Dr. Edgar Büttner,

Trainer und Coach, ehemaliger Kaplan, Gründer der Initiative „Priester im Dialog“, Berater beim„Synodalen Weg“ der Deutschen Bischofskonferenz (DBK) und des Zentralkomitees der deutschen Katholiken,
im Gespräch mit Michael Rasche.
Homepage: www.dr-buettner.com.

EB: Herr Rasche, vor einigen Tagen erschien Ihr Buch „Bekenntnisse – Auflösung eines katholischen Lebens“. Was können wir erwarten? Worum geht es in diesem Buch?

MR: Es ist die Geschichte meines katholischen Lebens. Es ist die Geschichte meines Hineinwachsens in die Kirche, schließlich meines Lebens als Priester. Daneben baut sich dann ein weiterer Erzählstrang auf, der immer stärker wird: mein Versuch, die Kirche zu verstehen, ihre Lehre, ihre Krise. Ich wollte verstehen, warum die Kirche so ist, wie sie ist. Dieses Bemühen machte mich zwar zum Professor, aber hat mich auch aus dieser Kirche und dem Priesteramt herausgeführt. Dieses Buch schildert die Detektivgeschichte eines Mannes, der im Inneren der Kirche immer mehr entdeckt und freilegt, dann aber immer mehr erkennen muss, dass er in dieser Kirche nicht mehr weitermachen kann.

 

EB: Das Buch ist also nicht nur eine biographische Erzählung, die spannende Geschichte eines Aussteigers, sondern auch eine Analyse der Kirche?

MR: Genau hieraus bezieht das Buch seine Spannung. Es geht um das konkrete Leben der Kirche, das ich ja als Christ und als Priester geführt habe, aber es geht auch um die Theorie, um das Analysieren, um das Sortieren, um das gedankliche Ringen mit sich und der Kirche. Ich war leidenschaftlich Priester und Mann der Kirche. Und ich wollte verstehen, was die Kirche eigentlich ist, warum sie in der Krise ist. Doch je mehr ich verstand, desto weniger konnte ich akzeptieren, was in ihr geschieht. Es geht um das praktische Leben und es geht um die Theorie. Beides war in meinem Leben nicht zu trennen und davon will ich berichten.

 

EB: Sie beschreiben in Ihrem Buch sehr anschaulich Ihr Leben in der Kirche, als Heranwachsender in der Gemeinde, als Seminarist, als Priester, an der Universität. Und dabei beschreiben Sie sowohl schöne, als auch verstörende Dinge. Gibt es da ein Ereignis, das für Sie entscheidend wurde? Das Ihnen deutlich machte: es geht nicht weiter?

MR: Nein, das gab es nicht. Ich habe viel Schönes in der Kirche erfahren, sonst hätte ich nicht so lange in ihr leben können. Natürlich gab es auch viele Dinge, die mich sehr nachdenklich gemacht haben über diese Kirche. Dem römischen Chef-Exorzisten zu begegnen oder mit Betroffenen sexualisierter Gewalt zu sprechen: da blickt man schon in kirchliche Abgründe. Ich muss aber sagen, dass diese Dinge im Einzelnen für mich nicht entscheidend wurden. Sie wurden erst dann entscheidend, als ich sah, dass sie kein Zufall waren, sondern eine logische Konsequenz dessen, was die Kirche ist, ihrer Lehre und ihrer Strukturen. Für die letzte Entscheidung sorgte dann das Kennenlernen meiner Frau, als ich abwägen musste zwischen einer Kirche, für die ich immer weniger Hoffnung hatte, und ihr. Wenn man so will, war sie das letztlich entscheidende Erlebnis.

 

EB: Der Titel des Buchs „Bekenntnisse“ erinnert an Augustinus und seine „Bekenntnissen“? Bei ihm ging es um das Hineinkommen in die Kirche, bei Ihnen um das Hinausgehen?

Augustinus (354-430), Quelle: wikimedia.

