In der letzten Woche überfiel Putin die Ukraine. Die westliche Welt schaut verstört und hilflos nach Osten und ist überrascht von dem, was dort passiert ist.

So wirklich überraschend ist dieser Überfall jedoch nicht. Sie entsprechen dem, was Putin und sein Regime seit Jahren denken und auch aussprechen.

Victor Klemperer (Quelle: www.wikipedia.org)

Der Philologe Victor Klemperer (1881-1960) hat in seinen erschütternden Tagebüchern, aber vor allem in seinem Werk „LTI – Die Sprache des Dritten Reiches“ das Regime der Nazis anhand ihrer Sprache analysiert: wie die Nazis sprachen, wie sie ihre Taten begründeten, von welcher Welt sie träumten: all das darf man nicht beiseiteschieben als bloßes Marketing oder Propaganda. Die Sprache sagt, was das Regime ist. Sprache ist nie Zufall. Die Sprache verrät, was der Mensch denkt. Was er will.

Vielleicht hat man das zu lange bei Putin vergessen.

„Die Aussagen eines Menschen mögen verlogen sein – im Stil seiner Sprache liegt sein Wesen hüllenlos offen.“
(V. Klemperer)



Wie begründet Putin den Überfall auf die Ukraine?

Hierzu hat er sich in den letzten Jahren immer wieder sehr ausführlich geäußert, so etwa in einem Artikel, der 2020 in der deutschen „Zeit“ erschien, aber insbesondere in seinem Essay „Zur historischen Einheit von Russen und Ukrainern“ vom Juli 2021.

Die Ukraine, so Putin, habe kein Existenzrecht.

Zum einen sei sie eine Gründung der Sowjetunion („ganz und gar und durch und durch ein Geschöpf der Sowjetära“), zum anderen sei die ukrainische Bevölkerung Teil des russischen Volkes und sei insbesondere durch die vom Westen gesteuerte Maidan-Revolution vom russischen Volk entfernt worden.

Dies, so Putin, sei „vergleichbar mit dem Einsatz von Massenvernichtungswaffen“:

„Es ist nicht übertrieben zu sagen, dass die gegenwärtige Politik einer gewaltsamen Assimilation, der Schaffung eines ethnisch sauberen ukrainischen Staates, die sich aggressiv gegen Russland richtet, in ihren Folgen vergleichbar ist mit dem Einsatz von Massenvernichtungswaffen gegen uns. Als Resultat eines solchen groben, künstlichen Bruchs zwischen Russen und Ukrainern kann das russische Volk um Hunderttausende, ja um Millionen abnehmen.“

Kiew

Wenn Putin also immer wieder von einem Genozid spricht, dann meint er keinen Genozid in unserem Verständnis: hier wird kein Volk in einem physischen Sinn ermordet (weswegen Putin auch keine Bilder für einen Genozid in der Ukraine liefern kann oder muss), sondern in einem kulturellen oder rassischen Sinn. Indem die Ukrainer sich dem Westen zuwenden, sind sie nicht mehr Teil des russischen Volkes und werden damit für das russische Volk „vernichtet“.

Die Ukraine – bzw. der verführerische Westen – muss noch nicht einmal etwas tun, was ausdrücklich gegen Russland ist: jede Aktivität, welche die Ukraine selbständig macht, entfernt sie von Russland und macht sie zu einem „Anti-Russland“ und damit zu einem Genozid an Russen.

Die Ukraine, so Putin weiter, könne nur mit Russland zusammen souverän sein:

„Ich bin überzeugt, dass die Ukraine echte Souveränität nur in Partnerschaft mit Russland erreichen kann. Unsere geistigen, menschlichen und zivilisatorischen Bande sind über Jahrhunderte entstanden, sie haben dieselben Ursprünge und sind durch gemeinsame Prüfungen, Errungenschaften und Siege gehärtet worden. Unsere Verwandtschaft wird von Generation zu Generation weitergegeben. Sie lebt in den Herzen und im Gedächtnis der Menschen im heutigen Russland und in der Ukraine, in Gestalt der Blutsbande, die Millionen unserer Familien verbinden. Gemeinsam waren wir schon immer um ein Vielfaches stärker und erfolgreicher und werden es auch in Zukunft sein. Schließlich sind wir ein Volk.“

Unabhängigkeit der Ukraine bedeutet nicht Unabhängigkeit in unserem Sinne als Unabhängigkeit gegenüber jedem anderen Staat. Für Putin liegt die Unabhängigkeit der Ukraine darin, nicht fremden (d.h. westlichen) Einflüssen nachzugeben, sondern den eigenen kulturellen Wurzeln und den eigenen Blutsbanden zu folgen: Russland.


