Am Ostermontagmorgen verstarb in Rom Papst Franziskus. Seine Amtszeit als Papst lässt viele Menschen – auch mich – etwas ratlos zurück: was wollte er eigentlich? Hat er das geschafft, was er als Papst wollte? Hat er die Kirche verändert? Wollte er es überhaupt?

Das ist schwierig zu beurteilen, weil dieser Mann nicht in die Kategorien passte, in die wir auch kirchliche Würdenträger gerne einteilen: links-rechts, fortschrittlich-konservativ, volksnah-abgehoben.

Seine Amtszeit lässt mich mit zwiespältigen Gefühlen zurück, die vielleicht bereits in den ersten Minuten seiner Amtszeit begannen.

Der erfrischene Beginn

Der frischgewählte Papst tritt auf den Balkon des Petersplatzes. Die Menge jubelt ihm zu, er winkt zurück und beginnt dann zu sprechen: „Meine Brüder und Schwestern … guten Abend!“ Alleine dieser bürgerliche, nichtgeistliche Gruß setzt ein riesiges Signal: das Signal, nah bei den Menschen zu sein und sich nicht an geistliche Symbole zu klammern, um sich von den Menschen abzusetzen.

Ich sah damals den frischgewählten Papst und war beeindruckt davon, wie er in seinen Worten und Gesten eine für einen Papst neue Nähe zu den Menschen signalisierte. Zugleich sah ich aber auch etwas anderes, das ich damals meinen Bekannten mitteilte und das sich bewahrheiten sollte: in dieser Nähe zu den Menschen, in seiner Lockerheit, in seiner Ungezwungenheit schien etwas auf, das ich oft bei Südeuropäern und Südamerikanern gesehen hatte: ein flexibler, lockerer, geschmeidiger Umgang mit den Regeln. Das führt dazu, dass die Regeln nicht immer pingelig eingehalten werden, es führt aber auch dazu – und das spürte ich bereits damals in diesen ersten Minuten – , dass die Regeln nicht abgeschafft werden. Weil sie eh nicht so wichtig sind. Damit bleiben sie aber bestehen.

Mit anderen Worten: dieser Mann machte sehr schnell deutlich, dass er es mit den Regeln nicht so genau nimmt, diese aber damit gültig bleiben, weil er sich nicht so sehr für sie interessiert. Bereits hier werden Schwäche und Stärke dieses Mannes deutlich. Die Stärke, die darin besteht, die Kirche menschlicher zu machen. Die Schwäche, die darin besteht, die Kirche vielleicht atmosphärisch, aber nicht strukturell zu verändern.

Die Doppeldeutigkeit

Nehmen wir als Beispiel seinen Umgang mit Homosexuellen. Hier sprach er einen berühmten Satz auf, den viele Homosexuelle als Befreiung wahrgenommen haben: „Wer bin ich, die Homosexuellen zu verurteilen?“ Dieser Satz klingt gigantisch und hat vielen Homosexuellen gerade innerhalb der Kirche großen Mut gegeben, mit ihrer Identität selbstbewusster umzugehen. Aber indem der Papst nur sagt, dass er persönlich keinen verurteilen will, aber sämtliche lehramtlichen und gesetzlichen Verurteilungen von Homosexualität bestehen lässt, hat sich am Status der Homosexuellen faktisch nichts geändert: sie sind und bleiben Sünder. Wenn sie dafür nicht verurteilt werden, dann nicht, weil sie keine Sünder sind, sondern aus einem Gnadenakt des Papstes heraus, der sich jederzeit ändern kann.

Und wenn der Papst die Homosexuellen an anderer Stelle als „Kranke“ bezeichnet, die man zum Psychologen schicken sollte, wird dieses Dilemma noch einmal deutlicher.

Dieser Muster zieht sich eigentlich bei allen wesentlichen Äußerungen des Papstes durch. Er verurteilte den Klerikalismus: die Arroganz, Abgehobenheit und Korruption kirchlicher Amtsträger. Aber er machte nichts gegen die Strukturen, die diese Art Amtsträger hervorgebracht haben.

Er setzte sich für eine „synodale Kirche“ ein, ermutigte oder lud ein zu synodalen Zusammenkünften – um ihre Ergebnisse dann zu ignorieren oder direkt bestimmte Themen von der Tagesordnung zu streichen.

Er sprach immer wieder sehr deutlich über den sexuellen Missbrauch und verschärfte auch einige kirchliche Gesetze – tat aber nur zu wenig, wenn beispielsweise Bischöfe gegen diese Gesetze verstießen. Woelkis diesbezügliches Rücktrittsangebot blieb bis zum Schluss einfach unbeantwortet.

Der Spagat

Papst Franziskus ist am einem Spagat gescheitert, den er vielleicht noch nicht einmal als einen solchen wahrgenommen hat: den Spagat zwischen dem konkreten Leben der Menschen und der kirchlichen Lehre. Franziskus begriff, dass die Kirche menschlicher werden muss und sich den Menschen nähern muss. Was er nicht begriff, war, dass diese kirchliche Distanz zu den Menschen nicht nur mit den kirchlichen Amtsträgern, sondern auch mit der kirchlichen Lehre zu tun hat – die übrigens auch die Amtsträger so prägt, wie sie sind.

