Die Digitalisierung ist ein schwer greifbares Phänomen. Sie scheint immer mehr Lebensbereiche zu ergreifen, sie wird immer mächtiger, immer präsenter in unserem Alltag und damit auch immer schwerer greifbar. Digitalisierung ist ein technisches Phänomen, zugleich aber auch ein wirtschaftliches Phänomen, das auf unsere Arbeitswelt einwirkt, aber auch ein soziales Phänomen, das unsere Gesellschaft verändert.
Dass es in Deutschland bis heute kein Digitalministerium gibt, ist zwar ein Skandal, aber eben durch dieses schwer Greifbare zumindest ein Stück weit erklärbar.
Um zu verstehen, was Digitalisierung eigentlich ist, ist es wichtig, sie als eine Mentalität, als eine Denk-Art zu begreifen. Wenn etwas derartig umfassend ist und wirklich alle Lebensbereiche beeinflusst, dann steckt dahinter nicht nur etwas Zufälliges, das bald wieder vorbei ist, sondern etwas viel Grundlegenderes: eine bestimmte Mentalität in der Gesellschaft, die eben diese Digitalisierung zur Folge hat.
Technik fällt nicht vom Himmel. Sie wird erfunden und eingesetzt, weil eine bestimmte Mentalität sie braucht und einsetzen will. Diese digitale Mentalität wollen wir uns genauer anschauen.
Die vor-digitale Mentalität
Um etwas zu verstehen, ist es oft sehr aufschlussreich, sich die historische Entwicklung anzuschauen. Warum und wie etwas entstanden ist, verrät ungemein viel über die Sache selbst.
Um die Digitalisierung zu verstehen, ist es also sehr interessant, in die Zeit zu schauen, in der es sie noch nicht gab.
Und da gehen wir auf Nummer Sicher und schauen ins Mittelalter. Also bevor jemand auch nur an Moderne und Digitalisierung denken konnte.
Grundlegend für eine Mentalität oder ein gesellschaftliches Denken ist die Art und Weise, wie die Welt an sich wahrgenommen und erklärt wird.
Seitdem es uns Menschen gibt, versuchen wir, die Welt zu erklären, in der wir leben. Das brauchen wir, um uns selbst in der Welt einordnen zu können. Und wie das in der jeweiligen Zeit oder der jeweiligen Gesellschaft funktioniert, ist sehr erhellend.
Wie haben die Menschen damals im Mittelalter versucht, die Welt zu verstehen?
Die Menschen damals haben die Welt indirekt erklärt, über einen allgemeinen Bezugspunkt, von dem aus alles andere erklärbar wird. Dieser Bezugspunkt hieß Gott.
Die Welt ist Schöpfung Gottes.
Wenn Gott die Welt erschaffen hat, dann ist logischerweise der Plan der Welt in Gott drin. Wenn ich also etwas über die Welt erfahren will, so der Mensch im Mittelalter, kann ich das in Gott am allerbesten.
So wurde das Mittelalter zu der Zeit, in der die Theologie die Krone und die Vollendung aller Wissenschaft war – heute unvorstellbar.
Diese Stellung der Theologie war logisch, weil Gott das definitive Erklärungsprinzip war: die Welt wurde über Gott erklärt.
Das begann am Ende des Mittelalters, spätestens ab dem 14. Jahrhundert, massiv zu bröckeln. Und mit diesem Bröckeln beginnt die Moderne.
Die Entstehung der digitalen Mentalität
Was passiert, wenn nach und nach das Erklärungsprinzip „Gott“ verschwindet, von dem aus alles erklärt wurde? Es war damals nicht so, dass von jetzt auf gleich keiner mehr an Gott glaubte. Aber der selbstverständliche Glaube, dass man in Gott etwas über das Funktionieren der Welt erfahren konnte – der schwand zusehends.
Was passiert nun, wenn nach und nach das bisherige Erklärungsprinzip „Gott“ verschwindet?
Die Welt wird nicht mehr indirekt erklärt – über Gott – , sondern direkt. Aus den Sachen selbst. Die Welt selbst wird interessant.
Und Wissenschaft heißt von da an nicht mehr: Erforschung Gottes, sondern Erforschung der Welt.
Das klingt für uns heute völlig selbstverständlich, aber das ist es eben nicht. Und das ist es in vielen Ländern und Kulturen bis heute nicht. Dass wir Menschen das Wesentliche über die Welt nicht in Gott oder in der Religion, sondern in der Welt selbst erfahren: das musste erst errungen werden. Und mit diesem Ringen beginnt die Moderne.
Die Wissenschaften beginnen zu boomen, gerade die Naturwissenschaften. Galilei, Newton, Kopernikus. Auf einmal wird die ganze Welt erfasst: alles wird vermessen, verglichen und aufgezeichnet.
Mit anderen Worten: Daten werden gesammelt.
Auch begünstigt durch den Buchdruck entsteht eine Sucht danach, Informationen, Daten über die Welt zu sammeln und mit diesen Daten die Welt zu erklären.
An diesen Daten hatte man vorher kein Interesse. Im Mittelalter stieg keiner auf einen Berg, um zu wissen, wie hoch der ist. Warum auch? Auf einmal wird es gemacht.
Vorher hatte keiner die Idee, in ferne Länder zu reisen und Blumen oder Käfer zu sammeln. Auf einmal wird es gemacht.
Vorher hatte keiner die Idee, genaue Volkszählungen vorzunehmen und wirklich jeden Bürger zu erfassen. Nun wird es gemacht. Auf einmal entstehen staatliche Bürokratien.