Iwan Iljin

Dieser scharfe kulturelle und rassistische Gegensatz zwischen Russland und dem Westen ist nicht neu, sondern wird von vielen russischen Autoren seit Jahrhunderten gepflegt. Einer von ihnen zählt zu Putins Lieblingsautoren und wird immer wieder von ihm zitiert: Iwan Iljin (1883-1954).

Iljins Werk lebt von einem sehr eigenwilligen Grundimpuls: die Welt ist böse, schlecht und chaotisch und dieser Zustand habe begonnen, indem Gott die Welt geschaffen hat:

„Am Anfang war das Wort, Reinheit und Vollkommenheit, und das Wort war Gott. Doch dann beging Gott eine Jugendsünde. Er schuf die Welt, um sich zu vervollkommnen, beschmutzte sich stattdessen jedoch selbst und verbarg sich in Scham. Die Ursünde wurde von Gott, nicht von Adam begangen: die Freisetzung des Unvollkommenen. Sobald die Menschen in der Welt waren, nahmen sie Tatsachen wahr und erlebten Gefühle, die sich nicht mit dem vereinbaren ließen, was Gott im Sinn gehabt hatte. Jeder einzelne Gedanke und jede einzelne Leidenschaft verstärkten den Zugriff des Teufels auf die Welt.“

Hieraus ergibt sich eine wichtige Konsequenz für das Leben in dieser Welt: das völlige Fehlen von Ordnung und damit auch das völlige Fehlen von Moralität. Die Welt ist eine Welt des Teufels.

Iwan Iljin (Quelle: www.wikipedia.org)

Alleine Russland, so Iljin, sei in der Lage gewesen, diesen Versuchungen des Teufels zu widerstehen, aber diese Unschuld Russlands (der „unbefleckte Wesenskern“) sei seit vielen Jahrhunderten bedroht – insbesondere durch die Länder des Westens. Dieses Russland sei kein normaler Staat oder keine Organisation, sondern eine „lebendige organische Einheit“. Weißrussen, Ukrainer und Russen seien Teil dieser Einheit, die von der Vernichtung bedroht ist.

Aus dieser Bedrohung, so Iljin, kann nur eine Führerfigur befreien: „Macht kommt von ganz allein zum starken Mann.“ Dieser „starke Mann“ solle alle Bereiche des politischen Lebens Russlands bestimmen und den russischen Organismus retten.

Indem Russland kein normaler Staat, sondern ein organisches Gebilde sei, wäre auch eine Demokratie in Russland völlig sinnlos. Dies wäre so, als würde man „Embryonen erlauben, sich ihre Spezies auszusuchen“, so Iljin. Jeder Gedanke der Individualität müsse zerstört werden, da er das organische Leben Russlands zersetze.



Iljins Einfluss auf Putin und sein Umfeld darf nicht unterschätzt werden: er zieht sich durch nahezu sämtliche grundsätzliche Äußerungen Putins und der russischen Regierung.

Iljin spricht von der „Männlichkeit Russlands“ und wir sehen Putin mit nacktem Oberkörper durch die sibirische Tundra reiten.

Ilijn spricht von einer Bedrohung durch die Homosexualität des Westens und Putin gibt dem Westen die Schuld an der Homosexualität in Russland („Homodiktatur“).

2012 schreibt Putin, dass die Rechtsstaatlichkeit kein universale Bestrebung ist, sondern Teil der fremden, westlichen Kultur. Wer wird zitiert? Iljin. Die russischen Soldaten erhalten 2014 den Marschbefehl in die Ukraine. Was erhalten sie zur Lektüre? Ein Werk Iljins. Wen zitierte Putin, als die Annexion der Krim gelaufen war? Iljin.

