Wie so viele großartige Dinge haben die alten Griechen sie erfunden: die Natur.

In ganz alten Zeiten sprachen die Menschen von „Schöpfung“, wenn sie in die Welt blickten: alles wurde von etwas Göttlichem geschaffen und wenn ich diese Schöpfung bewunder, dann bewunder ich nicht sie, sondern eigentlich denjenigen, der sie geschaffen hat: Gott oder die Götter.

Entsprechend haben die Menschen sich nur insofern für die Natur interessiert, wie es für ihr Überleben wichtig war. Alles darüber hinaus war nicht nur überflüssig, sondern sogar Frevel gegenüber den Göttern.

Das änderte sich mit den alten Griechen, genauer mit Homer.

Odysseus und Hermes, Quelle: wikimedia.

Dort findet sich in der Odyssee (X 302,ff) eine wunderbare Erzählung. Die Zauberin Kirke hat die Gefährten in Schweine verwandelt und Odysseus benötigt ein Kraut, um den Zauber zu brechen und nicht selbst Opfer zu werden. Der Gott Hermes erscheint und zeigt ihm eine Pflanze namens „Moly“. Als beschrieben wird, wie die beiden sich neugierig die Pflanze anschauen, fällt zum ersten Mal das Wort „physis“ (Natur): die Welt wird nicht mehr als Schöpfung eines Gottes gesehen, sondern als etwas Eigenständiges, etwas, das sich aus sich heraus entwickelt.

Die Natur bekommt einen Eigenwert und wird aus sich heraus interessant. Die Naturwissenschaften entstehen aus diesem Naturbegriff heraus.

In den nächsten Jahrhunderten wird es immer wieder Verschiebungen und neue Akzente im Naturbegriff geben, vor allem in Abhängigkeit davon, wie religiös die Gesellschaft ist.


Die Moderne

Mit der Moderne entstehen nun die beiden Sichtweisen auf die Natur, die auch heute noch präsent sind.

1.) Unterwerfung und Erforschung der Natur

Galileo Galilei, Quelle: wikimedia.

Es geht im Spätmittelalter los und nimmt dann im 17. und 18. Jahrhundert rasant Geschwindigkeit auf: die Natur wird immer beherrschbarer und immer mehr beherrscht. Ihre Gefahren werden zu großen Teilen gebannt – ohne dass sie ganz beherrscht werden könnten –, ihre Geheimnisse werden Schritt für Schritt erforscht, der technische und der wissenschaftliche Fortschritt scheinen unaufhaltsam. Natürlich gibt es immer wieder Rückschläge, die den fortschrittsgläubigen Menschen an die Unüberwindbarkeit der Natur erinnern wie etwa das große Erdbeben in Lissabon 1755 oder der Untergang der Titanic 1912.

Prinzipiell scheint der Fortschritt jedoch unaufhaltsam. Und man muss nüchtern feststellen, dass der Fortschritt in der Tat in den letzten Jahrhunderten Gigantisches für den Menschen hervorgebracht hat. Alleine ein Blick auf die hohe Lebenserwartung unserer Zeit belegt dies.

2.) Unterwerfung unter die Natur

Die zunehmende Beherrschung der Natur und der immer schneller galoppierende Fortschritt löste bei vielen Menschen nicht nur gute Gefühle aus. Das Neue, das entstand, wurde als sinnentleert wahrgenommen oder sogar als feindlich gegenüber dem, wie die Welt eigentlich sein soll.

Die Romantik Ende des 18. und Beginn des 19. Jahrhunderts ist der Höhepunkt dieser Entwicklung: der Fortschritt entfremdet den Menschen von der Natur und von sich selbst. Je mehr der Mensch sich der Natur zuwendet, desto besser ist es für ihn. Das Bild des „glücklichen Wilden“ wird geschaffen, des von der bösen Zivilisation unabhängigen Ureinwohners, der zum Vorbild für die fortschrittsversessenen Europäer werden soll.

3.) Extreme

Beide Sichtweisen auf die Natur sind extrem und beide sind schädlich.

Der Versuch, die Natur zu beherrschen, hat ohne Zweifel Großes hervorgebracht. Er hat aber auch einen Umgang mit der Natur hervorgebracht, der sie auf Dauer ausbeutet, verschmutzt und zerstört. Und damit auch die Lebensgrundlage des Menschen. Die heutige Klima- und Umweltthematik ist eine Folge dieser Haltung, die Natur ausschließlich als einen Selbstbedienungsladen zu sehen.

Auf der anderen Seite ist aber auch die romantische Verklärung der Natur etwas Schädliches. Es ist eben kein Zufall, dass wir Menschen heute älter als 30 werden. Das hat mit dem Fortschritt und mit der Beherrschung der Natur zu tun. Wenn es nach der Natur geht, überleben die meisten Kinder und viele Mütter die Geburt nicht, werden wir von Krankheiten früh hinweggerafft oder müssen jahrelang unter allen möglichen Schmerzen leiden, weil es keine Betäubung, keine Operationen, keine Impfungen und keine Medikamente gibt. Die Natur ist grausam und wenn wir ohne diese Grausamkeiten leben wollen, dann geht das nur in der Überwindung der Natur.

Das gilt auch für die angeblich so friedlichen und romantischen Naturvölker. Ganz abgesehen davon, dass sie keine Vegetarier waren: als wären die weniger grausam gewesen als die „zivilisierten“ Völker. Im Gegenteil. Nur dass man eben nicht um Öllager Kriege führte, sondern um Jagdgründe.


