Noch hat uns die Corona-Krise fest im Griff. Es gibt Lockerungen und Erleichterungen, die uns zumindest in weiter Ferne ein Ende der Krise ankündigen. Damit wird auch die Frage immer häufiger danach gestellt, was denn nach der Krise sein wird:

Was hat diese Krise in uns und in unseren Gesellschaften bewirkt? Werden wir uns und unser Verhalten ändern?

Oder, ganz plump: Werden wir schlauer?

Vielerorts spricht man davon, dass die Krise große Auswirkungen auf uns alle haben wird. Die Krise sei ein Schockerlebnis, das viele Menschen zum Umdenken bewegt. Themen wie die persönliche Lebensführung, der Kontakt mit Freunden und Familie, aber auch politische Themen wie soziale und medizinische Gerechtigkeit, Klimaschutz und Wirtschaft würden nun mit neuen Augen gesehen.


Werden wir schlauer?

Meine erste, spontane Reaktion: Nein, werden wir nicht.

Viktualienmarkt am 15.3. (Quelle: www.sueddeutsche.de)

Und das Aufmarschieren nicht allzu schlauer und reflektierter Leute auf Deutschlands Straßen, die gegen die 5G und die Weltherrschaftspläne der von Gates dominierten WHO demonstrieren, scheinen mir da Recht zu geben. Aber man sollte dieser kleinen Minderheit auch nicht mehr Raum zubilligen als sie verdient hat.

Werden wir schlauer?

Bei der Beantwortung dieser Frage schlagen zwei Seelen in meiner Brust, die jeweils von einem Philosophen angetrieben werden, die mir beide persönlich viel bedeuten, in der Beantwortung dieser Frage aber anders ticken.

 

Kant und die Aufklärung

Die Aufklärung Ende des 18. Jahrhunderts war von der Idee beseelt, dass es Bildung braucht. Die Menschen brauchen Bildung, um sich gegen tyrannische politische Systeme auflehnen zu können. Kant sprach davon, dass die Aufklärung den Menschen aus einer „Unmündigkeit“ befreien würde. Durch Bildung werden die Menschen in die Lage versetzt, ihre eigene und die gesellschaftliche Situation analysieren zu können und für einen großen, allumfassenden gesellschaftlichen Fortschritt zu sorgen.

Immanuel Kant (1724-1804), Quelle: www.wikipedia.org

Die Fakten geben Kant in einem gewissen Sinne Recht: wenn man sich die Situation der Menschheit in den letzten Jahrhunderten anschaut, hat es einen klaren Fortschritt und eine klare Verbesserung der Lebenssituation der meisten Menschen auf diesem Planeten gegeben: Bildung und persönliche Freiheit – die sich auch in einer freien Wirtschaft äußerte – haben für einen weltweiten Rückgang von Armut, Analphabetismus und Sterblichkeit und für wachsenden Wohlstand und ein längeres Leben gesorgt.

Insofern, ja, wir werden schlauer.

 

Gadamer und die Hermeneutik

Dagegen steht der von mir ebenfalls sehr geschätzte Philosoph Hans-Georg Gadamer mit seiner Hermeneutik.

Gadamer geht davon aus, dass jedes Verstehen – also auch dasjenige, das Kant in seine Aufklärung anzielt – in hohem Maße abhängig ist vom jeweiligen subjektiven, historischen und gesellschaftlichen Kontext. Wenn die Aufklärung Kants glauben würde, diesen Kontext durch eine abstrakte, objektive Vernunft überwinden zu können, dann sei das naiv, so Gadamer.

Hans-Georg Gadamer (1900-2002), Quelle: www.wikipedia.org

Kant nannte es „Unmündigkeit“, dass der Mensch in diesem Kontext gefangen ist. Gadamer stellt dem entgegen, dass der Mensch – auch wenn er es will – diese Unmündigkeit gar nicht völlig verlassen kann.

Vernunft, so Gadamer, entwickelt sich nicht im Glauben, diesen Kontext überwinden zu können, sondern in der Kenntnis dieses Kontextes und in der schrittweisen Weiterentwicklung dieses Kontextes.

Auf die Frage, ob wir schlauer werden, würde Gadamer etwas zögern und mit der fiesen Gegenfrage kontern: was ist schlauer? Woran messen Sie das?

Gadamer würde im Unterschied zu Kant auf zwei Dinge hinweisen:

  1. Die Menschen haben natürlich die Möglichkeit, schlauer zu werden. Aber nicht durch abstrakte, vermeintlich objektive Ideen. Sondern durch Kenntnis der Welt, in der sie leben, und die immer neu errungen werden muss, weil die Welt sich ständig ändert.
  2. Was wir für schlau halten, ist weder für jemanden schlau, der vor 50 Jahren gelebt hat, noch für einen, der in 50 Jahren leben wird. Und vielleicht auch nicht für einen, der gerade in Nigeria oder Surinam lebt.



