Dinge, die die Welt nicht braucht.
Zu diesen Dingen gehören auch meine größeren akademischen Arbeiten:
Ich habe promoviert über Augustinus, darüber, wie er die platonische Ideenlehre und die paulinische Gnadenlehre fortgeführt hat. Aha.
Dann habe ich noch promoviert über ein paar Philosophen aus dem 3. Jahrhundert und ihre „Seinssysteme“.
Dann habe ich habilitiert mit einer Arbeit über die Abhängigkeit der Philosophie von ihrer Sprachlichkeit.
Das sind Themen, die die Welt nicht braucht. Zumindest ist mir nicht bekannt, dass sich durch das Lesen dieser Arbeiten irgendetwas in der Welt geändert hätte.
Was haben diese Arbeiten mit dem Menschen von heute, der Gesellschaft von heute oder dem Arbeitsleben von heute oder mit dem Thema „Digitalisierung“ zu tun? Inwiefern machen sie mich kompetent, mich überhaupt in diesen Themen zu äußern?
Szenenwechsel.
Landtagswahlkampf hier in Dortmund. Ein Politiker hält eine flammende Rede über Bildung und Digitalisierung, fordert vehement, die digitalen und technischen Kompetenzen bereits in der Schule zu stärken: „Wir brauchen doch heute kein Latein mehr!“
Das ist die Frage.
Sind die Zeiten vorbei? Welche Kompetenzen braucht es in der digitalisierten Zukunft? Was soll die Bildung der Zukunft vermitteln?
Digitalisierung
Die Digitalisierung wird das Leben der Zukunft in wesentlichen Zügen bestimmen. Die Frage ist nicht, ob, sondern wann und wie. Und dieses „Wann“ hat bereits begonnen.
Digitalisierung bedeutet: Automatisierung und Technisierung weiter Teile unseres Lebens.
Dies erfordert sicherlich Kenntnisse der technischen Gegebenheiten. Aber: die Technisierung unseres Lebens – des individuellen wie des gesellschaftlichen – ist nicht nur ein technisches Thema, sondern erst einmal und vorrangig das Thema, was da eigentlich mit dem Menschen passiert.
Das Verhältnis Mensch – Technik betrifft nicht nur die Technik, sondern auch den Menschen, der mit ihr umgehen muss.
Diesen sinnvollen Umgang müssen Menschen auch lernen.
Humanismus
Hieraus ergibt sich durchaus eine Umorientierung der bisherigen Bildungspolitik. Die von der OECD initiierten PISA-Studien untersuchen folgende Themen: die Lesekompetenz, die mathematische Kompetenz und die naturwissenschaftliche Grundbildung.
Was fehlt? Die klassischen Geisteswissenschaften. Die spielen keine Rolle. Sind „Gelaber“. Und entsprechend in der zweiten Reihe, da sie nicht relevant dafür sind, ob das Schulsystem als gut oder schlecht angesehen wird.
Was machen die Geisteswissenschaften überhaupt?
Diese Fächer, Deutsch, Geschichte, Philosophie usw. machen deutlich, was der Mensch ist. Sie erzählen …
– von der Vergangenheit und Gegenwart der verschiedenen Gesellschaften,
– davon, wie Gesellschaften funktionieren,
– wie der Mensch sich verhält,
– wie er Ideen entwickelt, wie sie sich verbreiten und die Welt verändern,
– wie sich Werte und Verhaltensformen verändern und entwickelt haben,
– wann und warum Gesellschaften aufblühten oder untergingen
– wie unsere moderne Gesellschaft entstanden ist und was eigentlich der moderne Mensch ist.
All diese Dinge verraten uns, was der Mensch ist. Was eine Gesellschaft ist. Wie sie funktioniert und wie sie nicht funktioniert.
Dass dieses Wissen nicht selbstverständlich ist und was das Fehlen solcher Kenntnisse bedeutet, zeigen die aktuellen Wahlergebnisse in vielen Ländern. Das Aufkommen von Populismus und einfachen Wahrheiten hat auch damit zu tun, dass die komplizierte Realität unserer Gesellschaften und unserer Geschichte nicht mehr verstanden wird.
Philosophie
Warum habe ich mich mit Leuten wie Augustinus oder Platon beschäftigt, die lange tot sind? Oder mit Kants komplizierten und zähen Gedankengängen? Oder mit Heideggers furchtbarer Wortakrobatik?
Weil diese Leute unglaublich viel darüber verraten, was wir Menschen sind, wie wir Menschen denken und der Frage nachgehen, welchen Sinn wir als Menschen haben.
Diese Fragen werden unsere Zukunft entscheiden. Nicht nur in der Digitalisierung und in der Arbeit 4.0. Aber auch.
Warum dafür mit der Vergangenheit oder mit dem Denken anderer Menschen beschäftigen?
Weil es Expertise braucht. Auch über den Menschen.
