Das mit den Fakten ist so eine Sache. Es gibt sie.
Das Problem ist aber: Wie kann man sie erkennen? Und wie interpretiere ich sie dann? Welche Folgen haben die Fakten?
Diese Problematik ist gerade in diesen Wochen von entscheidender Bedeutung, in denen das Corona-Virus durch die Welt tobt und zum Umgang mit den Fakten zwingt, die dieses Virus schafft. Die Folge: Unsicherheit in den Regierungen und bei den Regierten, Vorwürfe der Unkenntnis oder der Verdrehung von Fakten, Verschwörungstheorien, Sicherheit da, wo vielleicht mehr Unsicherheit gefordert wäre, Unsicherheit da, wo vielleicht mehr Sicherheit verlangt wäre.
Hier scheitern selbst Fernseh-Philosophen wie Richard-David Precht, der noch Mitte März dazu riet, das Corona-Virus „nicht allzu ernst zu nehmen“ und es als etwas „vergleichsweise Harmloses“ bezeichnete. Was ihn aber nicht daran hinderte, noch vor wenigen Tagen Trump „Verharmlosung“ vorzuwerfen.
Fakten?
In der letzten Woche titelten zeitgleich zwei große deutsche Internetportale über das Gelingen und das Scheitern des schwedischen Weges in der Corona-Krise.
Die jeweils völlig unterschiedliche Einschätzung war in diesem Fall davon abhängig, ob die Sterberate im Kontext der positiv getesteten Corona-Kranken berechnet wurde (dann war sie sehr hoch) oder in Relation zur Gesamtbevölkerung (dann war sie durchschnittlich).
Die Faktenlage ist zur Zeit außerordentlich schwierig. Wie viele Kranke gibt es überhaupt? Davon abhängig, wie viele im jeweiligen Land überhaupt getestet wurden. Wie viele Corona-Tote gibt es überhaupt? Davon abhängig, wie ich „Corona“ gegenüber anderen Krankheiten bewerte, an denen jemand verstorben ist. Wie hoch ist das Infektionsrisiko an welchen Orten? Wie hoch ist es an freier Luft oder in geschlossenen Räumen?
In all diesen Fragen kämpfen Wissenschaftler um die Fakten. Sie machen dabei Fortschritte, aber das Problem ist natürlich, dass Entscheidungen getroffen werden müssen, bevor alle Fakten bekannt und erforscht sind.
Entscheidungen?
Entscheidungen ohne genaue Kenntnis der Faktenlage treffen zu müssen, ist nicht gerade eine Wunschvorstellung, aber leider hin und wieder gefordert. Aber es lauern eben Gefahren, auf die man achten sollte, gerade in der Krisenkommunikation. Dies gilt für Staaten genauso wie für Unternehmen oder einzelne Personen.
- Abwarten: Die Unfähigkeit, die Fakten einzuordnen, kann dazu (ver)führen, erst einmal gar nichts zu unternehmen. Besser gar keine Entscheidung als eine falsche. Dummerweise ist auch eine Nicht-Entscheidung eine Entscheidung: nämlich die Dinge laufen zu lassen, was im Falle eines Virus verhängnisvoll sein kann. Dieser Gefahr sind die meisten Regierungen in Europa erlegen, die in den ersten Wochen nach Bekanntwerden der Epidemie in China erst einmal abwarteten und bereits angefertigte Krisenpläne in der Schublade ließen.
- Zu große Sicherheit: Fakten werden eindeutiger dargestellt als sie sind. Dann ist es nicht sinnvoll, Gesichtsmasken zu tragen, um sie drei Wochen später zur Pflicht zu erklären. Dann werden Kennzahlen als Handlungsgrenzen verkündet, auf die dann nicht reagiert wird. Das Entscheidende hierbei ist nicht die Aussage an sich – die Möglichkeit kann es ja geben – , sondern die Sicherheit, mit der sie verkündet wird. Es ist zwar wichtig, in der Krisensituation Sicherheit zu vermitteln, aber nur in den Sachen, in denen man sicher ist. Jede Korrektur macht die ganze Kommunikation unglaubwürdig.