 

Von Iljin zu Putin

Vor diesem Hintergrund ergeben sich viele Motive, die bei Putin auftauchen und eine immer größere Rolle spielen:

  • Das Fehlen von Moralität: die Lügen, die Morde, die Kriege sind legitime Mittel, um Russland zu retten, da es keine moralischen Prinzipien gibt, die in der Welt gelten. Entsprechend sinnlos ist es für den Westen, moralische Prinzipien gegenüber Putin einzufordern.
  • Die immerwährende Bedrohung Russlands: seitdem es existiert, wird Russland bedroht, weil es die einzige Macht ist, die dem Bösen und Chaotischen in der Welt widersteht. Entsprechend sinnstiftend sind die Klagen über die westliche Bedrohung und entsprechend sinnlos ist für den Westen, auf Putins Sprechen über die Bedrohung zu reagieren. Die Bedrohung besteht immer und aus Prinzip. Putin fühlt sich nicht bedroht durch die NATO-Osterweiterung, sondern durch jeden Russen, der in den Westen blickt.
  • Die Gegnerschaft zum Westen: Russland befindet sich seit seiner Geburt im Kampf mit dem Westen. Dieser Kampf ist ein Kampf der Welt Gottes gegen die Welt des Teufels. Der Westen muss gar nichts tun, um Gegner zu sein: seine Existenz reicht und rechtfertigt einen Krieg gegen die, die sich dem Westen zuwenden wollen. Entsprechend sinnlos ist es für den Westen, Schritte auf Putin zuzugehen oder Neutralität oder Nichteinmischung oder den Rückzug der NATO zu versprechen: er will die Auflösung des Westens, um Russland zu retten. Der Westen droht nicht mit dem, was er tut, sondern durch das, was er ist.
  • Die Absage an die Demokratie: es kann keine Demokratie geben, weil die organische Natur Russlands kulturell und rassisch veranlagt und damit jenseits von Abstimmungswahrheiten liegt. Entsprechend sinnlos ist es für den Westen, von Putin die Einführung demokratischer oder rechtsstaatlicher Prinzipien zu erhoffen.
  • Das Führerprinzip: Putin selbst sieht sich immer mehr in der Rolle der von Iljew beschriebenen Erlösergestalt, als der starke Mann, der alleine in der Lage ist, Russland zu befreien und in seiner Reinheit gegenüber dem Westen zu bewahren. Diese Rolle wird seit Jahren auch in den Medien immer stärker ausformuliert: „Früher war er einfach unser Präsident und konnte abgelöst werden. Jetzt ist er unser Führer. Und wir lassen nicht zu, dass er abgelöst wird“, RT-Chefredakteurin Simonyan). Entsprechend sinnlos ist es für den Westen, mit Putin auch nur auf Augenhöhe verhandeln zu wollen.

Aus all diesen Lehren Iljins ergibt sich ein konsistentes Bild, an dem sich Putin orientiert und aus dem heraus Putin seine Politik betreibt und begründet. Putin und Iljin sind natürlich nicht deckungsgleich, aber Putin erkennt in Iljin einen eigenen Charakterzug und überhöht ihn: das Gefühl des Bedrohtseins und der Gewalt als Ausweg aus diesem Bedrohtsein.

Auch ein Hitler war nicht vom ersten Tag an im Besitz einer durchformulierten rassistischen Lehre. Er hatte das Gefühl, dass etwas Bestimmtes nicht richtig läuft, von dem er sich bedroht fühlte. Er fühlte bereits rassistisch. Er fühlte sich als Deutscher verraten von Versailles, von der Moderne, von allem.
Und diverse Autoren lieferten Hitler ein “tieferes Verständnis” über dieses Gefühl, indem sie im Bauteile für seine Lehre lieferten. Ähnlich ist es mit Putin. Es gab ihn vor Iljin. Er nahm den Untergang der Sowjetunion als Bedrohung wahr. Den Westen. Die Moderne. Und Iljin lieferte ihm dann das Material, diese Bedrohung genau zu verstehen, die Schablone, das Gesamtsystem, all das einzufügen, was Putin als bedrohlich wahrnahm.



