Kurz nach dem ersten Weltkrieg, in den Jahren 1918 und 1922, erschienen die zwei Teile eines Werks, das zu einem der umstrittensten, aber auch wirkungsvollsten Büchern des 20. Jahrhunderts werden sollte: „Der Untergang des Abendlands“ von Oswald Spengler (1880-1936).
Spengler beschreibt die Geschichte der Menschheit als eine Geschichte von Aufstieg und Untergang von Kulturen. Diese Existenz der Kulturen ist kein friedliches Neben- oder Nacheinander, sondern ein Kampf: eine Kultur wird belebt durch den „Willen zur Macht“ (Nietzsche): ist der vorhanden, lebt eine Kultur; wenn nicht, stirbt sie ab.
Eine von Leben (d.h. Machtwillen) strotzende Kultur ist ein Imperium: „Imperialismus ist reine Zivilisation.“ Damit dieser Imperialismus sich möglichst ungehindert entfalten kann, braucht es den, der das Imperium führt: den Cäsar, den Führer.
Umgekehrt würden Liberalismus und Demokratie die Lebensenergie einer Kultur schwächen: durch Verwässerung der traditionellen Werte, durch die Dominanz des Geldes. An die Stelle von moralischen Werten treten Beliebigkeiten, der Verfall beginnt.
Wichtiges Vehikel dieses Verfalls sind die Juden, die sich liberaler und demokratischer Werte bedienen, um die Gesellschaften zu zersetzen. Liberalismus, Demokratie und Markt sind damit Werkzeuge einer globalen jüdischen Herrschaft.
Spenglers „Untergang des Abendlands“ wurde ein Bestseller, eine Inspirationsquelle bis heute. Er ist Ausdruck einer Zeitenwende, die um den ersten Weltkrieg herum greifbar wurde: der technische und wirtschaftliche Optimismus hat sich als schal erwiesen, im Gefolge des Krieges wurden die Gesellschaften komplett umgekrempelt, alles ging zu Boden, was bis dahin jahrhundertelang gültig schien.
In diese Situation hinein verfasste Spengler den „Untergang des Abendlands“ und lieferte die Diagnose für den allgemeinen Werteverfall, für das Verschwinden einer uralten Lebensenergie, für das Versagen des Glaubens an den Fortschritt, für das Versagen der neu entstehenden Demokratien.
Die konservative Revolution
Spengler ist Teil einer sehr breiten und heterogenen Bewegung, die in diesen Jahren den Verfall der alten Werte in einer „konservativen Revolution“ bekämpfen wollte.
Diese „Konservative Revolution“ war keine organisierte Bewegung. Es war eine bestimmte Weltanschauung, eine bestimmte Sicht auf die Welt, die von verschiedenen Autoren verbreitet wurde und die das Lebensgefühl vieler Menschen in Deutschland und Europa traf.
Viele Stichworte dieser „Konservativen Revolution“ Anfang des 20. Jahrhunderts tauchen in den letzten Jahren wieder verstärkt auf. Antreiber dieser Verschärfung sind die Globalisierung und die Digitalisierung. Beide machen aus der Welt ein Dorf und verstärken die Ängste um alte Werte, die immer weniger gültig scheinen, und nationale Identitäten, die immer mehr zu verschwimmen scheinen.
Der allgemeine Werteverlust wird meistens mit der 68er Bewegung verknüpft. Sie habe das traditionelle Wertegerüst zum Einsturz gebracht, das der europäischen Kultur jahrhundertelang Orientierung und Sicherheit gegeben habe. Stattdessen würde ein Werterelativismus vorherrschen, der alles gestattet und damit jede ethische Orientierung unmöglich macht.
Folgende Elemente sind eine Folge dieses Werteverlustes:
- Krise der christlichen Kirchen: die traditionellen europäischen Werte sind die Werte des Christentums. Indem diese durch die 68er kritisiert wurden, sind die Kirchen als die traditionellen Wertevermittler in die Krise geraten.