Franziskus scheint diesen Widerspruch nicht wahrgenommen zu haben. Sonst hätte er nicht einerseits Homosexuelle nicht verurteilen, sie aber dennoch als Sünder oder „Kranke“ bezeichnen können. Er hätte sich sonst nicht über die defizitäre Rolle der Frau in der Kirche beklagen, aber gleichzeitig darauf hinweisen können, dass der Frau aufgrund ihrer weiblichen Natur eine untergeordnete, „empfangende“ Rolle zukommt. Er hätte sich nicht über den Klerikalismus beklagen, aber gleichzeitig dem Teufel die Schuld dafür geben können, dass viele Geistliche auf den Pfad der Sünde geraten.

Liebe und Haß

Franziskus wurde geliebt und gehasst. Er wurde von denen geliebt, die auf Reformen und Veränderungen in der Kirche hofften. Viele von ihnen sind im Laufe der Jahre enttäuscht worden.

Kardinal Raymond Burke: Rücktrittsforderung gegenüber dem Papst wegen „schwerer Verfehlungen gegen die kirchliche Lehre“, Bild: wikimedia.

Daneben schlug dem Papst aber auch ein Hass entgegen, wie er seit Jahrhunderten bei einem Papst unbekannt ist. Dieser Hass kam von konservativen Katholiken, die den Papst aufgrund seiner Öffnungen und Anstöße in einem Ausmaß gehasst haben, wie kein progressiver Katholik dies bei den konservativen Vorgängern je getan hat. Zumindest sind von ihnen keine Gebete um einen schnellen Tod des Papstes bekannt geworden. Bei den Konservativen über Franziskus schon.

Immer wieder tauchten in römischen Tageszeitungen mehr oder weniger anonymisierte Interviews von Prälaten und Bischöfen der Kurie auf, die nur so von Hass und Verachtung für diesen Papst trieften.

Papst Franziskus hatte keine leichte Amtszeit, hat sie sich selbst auch nicht leichter gemacht, weil viele seiner Bemühungen stecken blieben und er es seinen potentiellen Verteidigern und Unterstützern nicht immer leicht machte, wenn er vom Teufel sprach, Homosexuelle als Kranke bezeichnete oder sich weigerte, Russland als Aggressor in der Ukraine zu benennen und die Ukraine zur Kapitulation bewegen wollte.

Die Politik

Zur Zeit findet in vielen Ländern auf diesem Globus eine Auseinandersetzung darüber statt, wie die Menschen leben wollen: die Demokratien geraten unter großen Druck von autoritären Politikern, denen Menschenrechte, Rechtsstaat und Demokratie überflüssige Spielzeuge von Schwächlingen sind.

Auch die katholische Kirche spielt in dieser Auseinandersetzung eine große Rolle. In vielen Ländern – vor allem in den USA, aber nicht nur dort (man denke den deutschen Kardinal Müller)– unterstützt sie autoritäre Politiker mit dem Hinweis darauf, dass es um christliche Werte gehen würde (Abtreibung, Homosexualität …), die nicht in Gefahr geraten dürften.

Und selbst Franziskus hat sich bei der Wahl zwischen Trump und Biden bzw. Harris nicht festgelegt: beide seien gegen das Leben, der eine gegen Migranten, die andere gegen Ungeborene. Die Menschen sollten das kleinere Übel wählen, wer von beiden das sei, ließ Franziskus offen.

Es wird spannend und für die westlichen Gesellschaften sehr bedeutend sein wie der neue Papst sich hier verhält. Hier hat Franziskus an entscheidenden Stellen die gewünschte Deutlichkeit vermissen lassen.

Was wird bleiben von diesem Papst?

Konkrete Reformen hat er kaum durchgeführt, strukturelle Veränderungen blieben in den Anfängen stecken. Insofern ist die Gefahr durchaus konkret, dass sehr wenig bleiben wird, wenn sein Nachfolger andere Wege beschreiten will.

Das größte Vermächtnis von Papst Franziskus – und hieran wird sich entscheiden, was von diesem Mann bleiben wird – ist ein neuer Geist, der die Kirche erfasst hat. Er hat zwar wenig bis nichts entschieden, aber er hat sprechen und denken lassen. Er hat Räume geöffnet, in denen die Menschen frei ihre Meinung sagen konnten, ohne Angst zu haben zu müssen, gemaßregelt oder ihres Amtes enthoben zu werden.

Die spannende Frage wird sein, ob dieser neue Geist der Kirche bei den nächsten Päpsten Bestand haben wird. Ob sie diesen Geist der Veränderung und der Öffnung wieder einfangen können, wenn sie es wollen. Ob die alten, bis dahin gebräuchlichen Lehrverbote und Amtsenthebungen noch einmal ihre abschreckende Wirkung entfalten können.

Das ist schwer zu sagen und wird sehr stark davon abhängen, wer Nachfolger dieses Papstes werden wird. Wie auch immer jedoch der neue Papst die Kirche regieren wird – er wird sich mit diesem Geist der Veränderung und der Öffnung auseinandersetzen müssen und alleine das ist bereits ein großer Gewinn.

Abgesehen von seinen inhaltlichen, theologischen und politischen Positionen, war Franziskus oft erratisch, spontan und auch bei schlechter Informationslage sehr auskunftsfreudig. Unabhängig von seinen durchaus deutlich vorhandenen Schwächen hatte er jedoch eine ganz große Stärke: Menschlichkeit. Er hat mit in seiner Zeit als Papst deutlich gemacht, dass es auch der Kirche letztlich um die Menschen gehen muss. Die Regeln, die Lehre: all das führt kein eigenes Dasein, sondern ist auf den Menschen hin zu lesen. Alleine dafür muss man diesem Mann dankbar sein.