Es ist ja immer interessant, wie Menschen sich selbst charakterisieren bzw. was sie aus ihrer Kindheit erzählen, um sich selbst als Person darzustellen. Bei Putin ist es die Erzählung von der Ratte. In seiner Biographie „Aus erster Hand“ erzählt Putin folgende Begebenheit aus seiner Kindheit:

„Im Aufgang hausten Ratten. Meine Freunde und ich jagten sie immer mit Stöcken. Einmal entdeckte ich eine riesige Ratte und begann mit der Verfolgung, bis ich sie in die Ecke getrieben hatte. Nun konnte sie nicht mehr entkommen. Da bäumte sie sich plötzlich auf und ging auf mich los. Das geschah völlig unerwartet, und ich war einen kurzen Moment geschockt. Jetzt hatte sie den Spieß umgedreht und jagte mich!“

Putin gab an immer wieder an, dass dies die Szene sei, die ihn zu dem gemacht habe, was er sei: sich nicht in die Enge treiben zu lassen, sondern zum Angriff überzugehen. So regiert er heute, und so wuchs er auf: in ärmlichen Verhältnissen in den Hinterhöfen Leningrads, in denen das Recht des Stärkeren galt. Mit 14 Jahren brach er einem Mitschüler das Bein mit den Worten: „Manche verstehen nur Gewalt.“

Putin (Quelle: www.wikipedia.org)

Putin wurde groß in dem Gefühl, dass die Gewalt nicht nur ein legitimes, sondern ein notwendiges Mittel zur Durchsetzung von Interessen darstellt. Er erlebte als junger Mann den Zusammenbruch der Sowjetunion („größte geopolitische Katastrophe des 20. Jahrhunderts“) als eine Gewalt, die der Westen Russland zufügte. Iljin, aber auch andere Denker des russischen Nationalismus, boten Putin und seinem Umfeld die Gelegenheit, ihr dumpfes Gefühl, dass Russland vom Westen überwältigt worden ist, in eine strukturierte Gesamtsicht zu übersetzen und einen pseudo-intellektuellen Anstrich zu geben.

Iljin und andere ebenbürtige Autoren gaben Putin und seinem Regime die Denk-, Bilder- und Sprachwelt, die es braucht, um wirksam das Denken eines Volkes verändern zu können.

Das Sprechen von einer immerwährenden Bedrohung in der Geschichte Russlands, der Gegensatz Russlands zu allen anderen Ländern auf der Welt, der Appell an den russischen Geist, die russische Unschuld, die Zersetzung der russischen und christlichen Werte durch den Westen, die Wahrnehmung, dass Individualismus und Freiheit eine Bedrohung des Volkes sind, die Notwendigkeit des Kampfes gegenüber dem Westen, der starke Mann Putin, der sein Volk gegen den Westen führt … hier ist eine in sich konsistente Welt entstanden, die jeden Tag in allen staatlichen Äußerungen auf die Menschen einwirkt.

„Worte können sein wie winzige Arsendosen: sie werden unbemerkt verschluckt, sie scheinen keine Wirkung zu tun, und nach einiger Zeit ist die Giftwirkung da“, so Klemperer über die Wirkweise von Propaganda und genau so arbeitet die russische Regierung mit obigen Bildern.

 

Das, was Putin und sein Regime in den letzten Jahren tun, entspricht dem, was in all diesen Elementen ausgedrückt wird. Es ist nicht nur äußerliche Propaganda, sondern entspricht eigenem Glauben und Fühlen. Das Regime handelt irrational. Alleine die Wahrnehmung des Westens als Bedrohung ist ja schon deshalb irrational, weil der Westen – zynisch gesprochen – sonst eher wenig Probleme mit korrupten und gewalttätigen Herrschern hat. Putin und sein Regime handeln irrational, weil dieser Krieg gegen die Ukraine dem eigenen Regime eher schadet als nützt – aber eben seinem Weltbild entspricht.

