Vor einigen Wochen unterhielt ich mich mit einem Philosophen aus dem süddeutschen Raum. Es war die Zeit, als Russland bereits an den Grenzen der Ukraine stand, aber noch nicht einmarschiert war. Ich plädierte dafür, die Ukraine mit Waffen zu versorgen, um Russland vor einer Invasion abzuschrecken. Dazu sagte mein Bekannter etwas sehr Interessantes: Alle, mit denen er bisher gesprochen hatte, seien gegen Waffenlieferungen an die Ukraine. Nur ich als ehemaliger katholischer Pfarrer und ein evangelischer Pfarrer seien für die Waffenlieferungen. Das sei doch erstaunlich?
Ich fand die Beobachtung in der Tat hochinteressant. Woran könnte das liegen, dass gerade die beiden, die eigentlich für den Frieden sein sollten und für Waffenlosigkeit, für die Lieferung von Waffen plädieren?
Erfahrung mit Menschen
Vielleicht liegt es gerade an der Erfahrung, die man als Pfarrer über viele Jahre gewonnen hat. Ich kenne zwar meinen evangelischen Kollegen nicht, aber er wird die gleiche Erfahrung wie ich gemacht haben:
Als Pfarrer bzw. Seelsorger begegnet man vielen Menschen, in allen möglichen Lebenslagen. Im Laufe der Jahre lernt man viele Menschen kennen und man lernt auch, dass man nicht jeden Menschen mit Vernunftgründen vom Guten überzeugen kann.
Man erlebt einen Mann, der Frau und Kinder verprügelt und vergewaltigt. Und man kann Frau und Töchter nicht davon überzeugen, sich in Sicherheit zu bringen.
Man erlebt, wie ein Familienvater das Vermögen seiner Familie im Casino verzockt. Und man ihn nicht überzeugen kann, damit aufzuhören.
Man erlebt, wie eine 70jährige Frau ihren 45jährigen Sohn zum Gefangenen macht und er alleine nicht das Haus verlassen darf. Und man kann keinen von beiden davon überzeugen, dass der Sohn auch mal alleine raus darf.
Man erlebt, wie Menschen von Depressionen zerfressen werden und überhaupt nicht aufnahmefähig sind für etwas Schönes.
Man erlebt, wie ein schwerkranker Mensch aus ideologischen Gründen eine lebensrettende Operation ablehnt. Er stirbt.
Ich war 15 Jahre lang tätig als Priester und habe Massen von solchen Fällen erlebt. Nicht alle diese Fälle enden tödlich und nicht immer geht es um Leib und Leben. Aber sie alle hinterlassen Spuren und machen einen zumindest nachdenklich über die sehr begrenzten Möglichkeiten von Vernunft und Rationalität.
All diese Dinge haben mich (und wahrscheinlich auch meinen unbekannten evangelischen Kollegen) sehr skeptisch gemacht, was die Wirksamkeit des „Miteinander-Redens“ betrifft. Nach 15 Jahren Seelsorge muss ich sagen: natürlich ist es wichtig, das Gespräch mit jedem zu suchen. Aber in gar nicht so wenig Fällen ist es schlicht und einfach sinnlos, weil Menschen etwas tun wollen, das für sie oder andere schlecht ist.
Die Erfahrung, die ich in vielen Jahren als Seelsorger (und auch als Berater in der Wirtschaft) gemacht habe, ist die, dass es nichts bringt, die andere Wange hinzuhalten, weil viele Menschen dann auf diese Wange schlagen. Auch bei ihren Angehörigen, ein Leben lang.
15 Jahre Seelsorge lassen einen durchaus bewundernd auf das Großartige schauen, zu dem Menschen in der Lage sind – aber auch auf das weniger Großartige, das ebenfalls zum Menschen gehört.
Mit diesem Hintergrund blickt man doch etwas skeptisch auf die jahrzehntelangen Versuche, Putin in Gesprächen von einem friedlichen Weg überzeugen zu wollen.
