In einigen Wochen findet die Wahl zum Europäischen Parlament statt. Zur Wahl steht das Projekt eines gemeinsamen Europas, das seit einigen Jahren wie nie zuvor angefragt und kritisiert wird: populistische oder illiberale Regierungen in einigen Ländern, das Dauerthema Brexit oder die Flüchtlingskrise belegen eindrucksvoll die Schwere der europäischen Krise.
Eindrucksvoller Tiefpunkt dieser Entwicklung ist sicherlich der Anti-Europa-Wahlkampf des ungarischen Ministerpräsidenten Orbán, der auf einem Plakat Jean-Claude Juncker, den Präsidenten der EU-Kommission, und George Soros, der sich in vielen Ländern Europas mit Stiftungen für die liberale Demokratie einsetzt, als Monster darstellt, vor denen man sich schützen muss. Das Tragische daran ist vielleicht weniger, dass ein Mann wie Orbán mit solchen Plakaten Wahlkampf macht – das Tragische ist vor allem die lahme bis nicht vorhandene Reaktion aus Brüssel oder aus anderen Ländern.
Mehr denn je stellt sich die Frage, was Europa eigentlich ist, wofür Europa oder eine Europäische Union stehen soll und welchen Sinn es überhaupt macht, weiterhin an ein gemeinsames Europa zu glauben.
“Europa”
Was ist Europa? Um diese Frage in der Zukunft beantworten zu können, ist es hilfreich, in die Vergangenheit zu schauen, in die Vergangenheit, in der Europa gebaut wurde.
Europa war erst einmal nur die Bezeichnung für einen Kontinent – weder in antiken Griechenland noch im römischen Reich wurde der Begriff „Europa“ irgendwie ideell aufgeladen. Es war der Name für eine Landmasse. Mehr nicht.
Erst im Mittelalter wurde der Begriff zu einer Idee, zu der Idee, dass dieses Europa, das „Abendland“, über gemeinsame Werte verfügt, die die einzelnen Teile Europas miteinander verbinden. Was heute oftmals unbekannt ist: dieses Europa umfasste im Mittelalter die Gebiete der lateinisch-römischen Kirche, somit nicht den Osten Europas, der erst viel später Teil der Idee “Europa” wurde.
Dieses Europa wurde verbunden durch eine gemeinsame Sprache – die lateinische – , durch eine gemeinsame Religion – das römisch-lateinische Christentum – , und durch eine gemeinsame Kultur, die eng mit der christlichen Religion verbunden war.
In diesem Kulturraum bildeten sich bereits im Mittelalter bestimmte Kennzeichen heraus, die einmalig waren und die die Grundlage für die weitere europäische Entwicklung bis heute bilden werden:
- Trennung Staat – Religion: geistliche und weltliche Gewalt werden unterschieden.
- Römisches Recht: das Recht ist unabhängig von der Person und verfügt über universale und allgemeingültige Prinzipien. Der Staat wird nicht über die Person des Herrschers definiert.
- Vernunft: ein griechisches Erbe: die Hochschätzung der Vernunft. Das christliche Mittelalter erkennt Gott als höchste Vernunft schlechthin – was den Gebrauch der Vernunft zur Erkenntnis Gottes voraussetzt.
- Mensch als Person: der Mensch ist nicht nur ein biologisches Wesen wie ein Tier, er ist eine „Person“ mit einer bestimmten Würde und einer Vernunftbegabtheit.
Europa wurde verbunden durch gemeinsame Werte. Diese enge Verbindung führt dazu, dass bereits um 1300 die Idee auftauchte, Europa auch staatlich zu vereinen.
Das neue Europa
Vernunft und Religion bildeten eine Einheit. Aus verschiedenen Gründen begann diese Einheit im späteren Mittelalter zu bröckeln: es wurde immer deutlicher, dass die Vernunft Fragen stellen kann, welche die Religion nicht beantworten kann. Immer mehr und immer stärker konnte ohne die Religion gedacht werden. Mit großen Konsequenzen.
- Mensch: Mensch als Individuum.
Der Mensch wurde immer mehr als Individuum gesehen, das über eigene Rechte verfügt und diese Rechte auch gegenüber der Gesellschaft einfordern kann. - Vernunft: starke Wissenschaft.
Namen wie Newton und Galilei stehen für revolutionäre, wissenschaftliche Entdeckungen, die in der frühen Neuzeit eine völlig neue Sicht auf die Welt eröffneten. - Gesellschaft: vernünftige Gesellschaft.
Die europäischen Gesellschaften wurden immer mehr rationalisiert: Bildung, Hygiene und Rechtsstaatlichkeit nahmen zu, umfassende bürokratische Systeme der Staaten wurden geschaffen, die eine effizientere Verwaltung durchsetzen konnten.
Aufklärung
Die europäische Aufklärung des 17. und 18. Jahrhunderts wird an genau diesen Themen weiterarbeiten und in dieser Zeit die zentralen Werte schaffen, von denen Europa bis heute lebt. Im Folgenden nur kurz die zentralen Personen und Ideen genannt.
