Man sagt Philosophen gerne nach, sich mit Fragen und Problemen zu beschäftigen, die es ohne sie gar nicht geben würde. Zugegeben, teilweise trifft dieser Vorwurf zu, bei einem jedoch ganz sicher nicht, der sich bis ins hohe Alter mit sehr konkreten Problemen beschäftigte – vielleicht, weil er aufgrund seiner Biographie daran gewöhnt war, dass das Leben nicht nur aus Träumereien, sondern aus brutaler Realität besteht.

Es geht um Hans Jonas. 1903 in Mönchengladbach geboren, studierte er Philosophie bei Leuten wie Edmund Husserl und Martin Heidegger, die damals zur Crème de la Crème ihres Fachs zählten. Dann kam die Nazizeit, als Jude musste Jonas nach London fliehen. Später nahm er in einer jüdischen Brigade intensiv am Kriegsgeschehen im Orient und in Europa teil. Nach dem Krieg wurde er in den USA zu einem international gefeierten Philosophen und verstarb dort 1993.


“Das Prinzip Verantwortung”

1979 erschien ein Buch, das zu seinem erfolgreichsten Buch werden sollte und bis heute rege diskutiert wird: „Das Prinzip Verantwortung“. Worum es in diesem Buch geht, wird mit einem Blick auf den Untertitel deutlich: „Versuch einer Ethik für die technologische Zivilisation“.

Hans Jonas hatte klarer als seine philosophischen Kollegen erkannt: Ethik kann nicht mehr nur das Nachdenken darüber sein, wie ein Mensch mit einem anderen umgeht, sondern muss zum Nachdenken darüber werden, wie ein Mensch mit der Welt umgeht. Diese neue Ethik betrifft nicht nur die Themen Natur und Umwelt, sondern Dinge wie Medizinethik, Gentechnik, Eugenik, Euthanasie, Bioethik usw.

Der technische Fortschritt wird immer gewaltiger. Die sich daraus ergebenden Möglichkeiten sind ebenfalls gewaltig: der Mensch kann immer mehr in das Leben der Welt eingreifen – auch in die Biologie des eigenen Lebens.

Natur und Technik

Jonas ist sehr skeptisch, was diese Technologisierung des Menschen angeht. Dabei geht es ihm keineswegs um eine generelle Kritik an der Technik an und für sich. Sondern darum, dass der Mensch zusehends in die völlige Abhängigkeit von seiner Technik gerät. Der Mensch, so Jonas, wird immer abhängiger von den Dingen, die er selbst geschaffen hat und vernichtet dabei das, was er nicht geschaffen hat: die Natur.

Die Wurzel allen Übels sieht Jonas in der Haltung des modernen Menschen, der Natur keinen eigenen Wert mehr zuzusprechen, sondern sie in extremer Weise nutzbar zu machen und nur auf ihre Nutzbarkeit hin zu gebrauchen. Damit, so Jonas, verliert nicht nur die Natur ihre Würde, sondern der Mensch ebenfalls.

Was rät Jonas?

Nicht nur auf die Gegenwart zu schauen, sondern gegenwärtige Entscheidungen auf die Zukunft hin zu treffen. Verantwortlich zu handeln. Hierzu wandelt er den berühmten „Kategorischen Imperativ“ von Kant ab:

„Handle so, dass die Wirkungen deiner Handlung verträglich sind mit der Permanenz echten menschlichen Lebens auf der Erde.“

Menschliches Handeln, so Jonas, muss immer so ausgerichtet sein, dass es auch dem Menschen und seinem dauerhaften Leben auf der Erde dient.

Daraus ergibt sich ein verantwortungsvoller Umgang mit dem, wovon er lebt: der Natur. Zugleich ergibt sich ein verantwortungsvoller Umgang mit dem, was er sich baut: der Technik.


Was ist der Mensch?

In diesem kurzen Blog kann es nicht darum gehen, die genauen Begründungen von Jonas nachzuvollziehen, warum er dem Menschen eine besondere Würde zuschreibt usw. Ein paar spannende Fragen wirft er allerdings auf, die gerade in Zeiten von KI und Digitalisierung nichts von ihrer Relevanz verloren haben:

 

  • Angesichts der zunehmenden Technologisierung des menschlichen Lebens: was ist eigentlich menschlich? Was zeichnet den Menschen aus und warum ist er etwas Besonderes?
  • Wie soll die Zukunft des Menschen aussehen und mit welchen technischen Mitteln soll diese Zukunft gestaltet werden?
  • Wo gibt es ethische Grenzen des menschlichen Handelns und wie kann man sie begründen?

Fazit

Auch knapp 40 Jahre nach dem Erscheinen von „Prinzip Verantwortung“ lohnt es sich, dieses Buch in die Hand zu nehmen. Nicht nur für einen, der sich mit den großen Fragen der Welt beschäftigt („Was ist der Mensch?“), sondern für jeden, der Entscheidungen treffen muss – auch unternehmerische.

Jede Entscheidung, so Jonas, darf nicht nur auf den Augenblick hin getroffen werden, sondern aus einem Gefühl der Verantwortung heraus: für die Mitmenschen, für die Natur, für die Zukunft:

„Handle so, dass die Wirkungen deiner Handlung verträglich sind mit der Permanenz echten menschlichen Lebens auf der Erde.“

Nichtverantwortliches Handeln, so Jonas, führt letztlich in die Selbstauflösung. Wenn es keine Werte gibt, dann versinkt alles im Nichts. Wenn es Werte gibt, müssen sie geschützt werden und dann muss so gehandelt (und so entschieden) werden, dass das, was einen Wert besitzt, auf Dauer existenzfähig ist.

Diese Abheben auf Dauer und Nachhaltigkeit gilt auch (und vielleicht sogar gerade) in Zeiten eines immer schneller galoppierenden Zeitdrucks. VUCA und agiles Management sind keine Alternative zu Werten, sondern müssen so gestaltet werden, dass sie über den Augenblick hinausblicken und damit in etwas verankert sind, das bleibt. Weil sonst nichts bleibt. Hans Jonas erinnert in seinem Buch daran, dass man das, worum es eigentlich geht, nicht mit den Mitteln verwechseln darf, mit denen es erreicht werden soll.

 

Literaturempfehlungen:

Jonas, Hans: Das Prinzip Verantwortung.

Jonas, Hans: Leben, Wissenschaft, Verantwortung.

Jonas, Hans: Technik, Medizin und Ethik. Zur Praxis des Prinzips Verantwortung.