Er war einer der ganz Großen der deutschen Philosophie des 20. Jahrhunderts und erreichte ein derart biblisches Alter, dass er schon zu einem Denkmal seiner selbst geworden war:

Vor 20 Jahren, am 13. März 2002, verstarb der Philosoph Hans-Georg Gadamer im Alter von 102 Jahren in Heidelberg.

Gadamer ist einer der Philosophen (neben Augustinus und Derrida), von denen ich sagen kann, dass sie nicht nur irgendwie interessant für mich waren, sondern dass sie mein Denken und meine Art, selbst Philosophie zu betreiben, entscheidend geprägt haben.



Hans-Georg Gadamer (1900-2002), Quelle: www.wikipedia.org

Als Gadamer starb, konnte man das im Internet lesen. Als er am 11. Februar 1900 in Marburg geboren wurde, regierte Kaiser Wilhelm II. das Deutsche Reich.

Für den jungen Doktor der Philosophie entscheidend waren die Begegnungen mit Edmund Husserl und vor allem mit Martin Heidegger, bei dem er 1929 habilitiert wurde.

Es folgten Lehrtätigkeiten an verschiedenen Universitäten. In der Zeit des Nationalsozialismus hielt Gadamer sich politisch bedeckt – aus heutiger Sicht hätte man sich bestimmt mehr Engagement gegen die Nazis gewünscht, aber das ist aus heutiger Sicht eben auch leicht zu sagen. Er hielt sich bedeckt und konnte so weiter an der Universität tätig sein. Nicht mehr und nicht weniger.

1949 übernahm er als Nachfolger von Karl Jaspers den Lehrstuhl in Heidelberg, den er bis zu seiner Emeritierung innehatte.

 

Hermeneutik

Das große Werk, das ihn zum „Vater der Hermeneutik“ machen sollte, ist „Wahrheit und Methode“, das 1960 erschien. Worum ging es in diesem Werk? Und was ist Hermeneutik?

Die Hermeneutik ist die bereits in der Antike begründete Lehre der Auslegung und Interpretation. Ursprünglich bezog sie sich auf die Auslegung von Texten – und war als solche gerade für die am Bibeltext orientierte Reformation wichtig. Ab dem 19. Jahrhundert beginnt sich das Verständnis von Hermeneutik entscheidend zu erweitern: es geht nicht nur um die Auslegung von Texten, sondern um das Auslegen selbst: wie verstehen wir?

Gadamer ist nun derjenige, der diese Hermeneutik zur Grundlage der gesamten Philosophie machen will. Was ist sein Grundimpuls, sein Antrieb dabei?

 

Der Philosoph Jean Grondin traf Gadamer 1988 in Heidelberg und fragte ihn, worin seiner Meinung nach der universale Aspekt der Hermeneutik bestehen würde.

Gadamer habe kurz nachgedacht und dann geantwortet: Im „verbum interius“. Im inneren Wort. In dem, was ich denke. Und was immer unaussprechbar sein wird. Im Unterschied zwischen Denken und Sprechen. Dies, so Gadamer, habe er bei Augustinus gelernt und sei für ihn die universale Erfahrung, die seiner Hermeneutik zugrunde liegt.

 

Was heißt das?

Zwischen dem, was ich denke, und dem, was ich ausspreche, gibt es einen Unterschied. Den wird es immer geben. Um diesen Unterschied zu wissen, lässt einen anders ansetzen, wenn es darum geht, zu verstehen, was der Mensch ist.

Zentrales Werkzeug, den Menschen zu verstehen, sind damit seine Äußerungen: die Sprache, die Kunst, die Geschichte, die Gesellschaft. Sie alle stehen hinter dem zurück, was der Mensch ist oder was er denkt, aber sie sind die einzig möglichen Hilfsmittel, „zu verstehen“.



Damit ist der Hermeneutik ein „indirekter“ Grundzug zu eigen: eine Äußerung ist immer in einem Kontext zu sehen, persönlich, zeitlich, kulturell. Eine Äußerung ist immer eine Antwort, die ich erst verstehe, wenn ich die Frage sehe, also das, warum es sie gibt.

Jede Äußerung immer als Konsequenz von etwas Anderem zu begreifen, setzt voraus, sich intensiv mit diesem „Anderen“ zu beschäftigen: dem kulturellen, sozialen, historischen oder sprachlichen Horizont.

Zugleich muss bei diesem Verstehen auch der eigene Horizont berücksichtigt werden: die eigene sprachliche und kulturelle Abhängigkeit, die eigenen Einstellungen, die wir immer mitbringen.

Diese Abhängigkeiten – die eigenen, aber auch die von dem, was man verstehen will –, sind keine Einschränkung unseres Verstehens und können auch nicht völlig überwunden werden: sie sind keine Einschränkung, sondern sie sind Bedingung dafür, dass wir verstehen.

 

 

Was ist Wissenschaft?

Gadamers Werk entstand vor dem Hintergrund einer großen Debatte, die bis heute nicht vorbei ist: was ist eigentlich Wissenschaft? Ist Wissenschaft nur das, was empirisch belegbar und logisch beweisbar ist?