MR: Der Bezug zu Augustinus ist natürlich kein Zufall. Er hat damals dieses Buch geschrieben, um davon zu erzählen, wie er Christ wurde. Und er tat dies, indem er von seinem Leben erzählte, weil er wusste, dass er von seiner Bekehrung nur erzählen kann als Teil seines Lebens. Bei mir war es ähnlich: wenn ich über die Kirche oder das Christentum schreibe, dann kann ich mein Leben als Christ und Priester nicht ausklammern. Also erzähle ich aus meinem Leben und erzähle dabei etwas über die katholische Kirche. In der Tat: wie Augustinus damals, nur umgekehrt.

 

EB: Sie haben 15 Jahre lang in verschiedenen Funktionen als katholischer Priester gebarbeitet. Könnte man dieses Buch als eine Aufarbeitung dieser Zeit bezeichnen?

MR: Ein klares Jein. Es ist keine Aufarbeitung in dem Sinne, dass ich diese Dinge nochmal für mich sortieren musste, um meinen inneren Frieden zu finden. Diese, auch schmerzvolle Sortierungsarbeit war vor meinem Entschluss, das Priesteramt aufzugeben und zu heiraten. Aber es ist natürlich insofern eine Aufarbeitung, als dass es für mich acht Jahre später einfach noch einmal spannend war, in diese Welt einzutauchen und im Nachhinein auch einige Verbindungen und rote Fäden zu sehen, die ich damals nicht erkannt habe. Im Nachhinein sieht man manches schärfer.

 

EB: Sie beschreiben ungeschminkt, was sie erlebt und beobachtet haben, auch wenn Sie dabei keine „bella figura“ gemacht haben. Trotzdem oder gerade deswegen musste ich an einigen Stellen laut lachen. Hilft Ihnen Humor beim Rückblick auf Ihre besondere Lebens- und Glaubensgeschichte?

MR: Humor kann nie schaden. Viele Situationen hatten einfach eine unfreiwillige Komik. Sei es, dass sie passierten, weil kirchliche und normale Welt kollidierten, sei es, dass ich selbst in Situationen reingeriet, die einfach komisch oder absurd waren – auch auf meine Kosten. Von denen zu berichten, ist eine Frage der Ehrlichkeit. Und auch der Unterhaltung des Lesers.

 

EB: Ihre Kritik an der Amtskirche ist tiefschürfend. Leiden Sie unter der Kirche?

MR: Nein, dafür ist meine innere Distanz zur Kirche mittlerweile zu groß. Ich leide nicht mehr unter ihr, ich leide aber mit ihr. Weil sie überhaupt nicht dem gerecht wird, was sie sein könnte und eigentlich auch sein will. Weil sie viel Gutes getan hat, aber jetzt in den Abgrund stürzt. Da leide ich mit ihr, aber nicht mehr unter ihr, weil ich nicht mehr Akteur im Inneren der Kirche, sondern nur noch Beobachter bin. Mitleidender, wohlwollender Beobachter, aber eben nur noch Beobachter, der sich nicht mehr für das verantwortlich fühlt, was da passiert.

 

EB: Mit welchem Gefühl blicken Sie auf Ihre Vergangenheit? Ist das Buch eine Abrechnung mit der katholischen Kirche?

Abrechnung ist das falsche Wort, es ist eine Auseinandersetzung. Ich muss nicht mit der Kirche abrechnen, um meinen inneren Frieden zu finden und in meine Vergangenheit blicken zu können. Ich bereue bis heute nicht, mich damals dafür entschieden zu haben, Priester zu werden. Aber das war eine damalige Entscheidung, die ich nicht mehr aufrechterhalten konnte und wollte. Eine neue Entscheidung stand an und das war eben die Entscheidung gegen diese Kirche und für die Frau, die ich liebe.

Es ist natürlich ein kritisches Buch, in dem klar wird, warum ich in dieser Kirche nicht mehr als Priester bleiben konnte. Das Buch soll damit keine Entschuldigung für meinen Abgang liefern. Die brauche ich schon deshalb nicht, weil das öffentliche Ansehen der Kirche zurzeit derart ruiniert ist, dass wohl jeder Priester, der drinnen bleibt, gegenüber der Öffentlichkeit mehr Gründe für sein Bleiben finden muss als einer, der rausgeht.

