegenzusetzen, und das seit der Deutschen Einheit.
Freiheit als Vision
Die große Chance, eine gemeinsame Vision Deutschlands zu entwerfen, liegt in dem, was am 9. November 1989 geschehen ist: in dem Wunsch der Menschen in Ost und West nach einem friedlichen und vor allem freien Deutschland. Die Mauer ist nicht gefallen, sie wurde durch den Freiheitswillen der Deutschen zum Einsturz gebracht.
Deutschland hat sich einer großen Chance beraubt, indem sie den blutleeren 3. Oktober zum nationalen Feiertag machte, an dem es nur um den Verwaltungsakt der Zusammenfügung der beiden deutschen Teile geht.
Der 9. November hätte auf Dauer etwas von dem hervorbrechenden Freiheitswillen und der Begeisterung der Menschen aufbewahren können. Wohlwissend, dass der 9. November auch für die Schattenseiten der deutschen Geschichte steht. Umso mehr kann der 9. November 1989 den von 1938 überwinden als einen Sieg der Freiheit über Unterdrückung und Hass.
Wenn zwei Unternehmen fusionieren, werden Heerscharen von Beratern engagiert, die eine neue, gemeinsame Identität entwerfen sollen, einen Gründungsmythos, eine Geschichte des neuen Unternehmens. Dieses „Storytelling“ hatte Deutschland am 9. November vor Augen und hat es hergeschenkt.
Umso mehr Grund, sich immer wieder das in Erinnerung zu rufen, was vor 30 Jahren geschehen ist: Menschen überwinden ihre Angst und ihre Trägheit, weil sie eine andere, eine neue Zukunft wollen, ein neues Deutschland, in dem es keine Unterdrückung mehr gibt, sondern Frieden und Freiheit.
Eine mögliche Vision für die Zukunft?
Und warum sollte es zurecht ein Überlegenheitsgefühl geben? Die Wende kam ja nicht wirklich durch die Überlegenheit des eines Systems, sie kam durch die Fehler des untergehenden Systems. Auch während der Wende gab es durchaus noch viele Menschen in der DDR, die an einen Sozialismus glaubten, die diesen aber eben in einer Demokratie sahen, mit Freiheitsrechten und alles was dazu gehört. Dass die Diktatur im Ostblock gescheitert ist, ist kein Beleg dafür, dass die westlichen Demokratien überlegen waren und somit sehe ich nicht, dass es da eine Berechtigung für ein solches Gefühl gibt/gab.
Vielmehr finde ich, dass die Wiedervereinigung hätte auf Augenhöhe stattfinden müssen. Wie viel weiter könnten wir sein, wenn die Lebensgeschichten der Menschen aus dem Osten nicht degradiert wurden wären, wenn sie genauso eine Anerkennung gefunden hätten, wie die Lebensgeschichten der Menschen aus dem Westen? Die tiefe Teilung in den Köpfen könnte schon überwunden sein, ein Überlegenheitsgefühl verhindert genau dieses. Und vielleicht wäre der erste Schritt, um die tiefen Gräben doch noch zu überwinden, dieses Gefühl endlich in die Mülltonne zu kloppen, denn auch die westlichen Demokratien sind Krisenanfällig und dadurch, dass der Kontrahent im Osten nicht mehr vorhanden ist, zeigt sich diese Krisenanfälligkeit noch deutlicher. Ein Symptom davon ist der Rechtsruck in den gesamten westlichen Demokratien.