Die Natur ist kein Ort des Friedens, und Völker, die sich an der Natur orientieren, sind es auch nicht.

Niederlande – Deutschland

Nebenbei erzählt ist es übrigens interessant, dass es hier in den Niederlanden ein anderes Verhältnis zur Natur gibt. Hierfür gibt es zwei wichtige Unterschiede zu Deutschland: hier in den Niederlanden ist die Natur zum größten Teil von den Menschen gemacht. „Gott hat die Welt erschaffen und die Niederländer die Niederlande“, heißt es. Der größte Teil des Landes liegt unter dem Meeresspiegel und wurde von den Niederländern im Laufe von Jahrhunderten dem Meer abgerungen. Sie haben das Land gemacht und bewirtschaften dieses Land deutlich aggressiver als es in Deutschland üblich ist. Nicht umsonst ist dieses kleine Land der weltweit zweitgrößte Exporteur landwirtschaftlicher Güter. Das Land wurde gemacht, um bewirtschaftet zu werden. Das ist ein völlig anderes Gefühl gegenüber der Natur als in Deutschland, wo man durch alte Wälder läuft und auf hohe Berge blickt.

Der zweite Unterschied besteht in der Bedrohtheit durch die Natur. Die Niederländer wissen aus jahrhundertelanger Erfahrung: das Leben ist ein Kampf gegen die Natur. Wenn dieser Kampf aufhört, saufen die Niederländer ab. Ihr Land verdankt sich diesem Kampf und ihr Land hört auf, wenn dieser Kampf aufhört. Entsprechend geht man hier anderes mit dem Klimawandel um. Deutschland debattiert viel und macht wenig. Zumindest wenig Effektives. Diesen Luxus langer Diskussionen können sich die Niederländer nicht erlauben. Hier ist nicht alles perfekt, aber es wird viel konkreter geplant und gearbeitet. Hier wird bereits durchgerechnet, wieviel höher die Deiche gemacht werden müssen und wie Siedlungen in Gebieten existieren können, die zeitweise geflutet werden müssen. Für die deutsche Diskussionsfreude und moralische Aufgeladenheit ist hier kein Platz.

Die Natur und wir

Unser Verhältnis zur Natur entscheidet darüber, wie wir leben.

Versuchen wir im Einklang mit der Natur zu leben? Was bedeutet dieser „Einklang“? Bedeutet dieser Einklang, dass die Natur etwas Besseres ist als wir? Dass wir keine Tiere essen dürfen? Dass wir deshalb die moderne Medizin ablehnen? Was bedeutet uns dann der menschliche Fortschritt? Vertrauen wir auf die Möglichkeiten des Menschen oder lehnen wir sie prinzipiell ab?

Oder ist die Natur ein reines Ausbeutungsobjekt? Dass wir so lange ausbeuten, wie es geht? Oder sogar darüber hinaus? Hat die Natur irgendein Existenzrecht oder ist sie nur solange für uns interessant, wie sie uns die Grundlagen für unser Leben liefert?

 

Es ist wie so oft: die Extreme ruinieren uns, die Wahrheit liegt in der Mitte. Es braucht ein positives Verhältnis zur Natur. Sie darf nicht weiter zerstört werden und wir graben uns unsere eigene Zukunft als Menschheit ab, wenn wir sie nur als Selbstbedienungsladen sehen. Der Klimawandel kommt und wir werden auf ihn reagieren müssen, nicht nur in den Niederlanden. Wir sind Teil der Natur.

Wenn wir Teil der Natur sind, heißt das aber auch, dass sie nicht mehr wert ist als wir. Wir sind Teil von ihr, aber nicht ihr Sklave. Die Herausforderungen der Zukunft lassen sich nicht lösen ohne den menschlichen Fortschritt. Nicht die Natur hat dafür gesorgt, dass wir Menschen im Lauf der Jahrhunderte älter, gesünder und schmerzfreier wurden, sondern unsere Beherrschung der Natur – so unvollendet sie auch immer bleiben wird.

Die letzten Jahrhunderte und Jahrtausende haben in der schrittweisen Überwindung der Natur einen gigantischen Fortschritt für uns Menschen bedeutet. Nicht nur einen Fortschritt des Wohlstands, sondern einen Fortschritt in unserem täglichen Leben, das wir möglichst gesund und schmerzfrei führen wollen.



Zum Schluss nochmal zu den alten Griechen. Zu Odysseus und Hermes. Sie haben die „Natur“ erfunden: die Idee, dass unsere Welt nicht nur etwas ist, das die Götter für uns geschaffen haben, sondern etwas Eigenständiges, Lebendiges, das sich immer wieder selbst hervorbringt und ständig weiterentwickelt. Wir sind Teil dieses ewigen Prozesses. Diese Haltung gab den Griechen einerseits den Willen, die Natur zu erforschen, zu durchdringen und zu beherrschen. Zugleich bewunderten sie die Natur. Odysseus und Hermes schauen staunend auf die Pflanze und bewundern das Leben der Natur, das sich ihnen in dieser Pflanze zeigt.

Wenn wir Menschen eine Zukunft haben wollen, brauchen wir beides: einen großen Respekt vor der Natur und vor dem Leben selbst, aber auch die Neugierde und den Willen, sie zu verstehen und uns mit ihrer Hilfe weiterzuentwickeln.