Der gute Mensch
Die meisten Menschen gehen mit der Einstellung durch das Leben, dass eigentlich jeder moralisch gut sein will. Wenn es dann Verfehlungen gibt: dann redet man miteinander, und weil auch der andere ja eigentlich gut sein will, kann man sich verständigen.
Bei den meisten Menschen ist das auch so. Aber bei sehr vielen Menschen eben nicht. Deshalb ist es sinnlos, mit denen zu reden in dem Glauben, sie von etwas überzeugen zu können. Es gibt eben Menschen, die wollen keine Verständigung. Die sind völlig empathielos. Gegenüber ihren Angehörigen, gegenüber ihren Arbeitskollegen. Mit denen zu reden, bringt nichts.
Dass man einem solchen Menschen gegenübersitzt, glaubt man nicht. Und deshalb können die einen manipulieren und kommen oft damit durch.
So lässt man einem narzisstischen Familienangehörigen viel durchgehen, weil man denkt: eigentlich will er doch, dass die Kinder oder der Partner glücklich sind.
So lässt man einem tyrannischen Chef viel durchgehen, weil man denkt: eigentlich geht es ihm doch um die Firma.
So kauft man einem Trump oder Putin seine Lügen oder gar ihre Verbrechen ab, weil man denkt: eigentlich geht es ihnen doch um ihr Land.
Es ist ein schwerer Irrtum zu glauben, dass alle Menschen sich mit anderen Menschen verständigen wollen. Wegen dieses Irrtums können die vielen großen und kleinen Tyrannen ihr Werk fortsetzen.
Die Schuldfrage
Aus diesem Irrtum ergibt sich ein weiterer Irrtum: dass bei einem Konflikt immer beide Seiten schuld sind.
Natürlich ist das oft der Fall und viele Konflikte lassen sich nicht erklären, ohne den Blick auf beide Seiten zu werfen. Aber manchmal gibt es auch einen Konflikt, weil eine Seite den Konflikt gewollt hat oder einfach in Kauf nimmt.
Wenn ein Mann seine Frau schlägt, um Macht über sie auszuüben: welche Schuld hat dann die Frau?
Wenn ein Chef ohne sichtbaren Grund einen Mitarbeiter tyrannisiert, welche Schuld hat der Mitarbeiter?
Wenn Russland die Ukraine überfällt, was hat die Ukraine getan, dass dies rechtfertigen würde?
Wir müssen uns mit dem Gedanken vertraut machen, dass nicht immer beide Seiten schuld sind, sondern manchmal nur eine. Und dass das Konsequenzen für den Umgang mit einer Seite haben muss.
Putin
Die beiden Irrtümer, dass jeder Mensch eigentlich das Gute will und dass in einem Konflikt irgendwie beide Seiten schuld sind, hängen miteinander zusammen und spielen eine große Rolle in der Beurteilung des Krieges zwischen Russland und der Ukraine.
Beide Irrtümer spielten und spielen eine Rolle dabei, Putin und seine Rolle nicht richtig einzuschätzen.
- Der Glaube daran, dass man mit Putin sprechen müsste, um diesen Krieg zu beenden oder erst gar nicht entstehen zu lassen, hat sich als falsch erwiesen. Die Unterdrückung der Opposition in Russland, die Einschränkung von Presse- und Meinungsfreiheit, nachgewiesene Auftragsmorde in In- und Ausland, die Initiierung von mittlerweile 4 Kriegen (Tschetschenien, Georgien, Krim, Ukraine), schwere Kriegsverbrechen in verschiedenen Ländern (v.a. Tschetschenien und Syrien): trotzdem hat man weiter versucht, mit Putin zu reden.
Auch wenn Putin den Westen immer wieder als Feind und Gegner brandmarkte: man hat geglaubt, Putin durch Gespräche positiv beeinflussen zu können. Weil man glaubte, dass Putin wie jeder Mensch letztlich vernünftig und gut ist. - Der Glaube daran, dass irgendwie beide Seiten schuld sind, führt dazu, dass viele den Angriff Russlands auf die Ukraine nicht einhellig verurteilen, sondern „neutral“ sind, weil ja irgendwie beide Seiten schuld sind.