 

EB: Wenn man ein Buch schreibt, hat man ja auch einen Adressaten im Hinterkopf. An wen richtet sich Ihr Buch? Wer sollte es lesen und was wird dadurch gewinnen?

MR: Das Buch richtet sich an alle, die sich für die katholische Kirche interessieren. Es richtet sich an Außenstehende, die sich immer wieder fragen, was da eigentlich passiert, dass diese Kirche derart radikal den Bach runtergeht. Dieses Buch wendet sich aber vor allem aktive Christinnen und Christen, die kopfschüttelnd verfolgen, was da gerade passiert. Es sind Menschen, die sich aus dieser Kirche verabschieden, weil sie keine Hoffnung mehr haben, dass es besser wird. Dieses Buch will erklären, was da eigentlich passiert und damit vielleicht sogar dazu beitragen, diese Krise angehen und bewältigen zu können.

 

EB: Wie kann oder soll die Kirche diese Krise denn angehen? Was macht sie falsch?

Der größte Fehler besteht darin, die Tiefe und das Ausmaß dieser Krise noch nicht erkannt zu haben. Man glaubt noch zu oft, das Problem entweder einfach aussitzen zu können oder mit ein paar strukturellen Reformen in den Griff zu kriegen. Man debattiert, wieviel Macht der Papst haben darf, ob Priester heiraten dürfen oder Frauen zu Weiheämtern zugelassen werden. All diese Dinge sind wichtig, aber haben mit der Krise nur indirekt zu tun. Die sitzt viel tiefer und ist ein Prozess, der vor vielen hundert Jahren begann und sich jetzt immer mehr beschleunigt. Die Menschen wenden sich nicht von der Kirche ab, weil Priester nicht heiraten dürfen, sondern weil sie nicht mehr an den Gott glauben können, den die Kirche ihnen verkündet. Im Mittelalter glaubte jeder Mensch an Gott. Der Glaube war etwas völlig Selbstverständliches. Und heute? Und warum ist das heute so? Das hat nichts mit den Strukturen der Kirche zu tun, sondern mit ihrer Lehre, mit ihrem Selbstbild, mit ihrem Welt-, Gottes- und Menschenbild. Diese Entwicklung ist sehr umfassend und sehr langfristig, und die kann man nicht mit ein paar kleinen Reförmchen umkehren oder gar aussitzen. Wir müssen uns klarmachen, dass all diese Dinge, die wir beklagen, vom römischen Zentralismus bis zur Rolle der Frau, von der Morallehre bis zum Missbrauch, nicht die Krise selbst, sondern ihre Symptome sind.

 

EB: Woran genau machen Sie die Krise fest? Was ist die Wurzel dieser Krise? Ist es eine Gotteskrise? Was meinen Sie konkret mit dem Selbst- und Weltbild der Kirche?

Quelle: wikimedia.

Warum glauben die meisten Menschen nicht mehr an den christlichen Gott? Sie können ihn nicht mehr in der Welt entdecken, in der sie leben. In früheren Jahrhunderten konnten sie es. Was ist da geschehen? Es gibt eine Trennung von Gott und Welt, die es eben nicht immer gab. Vor vielen Jahrhunderten gab es sie nicht: der Mensch lebte in einer Welt, in der er jede Sekunde spürte, dass Gott da ist. Gott musste nicht in der Kirche entdeckt werden, er war überall, er war das Prinzip der Welt und wurde auch so von der Kirche verkündet. Im späten Mittelalter kam es dann zu einem Bruch: Kirche und Welt trennten sich. Das Ergebnis: die Kirche grenzte sich immer mehr von der Welt ab, der Mensch war immer weniger in der Lage, Gott und Welt zusammenzubringen und damit auch immer weniger in der Lage, Gott in der Welt zu entdecken. Das sind Prozesse, die seit vielen Jahrhunderten laufen und sich Schritt für Schritt aufgebaut haben.
Im Ergebnis haben wir heute eine eingemauerte Kirche, die derart auf sich selbst fixiert ist, dass sie nicht in der Lage ist, schlimmste Vergehen wie den sexuellen Missbrauch in den Griff zu kriegen, und eine Gesellschaft, in der es nicht normal, sondern eine mittlerweile eher seltene Eigenschaft ist, das eigene Leben und die Welt mit dem christlichen Gott in Einklang zu bringen und irgendwie an diesen Gott zu glauben. Was genau bedeutete diese Trennung von Kirche und Welt? Wann und wieso begann sie? Warum war sie so verheerend? Dem bin ich viele Jahre nachgegangen und von dieser Detektivgeschichte erzählt mein Buch.