- Sexuelle Freiheit: wichtigstes Kennzeichen dieses Werteverlustes ist die sexuelle Freiheit, vor allem die Homosexualität. Dessen gesellschaftliche Akzeptanz stelle eine Degeneration und einen Akt gegen die Natur dar. Die Steigerung dieser Degeneration stellt die Möglichkeit dar, selbst über die geschlechtliche Identität bestimmen zu können.
- Verlust der nationalen Identität: indem die alten Werte und damit auch traditionelle kulturelle Faktoren verschwinden, kommt es zu einem Verlust nationaler Identität. In dem neuen Einheitsbrei der Wertelosigkeit verschwinden die Kennzeichen der eigenen Nation. Befeuert wird dieses Verschwinden durch die massive Aufnahme kulturfremder Flüchtlinge.
Diese Entwicklung, so die Meinung bestimmter Kreise, ist kein Zufall, sondern gewollt. Dahinter steckt eine diffuse Macht, die etwas Übernationales haben muss und überall in der Welt präsent sein muss: der Kapitalismus, die vermeintliche Geisteshaltung, dass nur Geld und keine Werte zählen und Werte deshalb zerstört werden müssen, um noch mehr Geld und Macht haben zu können.
Festgemacht wird diese Haltung oft an Amerika – als dem Hauptträger der heutigen übernationalen Kultur – und im Judentum, das ebenfalls übernational und kapitalistisch gesinnt ist.
Wichtiger Träger dieses Werteverfalls ist die Demokratie. Sie ist das Sprungbrett der Beliebigkeit und stellt das zur Abstimmung, was man nicht abstimmen kann: die traditionellen Werte, die aufgelöst werden in einer gigantischen Multi-Kulti-Show.
Demokratiefeindlichkeit, Antiamerikanismus und Antisemitismus sind oft konkrete Folgen dieser Ideologie, personell verortet etwa in George Soros, einem ungarisch-amerikanischen Juden, der sich weltweit für die Demokratie einsetzt, und im Microsoft-Gründer Bill Gates, der ebenfalls viel für humanitäre Projekte getan hat und dem nicht nur angedichtet wird, nach der Weltherrschaft zu streben, sondern bezeichnenderweise auch, ein Jude zu sein.
Interessanterweise werden mit Soros und Gates gerade die beiden Milliardäre zum Ziel, die sich in humanitären Projekten engagieren: der Einsatz für demokratische Werte ist ein Trick, die Gesellschaft zu zerstören.
Eine ungewöhnliche Koalition
All diese Elemente ergeben eine bestimmte Ideologie. Nicht jeder, der sich über den Werteverfall der heutigen Zeit oder über die Krise des Christentums beklagt, ist damit von dieser gesamten Ideologie überzeugt. Aber aus diesem Grundgefühl heraus geraten viele in einen Debattenzirkel, der griffige Erklärungen bietet und damit sehr attraktiv ist.
Konservatismus ist ein guter und sogar notwendiger Bestandteil des politischen Diskurses. Gefährlich wird es nur, wenn die Demokratie nur solange toleriert wird, wie sie den eigenen Zielen nicht entgegensteht. Putins Verhältnis zur Demokratie dürfte trotz seiner Beschreibung als “lupenreiner Demokrat” (Schröder) hinlänglich bekannt sein. Damit steht er aber nicht allein. So sieht Gauland in der Demokratie “ein Vehikel zur Machtergreifung”, die Demokratie, so Storch, “kann nur national” sein, Kardinal Müller sieht in der Demokratie eine Herrschaft “politischer Eliten”, die der “Motor einer Enthumanisierung” seien.
Diese Elemente sind Teil einer bestimmten Ideologie. Diese Ideologie ist nicht getragen von einer zentral gelenkten Organisation. Es gibt keine Weltverschwörung, die in dieser Agenda arbeitet, aber es gibt bestimmte Interessensgruppen, die sich durchaus abstimmen und wo es Koalitionen gibt, die man eigentlich nicht für möglich gehalten hätte.
- Russland: Putin ist zur Zeit sicherlich der markanteste Vertreter obiger rechtskonservativer Ideologie. Dabei kann er sich auf durchaus verbreitete Tendenzen der russischen Kultur stützen, u.a. auf Iwan Iljin und Alexander Dugin, dessen Hauptwerk den Namen „Konservative Revolution“ trägt. Dass der Patriarch der russ. Kirche den aktuellen Krieg als Krieg gegen die „Homo-Diktatur“ des Westens gutheißt, ist da nur konsequent.
