Die „Öffentliche Vernunft“ ist ein uraltes Gedankenmodell, das erklären sollte, was Vernunft eigentlich ist und wie sie entsteht. Dieses Modell kann auch helfen, Vernunft zu entwickeln: gesellschaftlich, unternehmerisch und persönlich.


 

Der Allgemeinsinn

Bei den Stoikern im alten Griechenland wurde die Idee formuliert, dass sich im Miteinander aller Menschen etwas herausbildet, das allgemeingültig ist und sich als vernünftig erweist, der „sensus communis“, der Allgemeinsinn.

Diese Vernunft ist nicht individuell, sondern passiert überindividuell und gesellschaftlich. Vernunft ist etwas, das durch einen Austausch passiert: einen Austausch an Sichtweisen, an Argumenten, an Impulsen. In diesem ständigen Austausch bildet sich eine „öffentliche Vernunft“ heraus, die in der Gesellschaft regelt, was geht und was nicht geht, was vernünftig ist und was nicht.

Jeder, der sich abschottet und diesem gesellschaftlichen Austausch entzieht, macht damit auch die Entwicklung der Gesellschaft nicht mit. Er schmort im eigenen Saft und ist – griechisch gesprochen – ein „Idiot“, ein Eigenbrödler.

Später griff die Aufklärung – Kant etwa – dieses Modell auf und wird bis heute eingesetzt, die Offenheit einer Gesellschaft greifbar zu machen. Eine Gesellschaft braucht einen den Austausch, um sich weiterzuentwickeln. Zu diesem gesellschaftlichen Austausch gehört, dass er frei ist – hierzu ist beispielsweise die Pressefreiheit wichtig – und dass diejenigen, die den Austausch führen, wissen, worüber sie reden – das ist eine Frage der Bildung.

Die Aufklärung lebte von dem Impuls, dass ein freier Austausch gebildeter Menschen die Gesellschaft voranbringt und sie vernünftiger macht. Das ist die Grundlage der Demokratie. Dieser Austausch ist ein dauerhafter Prozess, er ist ständigen Entwicklungen und Moden unterworfen, er muss ständig auf neue Fragen reagieren, er kennt keine ewiggültigen Wahrheiten, sondern das ewige Ringen um Wahrheiten. Das bedeutete jedoch kein Abgleiten in einen Relativismus. Das, was sich in diesem Austausch herausbildet, ist gültig. Bis es abgelöst wird.

Was ist daraus zu lernen?

Für die Gesellschaft:

Das Konzept der Öffentlichen Vernunft bietet viele Ansatzpunkte für gesellschaftliches und politisches Handeln. Erst einmal vertritt es die Aussage, dass es Entwicklung nur durch Austausch und nicht durch Isolation gibt. Ein Hinweis, der gerade in den Debatten um Globalisierung oder Migration nicht jedem schmecken dürfte.

In die Gesellschaft hinein gewendet, bedeutet dieser Ansatz zum einen, auf die Freiheit des Austauschs in der Gesellschaft zu achten. Dies bedeutet unter anderem, auf die Freiheit der Medien zu achten und das bedeutet in dieser Zeit vor allem, in einem freien Austausch die Meinung Andersdenkender zu akzeptieren. Deutschland ist soeben im Internationalen Ranking der Pressefreiheit abgerutscht – nicht, weil die Medien hier staatlicherseits zu stark kontrolliert würden, sondern weil viele Journalisten bei Demonstrationen von Querdenkern bedroht und verprügelt worden seien.

Neben der Pressefreiheit ist Bildung das andere große Thema. Der freie Austausch sorgt dann für eine gute Entwicklung, wenn er zwischen Menschen passiert, die wissen, worüber sie reden. Dies bedeutet, stärker als bisher nicht nur auf die naturwissenschaftlich-technische Bildung zu achten, sondern auch auf die geisteswissenschaftlich-politische Bildung.



Für ein Unternehmen:

Die Öffentliche Vernunft bietet auch für ein Unternehmen wichtige Impulse. Auch für ein Unternehmen ist es wichtig, nicht nur im eigenen Saft zu schmoren, sondern nach außen hin in einen Austausch zu gehen: mit der Gesellschaft, mit dem Markt, mit der Wissenschaft.

Ähnlich wie bei der Gesellschaft ist es aber auch für ein Unternehmen wichtig, den freien Austausch nach innen abzusichern. Dies ist zum einen wichtig, um Innovation und Weiterentwicklung zu ermöglichen, aber auch, um interne Missstände aufzudecken oder bereits in der Entstehung zu verhindern. Eine Kultur des Vertrauens und der Transparenz bringt das zur Sprache, was nicht gut läuft. Und das gibt es immer. Die Frage ist nur, wie lange es wuchern darf.

 

Für eine Person:

Das Konzept der Öffentlichen Vernunft bedeutet, dass die Dinge sich immer weiterentwickeln und besser gelingen, je mehr ein Austausch zwischen ihnen möglich ist. Auf das Individuum hin bedeutet dies in erster Linie, eigene Wahrheiten und Werte immer wieder zu hinterfragen und neue Impulse zuzulassen.

Das bedeutet nicht, dass eigene Wahrheiten immer über Bord geworfen werden müssen. Es geht um eine Überprüfung und damit die wirklich gelingt, muss man sich mit den Alternativen eigener Wahrheiten beschäftigen. Das heißt Bildung. Das heißt, eine Haltung zu haben, neuen Dingen gegenüber zumindest aufgeschlossen zu sein und Stärken und Schwächen eigener und fremder Wahrheiten einschätzen zu können.

Das erfordert durchaus Selbstdisziplin, aber die braucht es, wenn man sich weiterentwickeln und kein Eigenbrödler oder – griechisch gesprochen – kein „Idiot“ werden will.