 

EB: Was muss die Kirche also tun? Was schlagen Sie vor?

MR: In meinem Buch versuche ich an erster Stelle, das Problem klar zu machen: welche Faktoren haben die große Glaubenskrise ausgelöst und welche Faktoren halten die Krise am Leben? Genau das wäre der erste Schritt der Kirche: sich das Problem klarzumachen. Und das bedeutet zugleich, sich einzugestehen, dass man sich als Kirche in entscheidenden Dingen seit langer Zeit auf einem Irrweg befindet. Erst wenn die Kirche mit einer gewissen Schonungslosigkeit auf sich selbst sieht, kann sie ihr eigentliches Problem erkennen und dann auch Lösungen entwickeln. Was das für Lösungen sind? Das kann keiner genau sagen, ich auch nicht. Ich habe auch nicht die Absicht, das kirchliche Lehramt durch mein eigenes zu ersetzen.

Ich habe mich viele Jahre intensiv mit der Lehre der Kirche, ihren Dogmen und ihrer Geistesgeschichte beschäftigt. Aus dieser Beschäftigung heraus habe ich verschiedene Ursachen dieser schweren Krise erkannt, ganz wesentlich die Trennung von Kirche und Welt. Die Lösungen, die die Kirche braucht, die kann keiner heute präzise benennen. Jetzt geht es darum, die Ursachen der Krise zu sehen und neu zu überlegen, welche Idee man als Kirche von sich hat. Wenn etwa die Kirche ihre Distanz zur Welt als Kern des Problems erkennt, wird es für sie darum gehen, diese Distanz zu überbrücken. Nicht nur mit modernen Gottesdiensten oder kleinen Reförmchen, sondern mit einer Generalüberholung dessen, was sie von sich und Gott denkt. In dieser Generalüberholung kann die Kirche dann die Strukturen schaffen, die auch die Lösungen für die Zukunft finden.

 

EB: Zum Schluss ein Blick in die Zukunft: wie optimistisch sind Sie, dass die europäisch geprägte Kirche diese Krise bewältigen wird?

MR: Ehrlich gesagt: ich bin da nicht sehr optimistisch. Man soll die Hoffnung nicht aufgeben. Je eher man die Krise angeht, desto größer sind die Chancen, sie zu bewältigen. Und Hoffnungszeichen gibt es immer. Aber ich muss auch gestehen, dass ich nach vielen Jahren Erfahrung in Praxis und Theorie der Kirche sehr pessimistisch geworden bin. Bislang gibt es nur wenige Anzeichen, dass die Amtskirche in der geforderten Radikalität in der Lage ist, sich selbst in Frage zu stellen. Ohne diese Fähigkeit gebe ich der Kirche keine Chance, in wenigen Jahrzehnten in Mitteleuropa noch eine nennenswerte Rolle zu spielen.

Ich lebe jetzt seit einigen Jahren in Rotterdam in den Niederlanden, in einer Gesellschaft, die nahezu vollständig entkirchlicht ist. Man muss nüchtern feststellen, dass das geht und dass den Menschen und der Gesellschaft hier nichts fehlt, wenn die Kirche nicht da ist. Ähnliches droht auch Deutschland und ich sehe nicht, dass der Kirche diese Bedrohungslage klar ist. Und je länger sie das nicht sieht, desto größer ist die Gefahr ihres Untergangs. Man lernt in der Geschichte nicht nur, dass die Kirche viele Krisen bestanden hat, man lernt auch, dass Religionen untergehen können. Auf diese Gefahr hinzuweisen, ist die große Aufgabe meines Buches. Aus der Kirche muss eine lernende Organisation werden und in diesem Prozess soll mein Buch helfen.