Mit Blick auf die Beschreibung einer nationalistischen, bisweilen rassistischen Ideologie, die in einer besonderen historischen Mission des russischen Volkes gipfelt, in der Rolle eines Führers, der notwendig ist, diese imperiale Mission zu erfüllen, in der Abwertung von Demokratie, Freiheit, Individualität und Rechtsstaatlichkeit, im Sprechen von einer dauerhaften Bedrohung durch äußere Feinde und einen inneren, moralischen Verfall, in der Hochschätzung von Militarismus und Männlichkeit, in der offenen Anwendung von Gewalt, in der Existenz einer allumfassenden Propaganda: in all dem muss man die Kennzeichen eines faschistischen Systems in Russland erkennen.


Irrationalität

Dieser ideologische Hintergrund von Putin wirkt seltsam wirr und düster: der Kampf Russlands gegen die Mächte des Bösen, die Befreiung durch den Erlöser, die immerwährende Bedrohtheit, die besondere Mission Russlands … all das erscheint irrational und bar jeder Vernunft.

Das ist so und das muss auch so sein. Eine solche Ideologie kann sich nur dann als unangreifbar erweisen, wenn sie irrational und damit von Argumenten nicht zu packen ist. Dies ist kein Zufall, sondern Teil einer solchen Ideologie.

So schrieb etwa der Nazi-Ideologe Wilhelm Stapel:

„Weil der Nationalsozialismus eine elementare Bewegung ist, darum kann man ihm nicht mit ‚Argumenten‘ beikommen‘. Argumente würden nur wirken, wenn die Bewegung durch Argumente groß geworden wäre.“

Dies hat bedeutende Konsequenzen für denjenigen, der sich mit einem solchen ideologischen Regime auseinandersetzen muss. Wie will man mit einem Regime verhandeln, das die Irrationalität zu ihrem Wesenskern gemacht hat? Wie will man ein Regime vom Frieden überzeugen, das den Krieg will? Wie will man ein Regime vom Miteinander der Völker überzeugen, das nur das eigene Volk anerkennt?

Genau daran ist der Westen im Umgang mit Putin gescheitert.

 

Der Westen

Der Westen hat viele Jahre ungläubig auf Putin und Russland geschaut und konnte aus unterschiedlichen Gründen viele Jahre nicht verarbeiten, was dort passierte.

Dafür gibt es sicherlich unterschiedliche Gründe. Ein falscher Glaube an die Allmacht der Vernunft, eine gewisse Russland-UdSSR-Nostalgie, Antiamerikanismus, das Gefühl der Morallosigkeit in den eigenen Gesellschaften, ein Unwohlsein angesichts einer immer weiter voranschreitenden Globalisisierung, die Strahlkraft der starken Persönlichkeit Putins, die Unfähigkeit, nach so vielen Jahren des Friedens eine ernsthafte Gefahr zu erkennen, aber auch pure Geldgier und Korruption: all dies führte dazu, dass viele Menschen Putin und sein Regime nicht als das wahrnehmen, was es in seinem Kern für die westliche Welt ist: eine Gefahr für den Frieden und ein Angriff auf die liberalen und demokratischen Werte des Westens.

Es ist erstaunlich und erschreckend zugleich, wie man sehen konnte, wie Putin die Demokratie im eigenen Land zerstörte, wie Regimegegner mundtot oder ganz tot gemacht wurden, wie aus Russland mit allen Mitteln in den westlichen Ländern gegen die Demokratie gekämpft wurde, wie Kriege vom Zaun gebrochen wurden, wie Expansions- und Eroberungspläne geäußert wurden, wie das Militär massiv aufgerüstet wurde … und all das nicht zu einem Bild zusammengefügt wurde.

Man kann mit Putin nicht einen wirklichen Dialog führen, weil man ihm nie das geben kann, was er eigentlich will. Ein Abzug der NATO aus Osteuropa hätte keine Folgen, weil er sich nicht bedroht fühlt durch die NATO, sondern durch jeden Russen, der vom Westen fasziniert ist. Man kann ihm keine neutralen Länder versprechen, weil es für ihn keine neutralen Länder gibt. Nur Gut und Böse. Die Ratte und die, die die Ratte jagen. Russland und Anti-Russland.