In diesem Verständnis arbeiten die Naturwissenschaften. Was ist mit den Geisteswissenschaften?

Gadamer weist mit seiner Hermeneutik darauf hin, dass dieser naturwissenschaftliche Zugang nicht in der Lage ist, den Menschen zu erklären, da dessen Grundlage und dessen Leben nicht methodisch greifbar sind.

Die Geisteswissenschaften, so Gadamer, setzen in der humanistischen Bildung an: die Kultur, die Musik, die Sprache, die Geschichte usw. sind Äußerungen des Menschen, durch die er als Mensch wissenschaftlich greifbar wird.

Die wissenschaftliche Methodik bezieht sich also nicht auf den Menschen selbst, sondern erst einmal auf das, was er tut, was seine Vorfahren getan haben, wie er fühlt, woran er sich orientiert: „Das alles sind Erfahrungen, in denen sich Wahrheit kundtut, die nicht mit den methodischen Mitteln der Wissenschaft verifiziert werden“, so Gadamer in der Einleitung zu „Wahrheit und Methode“.

Die nicht methodisch verifiziert werden, aber trotzdem da sind. Und trotzdem notwendig sind, um den Menschen erklären zu können.

Und das ist die Aufgabe der Geisteswissenschaft, so Gadamer


Was ist Vernunft?

Klassischerweise werden Vernunft oder Rationalität als etwas verstanden, was irgendwie über dem Menschen schwebt. Objektive Prinzipien, die unabhängig von uns Menschen existieren und die wir ergründen sollen.

Die Europäische Aufklärung lebte von genau diesem Impetus.

Gadamer steht dem sehr kritisch gegenüber und nennt dieses Ansinnen „naiv“. Denken und Verstehen sind immer zeitgebunden. Diese Objektivität der Aufklärung, so Gadamer, ist gar nicht erreichbar.

Vernunft ist damit etwas, das nicht über den Menschen schwebt, sondern das zwischen den Menschen passiert: sie entwickelt sich im Gespräch und im Leben der Menschen untereinander.

Und je besser die einzelnen Menschen als Teilnehmer dieses immerwährenden Gesprächs um ihre eigenen Denkstrukturen wissen, um ihre Abhängigkeit von Traditionen, Geschmäckern usw., desto besser wird dieses Gespräch – für einen selbst und für die ganze Gesellschaft.

 

Wenn Gadamer die Vernunft und die sich aus der Vernunft ergebenden Werte als nicht zeitunabhängig und objektiv ansieht, dann führt dies nicht in einen beliebigen Relativismus. In dem Gespräch der Gesellschaft ergeben sich Werte, die gültig sind. Sie sind insofern objektiv, als dass der einzelne sie zu akzeptieren hat. Sie sind insofern nicht objektiv, als dass sie immer zu hinterfragen sind und sich weiterentwickeln.

 

Fazit

Hans-Georg Gadamer lebte über ein Jahrhundert lang und aus dem, was er schrieb und dachte, spricht große Erfahrung – nicht nur die seiner eigenen Geschichte, sondern die der ganzen Philosophie. Wie nur wenige andere lebte und dachte er aus einer jahrtausendealten Tradition der Philosophiegeschichte – ein langes Gespräch, dem er seine Worte hinzufügte.

Gadamer lehrt, dass es für unser Selbstverständnis und für unsere Gesellschaften wichtig ist, in unsere Ursprünge blicken zu können: warum wir so sind, wie wir sind. Dieser Umgang mit der Geschichte und der Kultur ist deshalb nicht konservativ, weil er eben unser Leben und das unserer Gesellschaften als eine Entwicklung beschreibt, die nie abgeschlossen ist.

Dieser Umgang lehrt Demut, vor anderen Zeiten, vor anderen Kulturen, vor anderen Denkhaltungen. Sie lehrt, dass es nichts Absolutes gibt, das sich gegen die Menschen richten darf: keine Religion, keine Rasse, keine Nation, keine Klasse, kein Fundamentalismus irgendwelcher Art.

Das Leben eines Menschen und einer funktionierenden Gesellschaft darf nicht nur aus Antworten bestehen, sondern vor allem aus Fragen, aus dem gemeinsamen Fragen, aus dem gemeinsamen Ringen darüber, was Vernunft ist, wer wir sind, welche moralischen Werte gültig sind und welche nicht.

An dieser Gesprächsfähigkeit lässt sich messen, wie gut das Leben in einer Gesellschaft funktioniert, und diese Gesprächsfähigkeit herzustellen, ist die höchste Aufgabe der Philosophie:

„Rhetorik als philosophische Methode: Wir müssen endlich wieder lernen, wie man ein richtiges Gespräch führt. Das ist eine sehr verantwortungsvolle Aufgabe für die Philosophie.”

 

Literaturempfehlungen:

Hans-Georg Gadamer: Wahrheit und Methode.

Jean Grondin: Hans-Georg Gadamer. Eine Biographie.

Matthias Jung: Hermeneutik zur Einführung.