Was macht jemand, der den Wunsch hat, zum Beispiel ein Auto zu bauen? Er erfindet nicht alles neu, sondern schaut erst mal, wie das geht: was die anderen vor ihm gemacht haben, was gut und was schlecht beim Bau eines Autos funktioniert. Dann fängt er selbst an zu bauen und weiterzuentwickeln.
In der Philosophie ist es ganz ähnlich. Natürlich ist es nötig und sinnvoll, selbst zu denken. Aber es braucht auch eine Expertise. Die wird erworben, indem auf das geschaut wird, was andere Menschen gelebt, geschaffen und gedacht haben. Dann kann auf anderem Niveau über den Menschen gedacht werden.
Bildung der Zukunft
Die Bildung der Zukunft soll den Menschen helfen, angesichts der Digitalisierung zu wissen, was der Mensch ist und was man als Mensch sein soll. Diese Bildung soll den Menschen helfen, nicht nur zu wissen, wie man Technik braucht, sondern vor allem zu wissen, wie man gut und verantwortungsvoll mit ihr umgeht.
Wir brauchen auch die Ingenieure. Aber wir brauchen vor allem aufgeklärte Bürger – gerade angesichts der Digitalisierung.
Die Bildung der Zukunft wird also – neben den notwendigen technischen Fähigkeiten – bemüht sein müssen, die Grundwerte des klassischen Humanismus zu vermitteln.
Wie sich also auf die digitalisierte Zukunft vorbereiten?
- Ins Theater gehen.
- Klassische Musik hören.
- Ins Museum gehen.
- Bücher lesen.
- Die Kinder Latein und Griechisch lernen lassen.
Dies klingt in vielen Ohren pervers, hilft aber, den Menschen zu erklären, und zwar in den Dingen, in denen er Kultur geschaffen hat. Das sind keine bildungsbürgerlich angestaubten Kulturgüter, sondern das, was der Mensch im Austausch mit der Welt und mit anderen Menschen getan hat und sich ständig weiterentwickelt.
Was der Mensch der digitalisierten Zukunft braucht, ist sicherlich reichliches technisches Wissen. Aber vor allem Wissen über sich selbst – über seine Vergangenheit und über seine Gegenwart. Weil er nur so seine Zukunft gestalten kann.
“Unsere Zukunft ist ein Wettlauf zwischen der wachsenden Macht unserer Technologien und der Weisheit, mit der wir davon Gebrauch machen. Wir sollten sicherstellen, dass die Weisheit gewinnt.” (Stephen Hawking)
Ein wirklich gelungener Artikel bei dem es Freude bereitet, ihn zu lesen. Ich wünschte, es würden mehr Menschen so denken.
Weiter so!
Aus diesen Gründen glaube ich, dass das Caritas -jahresthema 2019 nicht „sozial braucht digital“ lauten sollte sonder umgekehrt „digital braucht sozial“ und vllt braucht es auch noch etwas mehr.
Michael Rasche, vielen Dank für den Artikel. Ich vermute Wilhelm Geerlings hätte er auch gefallen.
Gruß aus Aachen
Friedhelm Siepmann
Vielen Dank für diesen Artikel. Es sollten ihn möglichst viele Menschen lesen….
Vielen Dank! Ich zitiere Goethe: “Wer nicht von dreitausend Jahren sich weiß, Rechenschaft zu geben, bleib’ im Dunkeln unerfahren, mag von Tag zu Tage leben.” Das bezieht sich ja nicht nur auf die Geschichte, die uns die Entwicklung hin zu der Zeit und den Umständen, in und unter denen wir leben, aufzeigt, sondern eben auch die Geistes- und Kulturgeschichte, die uns nicht nur die Quellen unserer Kultur nahebringt, sondern uns in der Auseinandersetzung damit auch ermöglicht, dass wir lernen, uns mit anderen Kulturen und Positionen zu befassen, von ihnen zu lernen und unsere eigene Position bewusst zu machen und argumentativ zu begründen. Fähigkeiten, die der mündige Bürger und selbst denkende und handelnde Mensch auch in der digitalisierten Welt benötigt und in immer neuen Situationen anwenden muss. Insofern sind die Geisteswissenschaften und die mit ihnen verwandten Schulfächer jenseits jeder direkten “Vernutzbarkeit” immer noch wichtig oder sogar heute umso wichtiger.
Ich kann Ihre Aussagen nur unterschreiben und allen Pädagogen und Bildungspolitikern ins Stammbuch schreiben. Wir haben heute immer mehr Menschen, die ein hohes technisches Anwenderwissen haben, denen aber die ethischen Leitplanken fehlen, um dieses Wissen einzuordnen und so anzuwenden, dass es für Menschen zum Gewinn wird. Bildung ist eben mehr als Ökonomie. Bildung ist das Bewusstsein dafür, wofür ich lebe und wofür ich welches Wissen anwenden und bestimmte Erkenntnisse relativieren kann.