Werden wir schlauer?

Kants Stärke ist Gadamers Schwäche: auch abstrakte Ideen können Macht entwickeln. Auch eine vermeintlich objektive Vernunft kann Wirkmacht entfalten und verändern.

Zugleich ist Gadamers Stärke Kants Schwäche: wir bleiben an das gebunden, was wir bisher gedacht, gefühlt und gelebt haben. Und das mehr als uns lieb ist.

Was heißt das für die Zeit nach Corona? Werden wir anders denken?

Wie es sich für Philosophen gehört: ein klares Jein. Mit einer persönlichen Tendenz in Richtung Nein.

Es wird viele Änderungen geben. Gerade, was das Verhältnis von Reisen und „Homeoffice“ betrifft. Viele eigentlich unwichtige Sitzungen, für die man mal kurz nach München oder Leipzig oder sogar – je nach Position – nach Singapur musste, werden zumindest erklärungsbedürftig. Vieles lässt sich auch vom heimischen Computer erledigen, was bisher körperliche Anwesenheit erforderte.

Trotzdem wird auch das nicht heißen, dass persönlicher Kontakt und räumliche Nähe keine Rolle mehr spielen werden. Gerade die Erfahrung des „social distancing“ hat ja auch diesen Wert betont.

 

Erfahrungen

Es wird viele kleine Änderungen in unserem alltäglichen Verhalten geben. Was es aber nicht geben wird: den großen Mentalitätswandel.

Quelle: www.wikipedia.org

Der Untergang der Titanic war ein riesiger Schock für den Glauben an das technische Machbare. Trotzdem marschierten wenige Jahre später die ersten Menschen über den Mond.

Die Erlebnisse der beiden Weltkriege waren Schockerlebnisse. Viele Menschen schworen, dass es auf dieser Welt nie wieder Krieg und Massentötung geben soll. Das Ergebnis ist bekannt.

Man sollte nicht allzu optimistisch sein, was einen allgemeinen Mentalitätswandel aufgrund der Corona-Krise angeht.

 

Die meisten Menschen (die meisten, nicht alle!) werden nicht völlig neu über Klimawandel, Geschlechtergerechtigkeit, Wirtschaftssystem oder sonstige prinzipielle Lebensfragen nachdenken. Was aber nicht heißt, dass es keine Änderungen bei diesen prinzipiellen Lebensfragen gibt. Nur: die dauern.

Solche Änderungen passieren über lange Zeiträume. Hier können singuläre Ereignisse wie ein Krieg oder eine Seuche durchaus ihre Wirkung haben. Aber nach einer kurzen Phase unmittelbar nach dem Ereignis verläuft erst einmal alles in den gewohnten Bahnen.

Werfen wir einen kurzen Blick auf die Pest im Mittelalter. Kurzfristig hatte sie kaum gesellschaftliche Konsequenzen. Langfristig schon. Weil die Menschen gemerkt haben, dass die alten gesellschaftlichen Antworten nicht in der Lage waren, angemessen zu reagieren. Das führte nicht sofort dazu, dass die Gesellschaft von jetzt auf gleich auf den Kopf gestellt wurde. Aber eben doch dazu, dass die Menschen sich neue Antworten erarbeiteten.

Das dauerte Jahrhunderte und am Ende dieser Veränderung steht die moderne Welt, wie wir sie kennen. Das Mittelalter war vorüber und die lange Verarbeitung der Pest hat hier wohl eine wichtige Rolle gespielt: die Antworten der Kirche hatten sich als hilflos erwiesen, das Individuum erwachte.

Change Management

Wenn man die Kultur in einem Unternehmen ändern will, gilt das gleiche wie das, was für eine ganze Gesellschaft gilt:

Es braucht Visionen und große Ideen, die motivieren und ein Ziel vorgeben. Wenn diese aber nichts mit dem realen Leben des Unternehmens zu tun haben, werden sie aber böse scheitern als Luftschlösser und Hirngespinste.

Veränderungen passieren langsam und sie passieren immer als Weiterentwicklung dessen, was bereits da ist. Ein Change Management, welches das nicht berücksichtigt, hat keine Chance.

 

Optimismus und Realismus

Kant und Gadamer können zusammen helfen, den Blick in die Zeit nach Corona zu werfen: Kant kann uns optimistisch machen, dass es Fortschritt und Veränderung geben wird. Gadamer kann uns realistisch machen, dass diese Veränderung nur langsam passieren wird und nicht auf dem Reißbrett entworfen, sondern gesellschaftlich gefunden wird.

Wir brauchen beides: Optimismus und Realismus. Das gilt für das Change Management jedes Betriebes. Aber auch für eine ganze Gesellschaft.