Vernünftige Gesellschaft
- Gesellschaftsvertrag: die Vernunft, nicht ein König ist der Beginn gesellschaftlichen Zusammenlebens (Thomas Hobbes).
- Rechtsstaatlichkeit: die universalen Prinzipien des Rechts gelten unabhängig von der Person. Das Recht bildet einen eigenen, geschützten Raum in der Gesellschaft (John Locke).
- Völkerrecht: es gibt international gültiges Recht, das für alle Staaten verbindlich ist (Samuel von Pufendorf).
- Gewaltenteilung: die Gewalt im Staat muss getrennt werden, damit eine Diktatur verhindert wird (Baron de Montesquieu).
- Volk Souverän des Staates: die Bürger, nicht der König, sind der Souverän des Staates (Jean-Jaques Rousseau).
- Frieden durch internationale Staatenverbünde: nur eine internationale Gemeinschaft der Staaten kann auf Dauer den Frieden sichern (Immanuel Kant).
Starke Wissenschaft
- Bildungssystem: die Bildung der Bürger ist die Pflicht des Staates (Wilhelm von Humboldt).
Mensch als Individuum
- Freiheitsrechte des Menschen: der Mensch ist ein freies Wesen. Die eigene Freiheit endet an der Freiheit des anderen (John Locke).
- Mensch als moralisches Wesen: der Mensch hat eine Verantwortung für sich selbst, die auf seiner Freiheit beruht. Er hat die Pflicht gegenüber sich selbst, dieser Verantwortung gerecht zu werden (Immanuel Kant).
Fazit
Das sind die Werte der Aufklärung. Werte, die im Laufe von Jahrhunderten in Europa entstanden sind. Schauen wir in die Gegenwart: Europa steht vor großen Problemen, ist zwar in der Lage, Glühbirnen zu verbieten, Gurken zu normieren oder Duschköpfe zu regulieren, versagt aber regelmäßig bei den großen Problemen.
Ein zentrales Problem ist die große Frage, was die Europäische Union eigentlich sein will: eine Wirtschaftsgemeinschaft? Ein Verwaltungsverbund? Die Vereinigten Staaten von Europa? Die Ansichten darüber gehen auseinander und entsprechend ohnmächtig ist das Gesamtgebilde.
Schauen wir noch einmal zurück auf die Aufklärung und die Werte, die dort entwickelt wurden. Weil genau diese Zeit und genau diese Werte auch bei den zentralen Fragen des heutigen Europas entscheidende Hilfen sein können:
- Mensch als Individuum
Wie ist das Verhältnis des Bürgers gegenüber der EU-Bürokratie neu zu beschreiben? Wie kann der europäische Bürger in dem Gefühl leben, Souverän und nicht Opfer Europas zu sein? Wie müsste man das gewählte Europäische Parlament gegenüber der EU-Bürokratie stärken? - Starke Wissenschaft
Europa ist relativ arm an Rohstoffen, die Kern-Ressource Europas ist der Mensch. Wie kann die Bildung dieses Menschen gestärkt werden? Wie können die Menschen fit gemacht werden für die neue Arbeitswelt der Zukunft? Wie kann die Wissenschaft wieder gestärkt werden und zum Zugpferd der Entwicklung werden? - Vernünftige Gesellschaft
Wie können die liberalen Grundwerte der Demokratie wieder neu in den Gesellschaften verankert werden? Wie können gemeinsame Probleme (Flüchtlingsfrage usw.) gemeinsam und vernünftig gelöst werden? Wie kann der grassierende Populismus in den einzelnen Ländern effektiv eingedämmt werden, was muss man tun um eine vernünftige politische Diskussionskultur zu installieren?
Die Probleme, unter denen Europa zur Zeit leidet, sind lösbar durch eine Rückbesinnung auf die Werte, die Europa gemacht haben und für die Europa eigentlich stehen sollte. Dieses Wertesystem stellt den einzelnen Menschen in den Vordergrund, der über unverlierbare Rechte und eine unverlierbare Würde verfügt, der sich in vernünftiger Weise in das Leben der Gesellschaft einbringt und sie gestaltet.
Womit will Europa für sich werben? Damit, dass man die Duschköpfe noch besser regulieren kann? Europa kann seine Bürger nur dann für sich begeistern, wenn es auf die großartigen Werte verweist, durch die Europa groß wurde und auf die Europa auch heute angewiesen ist. Die Leute wollen in Europa einen Sinn erkennen.
Die Werte, die diesen Menschen und diese Gesellschaft verwirklichen wollen, sind über einen langen Zeitraum in Europa entwickelt worden und Europa als Gemeinschaft kann nur funktionieren, wenn alle Teile dieser Gemeinschaft auf dem Fundament dieser Werte stehen. Die europäische Aufklärung ist kein Projekt der Vergangenheit, sondern heute nötiger als wir es vor einigen Jahren noch denken konnten.