Die Digitalisierung ist die große gesellschaftliche Transformation unserer Zeit. Oft wird die Digitalisierung auf ihre technische Dimension reduziert. Natürlich ist Digitalisierung auch Technik. Viel Technik, die unsere alltäglichen Abläufe immer mehr verändern werden.

Aber Digitalisierung ist nicht nur Technik, sondern auch Mentalität, eine historisch entstandene Denkart, die die Technik erst hervorgebracht hat (vgl. den Blog “Digitales Denken“)

Dies macht die Diskussion, ob man Digitalisierung „einführen“ oder gar abschaffen soll, überflüssig. Sie ist da. Man kann eine Technik abschaffen, aber keine Mentalität.

Dies macht die Digitalisierung aber nicht unangreifbar. Sie hat ihre Schattenseiten, die erkannt, benannt und bearbeitet werden müssen.



 

Die Sackgasse des Digitalen

Edmund Husserl (Quelle: www.wikipedia.org)

Einer derjenigen, der sehr früh und sehr klar auf diese Schattenseite geblickt hat, ist der Mathematiker und Philosoph Edmund Husserl (1859-1938).

Er verfasste 1936 eine Schrift mit dem Namen „Krisis der europäischen Wissenschaften“. Wie der Titel verrät, stellte Husserl fest, dass die Wissenschaft in einer Krise ist.

Warum ist sie dies?

Es liegt in der Methodik der Wissenschaft begründet und hier macht Husserl auf Faktoren aufmerksam, die mit der Grundstruktur des Digitalen zu tun haben: das Sammeln von Daten.

Die Digitalisierung bedeutet, Daten zu sammeln und in diesem Sammeln die zentralen Erkenntnisse über die Welt gewinnen zu können. Was passiert, wenn die Wissenschaft genau so arbeitet?

Sie stößt laut Husserl auf zwei Probleme:

  1. Die Unmöglichkeit der Objektivität

Es kann keine Objektivität geben, die durch Daten gewonnen werden kann, weil es immer eine Auswahl gibt: bestimmte Daten werden genommen, andere damit aber nicht. Es ist faktisch unmöglich, ALLE Daten einzubeziehen. Damit kann das Ergebnis nicht objektiv sein.

  1. Das Eigenleben der Daten

Die Wissenschaft sammelt Daten, bearbeitet diese Daten … und erzeugt in dieser Bearbeitung neue Daten. Es entstehen Algorithmen, Muster, wie diese Bearbeitung vorzunehmen ist. Das Ergebnis ist ein Kreislauf von Daten, der etwas sehr Wichtiges aus den Augen verliert: nämlich das, wofür diese Daten eigentlich stehen. Husserl nennt es die Lebenswelt, heute würden wir sagen: die Realität.

 

Wir kennen diesen Mechanismus aus allen möglichen Bereichen: eine Erklärung abstrahiert ja immer von dem, was man erklären will. In der digitalisierten Welt werden nun diese Abstraktionen – als Daten – immer mehr gegenseitig bearbeitet und bauen damit eine Parallelwelt auf, die immer weniger mit der Realität zu tun hat und auch immer weniger verständlich wird.

Hannah Arendt stellte Ende der 50er in ihrem großen Werk „Vita activa“ fest, dass die Wissenschaft immer weiter voranschreitet, aber immer weniger ausdrückbar und verständlich wird, und stellte die Frage:

Verstehen wir, was wir machen? Können wir denkend darüber sprechen?

Diese Problematik ergibt sich aus der Datenhaftigkeit des digitalen Weltzugangs, auf den bereits Husserl in den 30er Jahren aufmerksam machte. Diese Problematik führt in eine böse Sackgasse, so Husserl:

„Die Ausschließlichkeit, in welcher sich in der 2. Hälfte des 19. Jahrhunderts die ganze Weltanschauung des modernen Menschen von den positiven Wissenschaften bestimmen ließ, bedeutete ein gleichgültiges Sichabkehren von den Fragen, die für ein echtes Menschenleben die entscheidenden sind. Bloße Tatsachenwissenschaften machen bloße Tatsachenmenschen.“

Man könnte ergänzen: bloße Daten machen bloße Datenmenschen.

 

In der Digitalisierung entsteht – befeuert durch KI und Algorithmen – ein Kreislauf von Daten, in dem die Realität – und damit auch unsere menschliche Realität – eine immer geringere Rolle spielt.

Und damit, so Husserl, geht etwas sehr Wichtiges verloren, nämlich eine Ebene, die uns so etwas wie Sinn vermittelt, das Gefühl, dass wir und die ganze Welt irgendwie einen Sinn haben. Stattdessen findet eine datenbasierte Simulation von Sinn statt, die immer hohler wird.



 

Ausweg?

Wie kann man dieser Sackgasse entkommen?

Nicht, indem man die Digitalisierung grundsätzlich ablehnt und verteufelt. Aber man muss sie verstehen und daraus Konsequenzen ziehen.

Und hier hilft Husserl durchaus weiter. Die große Gefahr, auf die er aufmerksam macht, ist ja das „digitale Eigenleben“, der Kampf der Daten mit sich selbst, der die Realität zusehends ausklammert.

Genau die muss in das digitale Eigenleben integriert werden, damit nicht nur die Algorithmen, sondern auch die Realität (vor allem unsere menschliche Realität) bestimmt, was da passiert. Dazu braucht es mehr Reflexion darüber, was eigentlich unsere Realität ist, was wir als Mensch sind und wie wir uns als Mensch eigentlich gegenüber der Technik darstellen.

Wir brauchen die Daten, um weiter voranzuschreiten. Aber sie sollten uns nicht sagen, wohin und warum wir voranschreiten.

So können wir das gewinnen, was man früher als „Weisheit“ bezeichnet, ein etwas altbackener Begriff, der aber entscheidend sein wird, so Stephen Hawking:

„Unsere Zukunft ist ein Wettlauf zwischen der wachsenden Macht unserer Technologien und der Weisheit, mit der wir davon Gebrauch machen. Wir sollten sicherstellen, dass die Weisheit gewinnt.”