- USA: bereits vor Trump gab es in bei den Republikanern Tendenzen, die mit „Rechtspopulismus“ nur unzureichend beschrieben sind: es ging um die alten Werte (v.a. Abtreibung und sex. Freiheit), um die Überlegenheit des weißen Mannes und um Aushöhlung der Demokratie.
- Europa: in nahezu sämtlichen europäischen Ländern finden sich Bewegungen, die im Sinne obiger Ideologie agieren: die AfD in Deutschland, Front National in Frankreich, die Lega Nord in Italien, die Brexit-Bewegung in Großbritannien. Alle diese Bewegungen haben ein gemeinsames Wertegerüst. Sie sind miteinander vernetzt und in Großteilen von Putin finanziert.
- Christentum: es ist nicht nur der russische Patriarch: auch fundamentalistische evangelikale Bewegungen in den USA und bestimmte Kreise der katholischen Kirche sind im Kontext dieser rechtskonservativen Agenda einzuordnen: im Klagen über die neue sexuelle Freiheit, im Klagen über den heutigen „Werterelativismus“, das oft einhergeht mit antidemokratischen Äußerungen und – wie etwa bei Kardinal Müller oder Kardinal Burke – Weltverschwörungstheorien, die auch antisemitisch deutbar sind.
Zwischen allen diesen Gruppierungen gibt es mehr oder weniger lockere Verbindungen. Diese werden hin und wieder sichtbar, wenn etwa Salvini (Lega Nord) oder le Pen (Front National) sich stolz mit Putin ablichten, Putin Ehrengast bei der Hochzeit der österreichischen Außenministerin ist, AfD-Leute Putin als größten Führer der Gegenwart feiern, Kardinal Müller vor der Weltherrschaft von Soros und Gates warnt, konservative katholische Kreise mit Steve Bannon einen gemeinsamen Thinktank in Italien gründen wollen, amerikanische Bischöfe zur Wahl von Trump aufrufen, oder Gloria von Thurn und Taxis erklärt, dass Kardinal Müller und Trump „die beiden einzigen Menschen auf der Welt“ sind, „die uns heute Klarheit geben“.
Um es klar zu sagen: nicht jeder Konservative oder jeder, der einen Verfall der Werte feststellt, ist automatisch ein Antisemit oder antidemokratisch. Es ist aber festzustellen, dass sich aus einem diffusen Gefühl des allgemeinen Werteverlustes viele Menschen Anschluss an ein Weltbild gefunden haben, das von einem Bedauern über Verlorenes zu einem Hass auf Neues führt.
Dieser Hass greift auf viele Muster zurück, die vor 100 Jahren entwickelt wurden und jetzt ihre Wiedergeburt feiern: die Suche nach einem Schuldigen für diesen Werteverfall, die Ablehnung einer liberalen, offenen und demokratischen Kultur, Antisemitismus, Homophobie.
Diese Elemente sind Kennzeichen der „konservativen Revolution“. Auf den ersten Blick gehören sie nicht zusammen, aber dieses Zusammen erklärt …
- … warum ein Kardinal von einer Weltverschwörung von George Soros spricht,
- … warum amerikanische Bischöfe die Wahl von Trump empfehlen,
- … warum sich französische Nationalisten von russischen Nationalisten finanzieren lassen,
- … warum der Westen von Putin als „Homo-Diktatur“ beschrieben wird.
Eigentlich gehören diese Dinge nicht zusammen. Was haben Nationalismus und Homophobie miteinander zu tun? Warum ist es Teil des Weltbildes eines katholischen Kardinals, dass ein jüdischer Großinvestor eine Weltverschwörung anzettelt? Im Weltbild der „konservativen Revolution“ gehören diese Dinge zusammen.