Das alles ist neu. Und es entspringt einer Mentalität, mit der die Moderne entstanden ist: das Verständnis der Welt läuft über Informationen. Übe Daten. Ich sammle Daten in der Welt, um die Welt verstehen zu können. Dieser Prozess wird immer schneller. Der wissenschaftliche Fortschritt wird zu einem technischen Fortschritt, der dann wieder den wissenschaftlichen Fortschritt ankurbelt. Dieser Prozess wird immer schneller und wird schließlich zur heutigen Digitalisierung.
Die Welt in Daten
Die Digitalisierung, wie wir sie heute kennen, ist nicht mehr und nicht weniger als die Weiterführung dieser langen historischen Entwicklung. Dieser historische Hintergrund macht etwas sehr Wichtiges deutlich, das wir brauchen, um die Digitalisierung beurteilen zu können:
Digitalisierung ist nicht etwas Zufälliges, das man einfach wieder abschaffen könnte, sondern die Digitalisierung ist eine logische Konsequenz unserer jahrhundertelang gewachsenen Mentalität.
Welterkenntnis durch Datensammeln.
Diese Mentalität war nie unumstritten. Bis heute nicht. Die Kritik an dieser digitalen Mentalität zielt zumeist darauf, dass viele Aspekte des Menschseins und damit das Menschsein selbst nicht in Daten ausdrückbar ist.
Wie gerecht kann eine auf Daten basierende Welterklärung einem nicht nur nach Daten und nach einer formalen Logik funktionierenden Menschen werden?
Was ist der Mensch angesichts der umfassenden Datafizierung? Wo sind die Daten für ihn eine Hilfe oder sogar notwendig für seinen Lebensentwurf und wo ist die Grenze, wo der Mensch etwas ist, das nicht in den Daten fassbar ist?
An der Beantwortung dieser Fragen entscheidet sich, wie sich unsere Gesellschaften und unsere individuellen Leben entwickeln werden. Die lange Mentalitäts und Denkgeschichte, die in vielen Jahrhunderten zur Digitalisierung führte, macht deutlich, dass die Digitalisierung Teil unseres Lebens ist – ob wir wollen oder nicht. Welche Rolle sie für unser Leben spielt und wer eigentlich die Rollen für unser Leben festlegt: daran müssen wir alle zukünftig arbeiten.
Danke für den Überblick. Das spüre ich selber auch. Digitalität ist in vielem für mich hilfreich bei der Arbeit und auch privat. Aber ich sehe sie eher als Werkzeug und bin fest überzeugt, dass Wesentliches meines Leben, z.B. Liebe, digital nicht adäquat erfasst werden kann.Wie kann ich dem in meinem Leben und in meinem Weltbild einen Platz geben?
Sehr geehrter Herr Dr. Rasche,
der Hype “Digitale_Transformation” wird grenzenlos überschätzt.
Die Gewerkschaften gingen noch auf die Barrikaden, als dasselbe noch “Automatisierung” hieß und mit Arbeitsplatzabbau gleichgesetzt wurde.
Aber kaum ist der Etikettenschwindel vollzogen, machen die Gewerkschaften mit. Toller Trick.
Herr Dr. Rasche, das Konservative hat auch Recht, beispielsweise das, was die Kirchen am Leben erhält: Sie bewahren das Ewige in uns, das durch eine Unzahl von Mutationen unter Konkurrenzdruck in unsere Erbanlagen geraten ist. Das verführt uns, uns artgerecht zu verhalten.
Gute Erklärungen -für ihre Zeit – waren die Personifikationen dieser Wirkung der Gene in olympische Götter, in die Sirenen des Odysseus und in den “inneren Schweinehund” in der Psyche nach Dr. Freud.
Noch besser waren die Erklärungen des Christentums, da stimme ich den christlichen Kirchen zu.
Die sogenannte “digitale Transformation” ist aber kein menschlicher Fortschritt, sondern nur ein Fortschritt in den Mitteln. Wie damals, als Prometheus das Feuer Nahrung kochen ließ – und Ketzer wie mich verbrennen.
Die sogenannte “digitale Transformation” ist in ihrem Anspruch an etwas Großartiges eine Verlogenheit, ein Schwindel.
Sich selbst widerspräche, wer
1. sich durch seinen Titel rühmt, im Sinne Kants etwas aufgeklärter zu sein als Otto Normalkonsument,
2. aber trotzdem einen Etikettenschwindel mitmacht, als hätte er ihn nicht durchschaut.
Den Gesetzen der Evolution gemäß muss jeder Unternehmer den technischen Fortschritt nutzen, unnötige Verschwendungen abzustellen. Sonst wäre er bald kein Unternehmer mehr, sondern muss gehorchen.
Etikettenschwindel aber ist Sünde, Herr Dr. Rasche, verführt zur Abzocke. Nach Prophet Mose sind da Höllenstrafen gewiss.
Herr Dr. Rasche, ich spreche jetzt den Vordenker in Ihnen an. Wer lieber mit den Wölfen heult, als von denen zerrissen zu werden, der mag an der “digitalen Transformation” nutzen und unterstützen, was der Wettbewerbsfähigkeit dient. Den Hype aber überlässt er besser den Idioten und ihren Lemmingen.
“Streite dich nie mit einem Dummkopf; es könnte sein, dass die Zuschauer den Unterschied nicht bemerken.” (Mark Twain)
In Anlehnung an Twain: Zur Hölle auf Erden könnte dieselbe Verwechslung werden für Mitschwindler im Etikettenschwindel.
MfG
Wolfgang Horn
“Die sogenannte “digitale Transformation” ist aber kein menschlicher Fortschritt, sondern nur ein Fortschritt in den Mitteln.”
Vielleicht ist hier der große Unterschied zwischen uns: ist ein Fortschritt in den Mitteln nicht auch ein menschlicher Fortschritt?
Was hätte Prometheus Ihrer Meinung nach tun sollen? Das Feuer nicht nehmen und weitergeben?