Professionelle Beratung ist keine Erfindung der Moderne. Im Gegenteil: in der Antike gab es ein „Beratungsunternehmen“, das erfolgreicher war als alle ihre modernen Nachfolger.
Für viele Jahrhunderte bestimmte diese Beratung nahezu alle wichtigen Entscheidungen: die privater Bürger genauso wie die der Machthaber.
Das Orakel in Delphi im antiken Griechenland.
Vom Häuserkauf bis zur Kriegserklärung: jeder ging nach Delphi, wenn er Hilfe bei einer Entscheidung brauchte. Und das Orakel lieferte. Und das sehr erfolgreich, denn sonst hätte es nicht viele Jahrhunderte so gut funktioniert.
Was kann moderne Beratung von diesem uralten Orakel lernen?
Ein Besuch im Orakel
Delphi in der Landschaft Phokis galt den antiken Griechen als Mittelpunkt der Welt. Hier stand an einem Hügel das Heiligtum des Gottes Apollon. Für viele Jahrhunderte pilgerten Ratsuchende aus dem ganzen Mittelmeerraum an diesen Ort.
Der äußere Ablauf ist schnell erzählt: der Fragesteller wandte sich mit seiner Frage an die Pythia, eine Priesterin, die im Tempel an einer Erdspalte saß, aus der berauschende Dämpfe aufstiegen. In Trance gab die Pythia den Spruch des Gottes kund, der oft zwei- oder mehrdeutig war.
So weissagte das Orakel in einem seiner berühmtesten Sprüche 546 v. Chr. dem lydischen König Kroisos, dass er ein großes Reich zerstören werde, wenn er den Grenzfluss Halys überschreitet und gegen Persien in den Krieg zieht. Getrieben vom Eroberungsdrang zog Kroisos in den Kampf – und zerstörte sein eigenes Reich.
Gewollte Zweideutigkeit
Die Sprüche des Orakels in Delphi waren oft zwei- oder mehrdeutig. Dies jedoch nicht in einem Sinne völliger Inhaltslosigkeit oder Beliebigkeit. Die Orakelsprüche sollten nicht eine Entscheidung treffen, sondern helfen, eine Entscheidung treffen zu können.
Schauen wir auf die Weissagung für Kroisos: „Wenn du in den Krieg ziehst, wirst du ein großes Reich zerstören!“ Kroisos verstand die Mehrdeutigkeit nicht und zog in den Krieg, den er verlor.
Hätte er den Spruch verstanden, hätte er die wahre Botschaft begriffen: wenn du diesen Krieg beginnst, wird er ein Reich zerstören, deins oder das des Gegners. Es wird kein kleines Scharmützel sein, sondern ein Krieg, der nur eine Seite überleben lässt.
Dies hätte bei Kroisos entweder dafür gesorgt, nicht in den Krieg zu ziehen oder den Krieg besser vorzubereiten, um ihn siegreich zu bestehen. Kroisos hätte genauer abgewogen, was für und was gegen einen Krieg spricht und dann eine richtige Entscheidung getroffen.
Heraklit hat diese gewollte Zweideutigkeit des Orakels meisterhaft zusammengefasst:
„Der Herr, dem das Orakel in Delphi gehört, sagt nichts und verbirgt nichts: er deutet an.“
Er deutet an. Dieses Andeuten setzt voraus, dass der Ratsuchende zum Nachdenken kommt. Dass er eine Hilfe zum Nachdenken bekommt, aber eben doch gezwungen ist, selbst zu denken.
Ein Ratschlag ist keine Entscheidung.
Beratung darf keine Entscheidung sein. Beratung soll die Mittel an die Hand geben, eine Entscheidung treffen zu können, darf aber selbst nicht entscheiden. Diese Grenze einzuhalten, ist nicht immer einfach für einen Berater.
Es geht nicht darum, dass ein moderner Berater seinem Kunden bewusst zweideutige Sätze vor die Füße wirft, die der Kunde dann mühsam entschlüsseln muss. Es geht darum, in der Beratung nicht in dem Sinne eindeutig zu sein, dass eine Entscheidung getroffen ist. Die muss der Kunde treffen. Beratung muss immer offen sein und damit Alternativen und Handlungsoptionen bereit halten und diese deutlich machen. Über die entscheidet dann der Kunde.
