Am Morgen des letzten Tages des Jahres 2022, am 31.12. um 9:43 Uhr, verstarb der emeritierte Papst Benedikt XVI. in Rom. Gestern wurde er beerdigt. Mit ihm verstarb eine der bedeutendsten Persönlichkeiten der letzten Jahrzehnte, die seit über 40 Jahren den Kurs der katholischen Kirche entscheidend geprägt hat.
Die Urteile über diesen Mann fallen weit auseinander: neben großer Bewunderung für sein Lebenswerk und der Forderung nach sofortiger Heiligsprechung gibt es auch viele Stimmen, die seinen Konservativismus, aber auch seine Rolle in der Missbrauchsthematik anprangern.
Der Lehrer
Ich selbst habe Ratzinger hin und wieder bei größeren, aber auch kleineren Veranstaltungen erlebt – vor allem während meiner Zeit in Rom in den 90er Jahren. Ich habe ihn jedes Mal als einen sehr freundlichen, gebildeten Herrn erlebt, der gestochen präzise formulieren konnte, aber in sehr eigenwilligen Art schüchtern und zurückhaltend war.
Man durfte sich bei Ratzinger jedoch nie von seiner bescheidenen Tonart blenden lassen, von seiner leisen Stimme. Wie er es sagte, war bescheiden und leise. Was er jedoch sagte, war nicht bescheiden, sondern sehr selbstbewusst.
Wenn er öffentlich sprach, dann hatte man eigentlich nie das Gefühl, einen Bischof oder später einen Papst vor sich zu haben, sondern vielmehr einen Professor. Das hatte jedoch nicht nur etwas mit seinem Sprechstil zu tun, sondern auch mit seinem Inhalt. Er war kein typischer Prediger, wie es sonst Pfarrer, Bischöfe oder auch Päpste sind. Prediger – die guten zumindest – versuchen, sich in ihre Zuhörer hineinzuversetzen und sie zu einem bestimmten Handeln zu motivieren.
Das war Ratzinger fremd. Er wollte nicht werben, er wollte einen Sachverhalt klarstellen. Er wollte die Zuhörer nicht motivieren, er wollte ihnen ein Wissen mitteilen.
Alleine diese rhetorische Haltung verrät unglaublich viel über Joseph Ratzinger, über seinen Charakter und über sein Verständnis von Kirche und kirchlichem Amt.
Es ging um das Belehren. Das ist erst einmal nicht negativ. Wenn man eine bestimmte Botschaft oder ein bestimmtes Wissen jemand anderem mitteilt, dann belehrt man ihn, und dann ist das gut. Das Problem beginnt allerdings dann, wenn dieses Belehren zur ausschließlichen und alleinigen Art wird, sich zu äußern.
Das war bei Ratzinger der Fall und das war auch in der von ihm geleiteten Kirche der Fall. Es ging nie um das Lernen, sondern nur um das Lehren. Die Wahrheit musste nicht gesucht oder neu entdeckt werden, man besaß sie.
Unfehlbare Wahrheit
Die Kirche besitzt die Wahrheit. Sie ist unfehlbar. Ratzinger hat diese Lehre nicht nur verteidigt, sondern federführend unter seinem Vorgänger Johannes Paul II. in den Schriften „Ordinatio sacerdotalis“ (1994) und „Ad tuendam fidem“ (1998) sogar verschärft.
Wenn die Kirche in einem derartigen Ausmaß unfehlbar, und damit auch rein und sündenfrei ist, ergeben sich sehr bedeutungsschwere Konsequenzen, an denen die Kirche zur Zeit zu leiden hat. Erst einmal wird ein Gegensatz zur „normalen“ Welt vertieft. Dies ist für eine Religion erst einmal legitim, weil jede Religion in ihrem Verweis auf Gott auf etwas verweisen muss, das über diese Welt hinausgeht. Wenn ich aber von einer Unfehlbarkeit und Sündenlosigkeit der Kirche und der kirchlichen Lehre ausgehe, dann wird automatisch alles, was dem nicht entspricht, zur Sünde oder zu einem Ort der Gottesferne.