Rationale Argumente und Appelle auf die Menschenrechte verfangen nicht, weil sie in der Welt Putins keine Rolle spielen. Entsprechend hatte ein Dialog mit Putin nie eine Chance. Entsprechend ist auch aktuell mit einer weiteren Eskalation Putins zu rechnen und entsprechend ernst sollte man auch seine Ankündigung der Alarmbereitschaft nuklearer Waffen nehmen – zumindest für die nicht nuklear geschützte Ukraine ist die Gefahr durchaus real.

Unabhängig davon, wie der Krieg in der Ukraine weitergeht, unabhängig davon, wie sich die Situation in Russland selbst in den nächsten Wochen entwickelt: es gibt natürlich immer bessere oder schlechtere Szenarien.

Natürlich gilt es für die westlichen Staaten, möglichst schnell zu einer Gesprächsebene mit Putin zu finden – bei dem man aber darum weiß, mit wem man redet und dass eine gemeinsame Gesprächs- und Wertebasis eben nicht vorhanden ist. Dass man sich auf einen Frieden verständigen muss, ohne Putin das geben zu können, was er will. Aus diesem Gespräch wird kein wirkliches, friedliches Zusammen entstehen können – aber ein kalter Krieg ist immer noch besser als jeder heiße Krieg.



Der Überfall auf die Ukraine hat vielen Menschen in Europa und Nordamerika die Augen geöffnet – für die Realität des russischen Regimes, aber auch für das, wofür der Westen steht: Demokratie, Rechtsstaatlichkeit, Menschenrechte, Menschenwürde.

Auch wenn diese Werte nicht immer gelingen und gelebt werden, haben sich die sog. westlichen Länder zu diesen Werten bekannt. Die Konfrontation mit dem russischen Regime macht nun deutlich, dass diese Werte keine Selbstverständlichkeit sind, sondern ständig neu erarbeitet werden müssen – nach innen wie nach außen.

In den letzten Jahren haben wir in den westlichen Ländern wachsende Gefährdungen der Demokratien gesehen: im Aufschwung rechtspopulistischer Parteien oder Führer, in immer schärferen Polarisierungen in den Gesellschaften, in dem Gefühl vieler Menschen, von „denen da oben“ missachtet zu werden.

Putin hat dankbar vieles von diesen Dingen aufgegriffen und verschärft – aber sie waren auch ohne ihn da. Die Dinge, die er aufgreift, die schlummern in uns allen – und sind deshalb so erfolgreich. Und darüber nachzudenken und auf diese Weise unser aller demokratisches Miteinander neu zu beleben, ist die große innenpolitische Aufgabe, die sich in naher Zukunft uns allen stellt.

Warum verschwindet der Faschismus nicht in der Mottenkiste der Geschichte? Was macht Putin auch im Westen für viele Menschen faszinierend?

Es sind die Einfachheit und die Konsequenz. Die Einfachheit des Gut gegen Böse, des Wir gegen Die. Das Aufräumen mit dem, was uns stört. Nicht das Zerreden, sondern das Tun. Die Konsequenz und Unbeirrbarkeit. Das Durchsetzen.
All das macht den Faschismus faszinierend. Und all das schlummert in jedem von uns.

Der Psychoanalytiker Wilhelm Reich (1897-1957) gilt mit seinem Werk „Die Massenpsychologie des Faschismus“ als einer der ersten und besten Analytiker des Faschismus. Er leitet den Faschismus aus der menschlichen Psyche ab: er steckt in jedem Menschen drin. Das zu entdecken, ist Bedingung für den Kampf gegen den Faschismus, in diesem Fall gegen Putin. Insofern hat diese politische Auseinandersetzung auch viel mit Selbsterkenntnis zu tun, für unsere westlichen Gesellschaften, für uns alle:

„Man kann den faschistischen Amokläufer nicht unschädlich machen … wenn man ihn nicht in sich selbst aufspürt.“
(Reich, S. 15)

 

Literaturempfehlungen:

Le Bon, Gustav: Psychologie der Massen.

Klemperer, Victor: LTI – Notizbuch eines Philologen.

Reich, Wilhelm: Die Massenpsychologie des Faschismus.