Der Westen hat nicht genug mit Putin gesprochen, so die Aussage. Zum einen gab es immer wieder Gespräche und weitere Angebote, zum anderen ist die Frage, inwiefern sich aus einem Fehlen von Gesprächen mit dem Westen die Legitimation für einen Angriff auf die Ukraine ergibt.
Es wird eine Masse an Begründungen geboten, die jeweils widerlegbar sind, aber in ihrer Masse einfach jedem zumindest etwas bieten soll: die NATO hätte gegen Absprachen verstoßen, Ostländer aufzunehmen (hat Russland 1997 vertraglich zugesichert), die Ukraine sei ein korruptes Land (Russland nicht?), von Nazis beherrscht (rechte Parteien in der Ukraine liegen bei 2%), die Ukrainer seien kein eigenes Volk (von Russland 1994 als souverän anerkannt).
Fazit
Empathielose Menschen, die andere Menschen tyrannisieren, gibt es in jedem sozialen Gebilde, von der Familie bis zum Großunternehmen. Solche Menschen können eben auch einen Staat regieren und das muss Konsequenzen für den Umgang des Westens mit Putin haben:
- Konsensorientierte Gespräche bringen nichts
Man muss mit Putin sprechen. Er ist Präsident Russlands und als solcher muss man mit ihm sprechen. Aber nicht, solange er weiterbombt und weitermordet. Nicht im Sinne eines Dialogs, also in der Hoffnung, ihn mit Vernunftgründen von einer anderen Meinung überzeugen zu können, sondern im Sinne eines Informationsaustauschs, mit klaren eigenen Ansagen, klaren eigenen Überzeugungen, klaren roten Linien. Putin wird seine Meinung nicht ändern. Er wird nur anders handeln, wenn er anders handeln muss. - Keine Neutralität
Wenn ein Aggressor ein Opfer überfällt, bedeutet Neutralität, dem Opfer nicht zu helfen und den Aggressor zu belohnen. Dies bedeutet, die Ukraine nach Kräften im Kampf gegen den Aggressor zu unterstützen, auch und besonders mit Waffen. Die immer mehr zu Tage tretenden Kriegsverbrechen der Russen an der ukrainischen Bevölkerung machen deutlich, dass selbst ein sofortiges Kriegsende bei einem Verbleiben der Russen in der Ukraine kein Ende der Gewalt bedeutet.
Es gibt viele Menschen, die man klassisch, vielleicht etwas altbacken als „böse“ bezeichnen muss. Es sind Menschen, denen das Schicksal anderer Menschen völlig egal ist. Es sind Menschen, die anderen Menschen einfach schaden wollen, weil es ihnen ein Gefühl von Macht verleiht.
Es sind Menschen, die nicht in der Lage sind, ihr eigenes Verhalten irgendwie in Einklang mit ihren Mitmenschen zu bringen. Es sind Menschen, mit denen man über diese Dinge nicht reden kann, weil sie das Problem nicht sehen, weil sie kein Interesse an einem guten Zusammenleben haben oder einfach, weil sie aus Prinzip nicht zugänglich sind.
Solche Menschen gibt es nicht wenige und einige machen Karriere, weil die genannten Eigenschaften für eine Karriere unter Umständen sogar hilfreich sind. Solche Menschen gibt es nicht wenige und einige von ihnen regieren sogar Staaten.
Putin ist einer von ihnen.
Das muss nicht jeder gesehen haben. Aber jeder Journalist, Politiker und jeder, der sich irgendwie mit Russland beschäftigt.
Das in dieser Funktion nicht gesehen zu haben, war naiv. Das heute nicht zu sehen, macht einen zu seinem Komplizen.
„Man muss Partei ergreifen. Neutralität hilft dem Unterdrücker, niemals dem Opfer, Stillschweigen bestärkt den Peiniger, niemals den Gepeinigten.“
Elie Wiesel