So wurde seitens des Robert-Koch-Instituts zwar oft darauf hingewiesen, dass man sich in seiner Bewertung nicht sicher sei – was dann auch richtig ist. Nur darf man dann keine Entscheidungen treffen, die mit diesen unsicheren Bewertungen begründet sind. Wenn sich dann später die alten Bewertungen als nicht mehr gültig erweisen, werden auch die Maßnahmen unbegründbar, die man aufgrund dieser Bewertungen getroffen hat. - Entscheidungen sind widersprüchlich: warum sind Geschäfte mit einer Fläche mit über 800 Quadratmetern gefährlicher als Geschäfte mit einer kleineren Fläche? Warum ist es in Bayern gefährlicher vor die Türe zu gehen als in Nordrhein-Westfalen? Warum ist ein kleiner Laden gefährlicher als eine U-Bahn? Warum wird die Grenze nach Frankreich geschlossen, aber Flugreisende aus Fernost dürfen ohne Kontrollen einreisen? Entscheidungen, die ohne sichere Fakten getroffen werden, widersprechen oft anderen getroffenen Entscheidungen, weil die faktische Grundlage fehlt, mit der die Entscheidungen abgeglichen und dann automatisch angeglichen werden.
Handeln soll auf Fakten beruhen. Wenn das nicht geht, muss zumindest so gehandelt werden, dass das negativste realistische Ereignis im Blick ist. Wenn die Fakten dann nach und nach kommen, kann nachgebessert werden. Auch die Kommunikation sollte sich an den Fakten orientieren, denn sonst gibt es Widersprüche in der Kommunikation bzw. Widersprüche an den Maßnahmen, die mit der Kommunikation begründet werden.
Es ist wie bei einem notorischen Lügner: er fällt deshalb auf, weil er seine Unwahrheiten gar nicht in ein kohärentes System packen kann. Irgendwann tauchen Widersprüche in seinen Aussagen auf. Der ähnliche Effekt tritt auch auf, wenn man nicht bewusst lügt, aber Aussagen tätigt, die keine faktische Grundlage haben: es tauchen Widersprüche auf.
Diese Widersprüche sind oft eine Einladung für teils recht bunte Interpretationen.
Interpretation!
Kein Faktum steht für sich. Schon Nietzsche sagte: “Alles ist Interpretation!” Fakten müssen interpretiert werden, damit Handlungen entstehen können. Leider finden auch Interpretationen statt ohne auf die Fakten zu achten. Dies führt dazu, dass beispielsweise die aktuelle Corona-Krise von verschiedenen Kreisen derart interpretiert wird, dass das, was man bisher immer gesagt hat, nun endlich sichtbar geworden ist.
Dann sagen katholische Kardinäle, russische Patriarchen und iranische Imame, dass die Homo- oder Transsexualität in den westlichen Ländern schuld sei, Klima-Aktivisten sprechen davon, dass endlich deutlich sei, dass der Umgang mit dem Klima die Zivilisation gefährde, sozialistische und kommunistische Vertreter sprechen davon, dass nun Kapitalismus und Neo-Liberalismus am Ende seien.
Jede dieser Gruppen hätte Schwierigkeiten, ihre Meinungen mit Fakten zu begründen. Ganz abgesehen von der Schwierigkeit, dass Epi- und Pandemien auch schon zu früheren Zeiten existierten. Eine Gruppe erkennt seit jeher ein großes Defizit in der Gesellschaft und eine Krise der Gesellschaft wird für sie automatisch zu einem Beleg ihrer These.
Verschwörungstheorien
Nun gibt es nicht nur Gruppierungen, die bei ihren Aussagen nicht nur nicht auf Fakten achten, sondern auch diejenigen, die Fakten schaffen oder mutwillig verdrehen: die Verschwörungstechniker, die hinter jedem Ereignis eine andere, verborgene Macht erkennen, die nur sie erkannt haben. Dann tauchen Berichte auf, dass die westlichen oder chinesischen Geheimdienste das Virus geschaffen hätten oder dass 5G-Funkmasten verantwortlich seien. Von diesen Verschwörungstheorien wird das Internet gerade überschwemmt.
Macht und Ohnmacht der Fakten
Fakten sind ohnmächtig, weil sie allein nichts wert sind bzw. oft schwer zu ermitteln sind. Umso größer ist die Einladung, diese Ohnmacht zu nutzen und als Macht im eigenen Sinne zu gebrauchen. Dies findet gerade in diesen Wochen an vielen Orten statt. Es ist für den Regierten wie für die Regierung nicht immer einfach, den Durchblick zu behalten und zu erkennen, was eine faktische Grundlage hat und was nicht, und wo auch Experten noch in der Findungsphase sind.
Diese Schwierigkeit gilt nicht nur in gesellschaftlichen Krisenzeiten wie diesen, sondern immer wieder für Unternehmen, aber auch einzelne Personen. Sie alle müssen immer wieder Fakten bewerten, einordnen, Entscheidungen treffen und Entscheidungen kommunizieren.
Umso wichtiger ist für jeden, die Fähigkeit neu zu erlernen, Fakten erkennen und interpretieren zu können – eine Fähigkeit, die in Zeiten der Digitalisierung und der damit zusammenhängenden Informationsflut wichtiger ist denn je.