Das Thema „Unternehmenskultur“ wird immer wichtiger für die Unternehmen: Unternehmen bestehen nicht nur aus Zahlen, sondern sind komplexe Gebilde. Der entscheidende Faktor des Unternehmens ist der Mensch. Eine Ansammlung von Menschen bildet im Laufe der Zeit eine Kultur heraus. Diese Kultur muss man beachten, wenn man ein Unternehmen verstehen will.

Eine Kultur besteht aus Handlungsmustern, aus der Art der Kommunikation usw. Daneben besteht Kultur – auch die Kultur eines Unternehmens – aber aus etwas, das oft schwer greifbar ist und normalweise bei der Betrachtung der Unternehmenskultur nicht in den Blick kommt: der Kern, um das alles kreist.

Ein Unternehmen hat eine bestimmte Identität, etwas, das man als „Unternehmensseele“ oder „Unternehmensgeist“ bezeichnen könnte. Ein Unternehmen hat etwas in sich, das ihm eine Art „innere Beständigkeit“ gibt, ein innerer Kompass oder ein Referenzpunkt. Im Unterschied zur bloßen Unternehmenskultur geht es hier nicht um Wechselwirkungen und Handlungen, sondern um etwas, das bleibt, um das alles andere kreist und das die Ursache dafür ist, warum bestimmte Dinge so gemacht werden und nicht anders.


“Mythos”

Ich habe mich vor einigen Jahren in der Philosophie sehr intensiv mit dem “Mythos”-Begriff beschäftigt. Dieser “Mythos”-Begriff kann auch sehr hilfreich sein, wenn es um das Verständnis der Unternehmenskultur bzw. der “Seele” des Unternehmens geht.

Fangen wir pinzipiell an: Was ist ein Mythos?

Der Mythos ist im Wesentlichen eine Erzählung über einen Schöpfungs- oder Gründungsakt. Dieser Schöpfungsakt ist jetzt aber nicht nur etwas Vergangenes, er beschreibt zugleich die Gegenwart, gibt der Gegenwart eine Identität.

Der Weltschöpfungsmythos erzählt, wie die Welt geschaffen wurde und damit zugleich, was der Mensch ist. Er erzählt, was das eigene Volk ist und bietet die Möglichkeit, eine eigene Identität und Orientierung zu bilden.

Der Gründungsmythos von Rom (Romulus, Remus und die Wölfin) erzählt den Bewohnern der Stadt nicht eine längst vergangene Geschichte, sondern wer sie als Bewohner der Stadt sind und was Rom ist.

Der Mythos der Fohlenelf der 70er Jahre erzählt mir als Anhänger von Borussia Mönchengladbach keine Geschichte der Vergangenheit, sondern das, was der Verein heute ist und wie er tickt.

Was ist nun ein Mythos?

Ein soziales Gebilde (Unternehmen, Staat, Fußballverein, Religion …) bildet bestimmte Narrative heraus, Erzählungen, die viele Aspekte des Lebens bestimmen und die Identität ausmachen, „Geist“ oder die „Seele“ einer Sache. Solche Erzählungen verdichten sich zu Mythen, die weitererzählt und verdichtet werden.

Ein Mythos ist nicht – wie oft behauptet – eine reine Vergangenheitserzählung, sondern ist der Versuch, die Gegenwart zu erklären – durch die Vergangenheit.

Das moderne „Storytelling“ knüpft an diese Struktur an, tut dies allerdings als didaktisches Mittel. Ein Mythos will nicht nur erklären, er prägt, er bestimmt, er bildet die Identität einer Sache.

Der Mythos ist kein bestimmter Inhalt, er ist eine bestimmte Denkstruktur, eine bestimmte Art, Wirklichkeit zu erklären und in diesem Anspruch prägt der Mythos die Wirklichkeit.


Wie ist es bei einem Unternehmen?

Auch da gibt es Narrative, z. B. Erzählungen über den Unternehmensgründer. Diese Erzählungen werden jahrzehntelang weitergetragen und über diese Erzählungen wird deutlich, wie das Unternehmen tickt. Wenn ein Kölner Kneipenwirt vor 60 Jahren das Unternehmen gegründet hat und seine Anekdoten immer noch über die Gänge geistern, dann wird ein klassischer Hamburger es schwer haben, sich in das Unternehmen einzufinden und gegen den Mythos des Unternehmens anzukämpfen, wenn er nicht an den alten “Mythos” anknüpfen kann.

Letztlich geht es beim Thema „Mythos“ natürlich um die Unternehmenskultur. Aber im Mythos wird greifbar, worum die Unternehmenskultur eigentlich kreist, um welche Motive, Personen, Geschichten.

In einigen Unternehmen sind solche Mythen sofort greifbar: Geschichten, die das Unternehmen beschreiben. Bei vielen Unternehmen sind solche Mythen nicht sofort greifbar und interessanterweise haben diese Unternehmen oft Schwierigkeiten, ihren Wesenskern, ihre „Seele“, ihre Identität zu bestimmen. In dem Fall ist „Arbeit am Mythos“ angesagt: Welche Dinge im Unternehmen gibt es, die das Zeug haben, einen „Mythos“ zu bilden? Geschichten aus der Gründungszeit, die neu entdeckt werden müssen? Bestimmte Ereignisse der jüngeren Vergangenheit, die das Zeug haben, noch in vielen Jahren erzählt werden?

Mythen sind da. Manchmal greifbar, manchmal nicht. Sie geben einem Unternehmen Profil und Identität, können aber natürlich auch zum Hemmschuh und zur Blockade werden. Man kann Mythen nicht völlig kontrollieren, aber vieles kann man steuern. Der Mythos über die Gründung Roms kam auch erst Jahrhunderte nach der Gründung und hat sich ja doch gut gehalten.

 

Literaturempfehlungen:

Barthes, Roland: Mythen des Alltags.

Blumenberg, Hans: Arbeit am Mythos.

Hübner, Kurt: Die Wahrheit des Mythos.