„Erkenne dich selbst!“
Wenn man den Tempel in Delphi betrat, sah man im Eingangsbereich eine Inschrift: „Erkenne dich selbst!“
Diese Inschrift zeigt das eigentliche Ziel der Beratung des Orakels an: die Selbsterkenntnis. Ratsuchende aus aller Herren Länder kamen nach Delphi und suchten nach einer Antwort für eine wichtige Frage. Diese Inschrift verrät, wo die Antwort auf die Fragen liegt: in einem selbst. In dem Bemühen, seine Situation und sich selbst zu verstehen. Nur in diesem Bemühen ist es möglich, den Spruch des Orakels wirklich zu verstehen und ist es möglich, eine gute und tragfähige Entscheidung zu treffen.
Das Wort „Selbsterkenntnis“ klingt in der Moderne schnell esoterisch, nach einem Geheimwissen, dass man mitgeteilt bekommt, um sich und sein Leben endlich einordnen zu können. Darum ging es weder dem Orakel damals, noch darf es bei Beratung heute um eine solche Art Selbsterkenntnis gehen.
Selbsterkenntnis bedeutet nichts anderes als den Willen, sich selbst zu erkennen: nachzudenken, zu reflektieren und zu analysieren über die eigene Situation und das eigene Leben.
Aus der Sicht des Beraters ergeben sich daraus zwei Aufgaben:
- Das eigene Beraten immer vor dem Ziel zu verstehen, dem anderen zu helfen, sich und seine Situation besser einschätzen zu können, damit er in der Lage ist, eine Entscheidung treffen zu können.
- Sich als Berater zu kennen: oft um Rat gefragt zu werden, kann schnell die Bodenhaftung verlieren lassen. Und wenn man „Unternehmensberater“ hört, sieht man schnell vor dem geistigen Auge junge Männer, die in Maßanzügen die Unternehmen stürmen und dort arrogant und selbstherrlich für einige Wochen ihr Regiment errichten. Erkenne dich selbst. Deine Rolle. Was du bist. Und was du nicht bist. Was du weißt. Und was du nicht weißt.
„Nicht zuviel!“
Auf einer weiteren Inschrift im Eingangsbereich des Tempels in Delphi stand geschrieben: „Nicht zuviel!“
Es ist das Maßhalten, das Nicht-Übertreiben. Die antiken Griechen hatten einen gewissen Sensus dafür, dass man dann ein glückliches Leben führen kann, wenn man nicht übertreibt, sondern immer die Mitte anstrebt (vgl. auch den Blog “Handelt vernünftig!” über Aristoteles), weil Übertreibungen – egal in welcher Richtung – nicht beständig und nicht gut sind.
Für den modernen Berater, der oft gelernt hat, dass man schon übertreiben muss, um überhaupt wahrgenommen zu werden, ist so ein Satz eine Herausforderung. Aber eine notwendige. Denn Übertreibungen lassen sich auf Dauer weder im eigenen privaten oder beruflichen Leben, noch in dem des Kunden oder seines Unternehmens lange durchhalten. Es geht um nicht um den lautesten Spruch, sondern um Realismus. Basierend auf Selbsterkenntnis.
Antike und moderne Beratung
Natürlich kann man antike und moderne Beratung nur sehr bedingt miteinander vergleichen. Trotzdem gibt es Parallelen und trotzdem kann gerade der Erfolg des Orakels in Delphi wichtige Hinweise für moderne Beratung geben.
Der wichtigste Hinweis besteht vielleicht darin, sich seiner Rolle als Berater sehr klar sein zu müssen: Beratung ist nicht Entscheidung. Ratschlag ist nicht Herrschaft. Es geht als Berater nicht darum, selbst zu glänzen, sondern darum, dem Kunden zu einer Erkenntnis zu verhelfen, die ihn eine Entscheidung treffen lässt.
Das Geschehen, um das es letztlich geht, ist die „Selbsterkenntnis“ des Kunden: er wird in die Lage versetzt, sich und seine Situation zu verstehen und kann daraus die richtigen Schlüsse ziehen.
In dem „Erkenne dich selbst!“ des Orakels von Delphi steht zudem ein weiterer wichtiger Hinweis: in der Beratung geht es erst an zweiter Stelle um das Land oder um das Unternehmen. An erster Stelle geht es um den Menschen. Um den Menschen, der berät, und um den, der beraten wird.
Literatur:
Schadewaldt, Wolfgang: Der Gott von Delphi und die Humanitätsidee