2013 hielt Putin eine Grundsatzrede, in der dem Westen vorwarf, die eigenen „Wurzeln abzulehnen, einschließlich der christlichen Werte, die die Grundlage der westlichen Zivilisation bilden. Die westlichen Eliten verleugnen moralische Prinzipien und alle traditionellen Identitäten: nationale, kulturelle, religiöse und selbst sexuelle. Sie setzen eine Politik durch, die die Familie mit gleichgeschlechtlichen Partnerschaften gleichsetzt, den Glauben an Gott mit dem Glauben an Satan.“
Das Spannende: diese Sätze würden Beatrice von Storch, Marie le Pen, Steve Bannon und Kardinal Müller gleichermaßen begeistert unterschreiben.
Der Untergang des Abendlands
Diese rechts-konservative Revolution ist kein Nationalsozialismus. Aber er ist eine Gefahr für die liberalen demokratischen Gesellschaften. Außenpolitisch, indem ein Mann wie Putin im Namen dieser Revolution Kriege vom Zaun bricht. Innenpolitisch, indem man Demokratien zersetzen will, die angeblich das Opfer eines von bösen Mächten beeinflussten Werteverfalls sind.
Die Diagnose eines Werteverfalls ist zentral für die “konservative Revolution”. Dabei wird allerdings übersehen, dass das Verschwinden bestimmter Werte nie zufällig ist, sondern immer einen Grund hat. Alte Antworten verschwinden dann, wenn sie neue Fragen nicht mehr beantworten können. An genau dieser Tatsache wird die heutige “konservative Revolution” genauso scheitern wie ihre Vorgängerin vor 100 Jahren. Was nichts an ihrer Gefährlichkeit ändert. Im Gegenteil.
Die Gefahr liegt nicht darin, den eigenen Wertekanon jenseits von demokratischen Abstimmungen anzusiedeln, sondern darin, in der Demokratie von vornherein eine Gefahr für die Werte zu sehen, weil die Demokratie automatisch zu einer Verwässerung von Werten (“Relativismus”) führt, und bestimmten Gruppen ein Interesse an diesem Werteverlust zu unterstellen.
Eigene Werte werden über die Demokratie und über die Würde und Selbstbestimmung des einzelnen Menschen gesetzt. Demokratie ist nur so lange gut, wie sie den eigenen Wertekanon stützt, wenn nicht, gehört sie abgeschafft. Dieses Denken ist auch in linksextremen und öko-aktivistischen Milieus verbreitet. Erfolgreicher, in Europa verbreiteter und damit für die Demokratie gefährlicher ist dieses Denken auf der rechts-konservativen Seite.
Spengler fasste vor 100 Jahren ein weitverbreitetes Gefühl in seinem „Untergang des Abendlands“ zusammen. Er war Teil einer Bewegung, deren Ideen wieder neuen Anklang finden. Damals wie heute gibt es große Unsicherheit angesichts tiefer gesellschaftlicher Veränderungen, die vieles von dem auf den Kopf stellen, was selbstverständlich zu sein schien.
Es gibt keine zentral organisierte „konservative Revolution“ in Europa. Es gibt Netzwerke und gemeinsame Wertvorstellungen, die zum einen erklärbar machen, vor welch großen Herausforderungen die liberalen Demokratien stehen, zum anderen aber auch verdeutlichen, dass Putin mit seinen Vorstellungen von Gesellschaft kein rein russisches Thema ist, sondern die Vorstellungen, aus denen heraus er Russland regiert, auch im Westen Europas präsent sind.
Die Frage, an welchen Werten sich unsere Gesellschaft orientieren soll und ob diese Werte vereinbar sind mit einer liberalen Demokratie, wird uns nicht nur von Putin gestellt. Diese Frage ist wieder in der Mitte unserer Gesellschaft angekommen. Wenn sie je weg war.
Eine sehr treffende Analyse. Wobei Spengler nicht überbewertet werden sollte. Sein “Untergang des Abendlandes” ist nur ein Sammelsurium aus literarischen Versatzstücken des seinerzeitigen -konservativen -Bildungsbürgertums.
Ja, ich wollte nicht den Eindruck erwecken, als sei Spengler der Gründer einer Bewegung. Aber er hat eben ein Werk geschaffen, dass zur Standardlektüre in bestimmten Milieus wurde. Es war und ist ein Bestseller.