Ratzinger sah einen klaren Gegensatz zwischen Kirche und Welt. Für die Kirche forderte er immer wieder „Entweltlichung“, der Welt warf er immer wieder eine “todbringende” Diktatur des Relativismus vor. Es gibt im gesamten Werk Ratzingers nicht eine einzige Stelle, wo er der Welt oder der weltlichen Vernunft gegenüber der Kirche etwas Positives zuspricht. Vernunft bedeutet für Ratzinger eine rein binnenkirchliche Logik.
Die Kirche muss in ihrer Reinheit gegenüber der Welt verteidigt werden und dieser Verteidigung hatte Ratzinger sein Leben verschrieben.
Nun ist es so, dass diese eindeutige Trennung weder theologisch noch faktisch haltbar ist. Weder ist die Kirche rein göttlich, noch ist die Welt widergöttlich. Die Bibel selbst wie auch die gesamte Geschichte der Kirche belegen das zutiefst Menschliche, ohne das eine Religion gar nicht existieren kann. Die Welt ist nicht der Gegensatz der Kirche, sie ist der Ort, an dem die Kirche lebt und ihre Wahrheit belegen muss.
Moderne, Aufklärung und Individualität bedeuteten für Ratzinger nichts anderes als Anarchie, als Relativierung und Vernebelung der unumstößlichen Wahrheit der Kirche. Dabei übersah Ratzinger völlig, dass die größere Gefahr nicht dann vorliegt, wenn viele Individuen kritisch auf eine Wahrheit blicken, sondern wenn Menschen aus einer einzigen Wahrheit heraus auf die Individuen blicken.
Die Folgen der Theologie
Es geht bei Ratzinger nicht nur um die Theologie und die Lehre. Ratzinger war 40 Jahre hindurch an den Schaltstellen der kirchlichen Macht. Was man denkt hat auch Auswirkungen auf das, was man tut. Ratzingers Bild von Kirche steht nicht nur in seinen Büchern, sondern sein Bild von Kirche hat die Kirche geformt.
Zu dieser Kirche gehören auch Verfehlungen. Eine unfehlbare Kirche ist jedoch völlig unfähig, ihre eigenen Verfehlungen anzuerkennen.
Die schlimmste Verfehlung der letzten Jahrzehnte war der sexuelle Missbrauch von Minderjährigen in vielen Hunderttausend Fällen weltweit, wahrscheinlich liegt die Opferzahl im Millionenbereich.
Nach Missbrauchsfällen wurden Priester in andere Regionen versetzt, teilweise mit gefälschten Identitäten in Übersee versteckt, Bischöfe wurden öffentlich gelobt, nicht mit staatlichen Stellen zu kooperieren, Opfer wurden entweder gar nicht gehört oder mit Geldzahlungen zum Schweigen gebracht.
All diese Dinge passierten nicht als Einzelfälle, sondern systematisch und weltweit. Jahrzehntelang. Mit Ratzinger an der Spitze dieses Systems.
Interessant ist, wie Ratzinger diese Fälle beschreibt. In seiner schriftlichen Reaktion auf das Münchener Missbrauchsgutachten (vgl. den Blog dazu) sprach er davon, dass ein Priester, der sich sexuell an Minderjährigen vergangen hatte, im Moment des Missbrauchs ja nicht als Priester, sondern als Privatperson agiert habe.
Nie wurde die verheerende Wirkung seines Kirchenbildes deutlicher. Um jeden Preis, auch um den Preis des Lebens vieler Menschen, die teilweise lebenslang unter dem Missbrauch leiden oder deshalb sogar ihrem Leben ein Ende setzten, wird an der Reinheit und Unfehlbarkeit der Kirche festgehalten.
Die Verteidiger Ratzingers, die seine schöne Theologie loben, vergessen die Konsequenzen dieser schönen Theologie. Man muss es so brutal sagen: die Missbrauchsfälle sind eine Konsequenz eines Kirchenbildes, das Ratzinger nicht erfunden, aber verschärft und mit Zähnen und Klauen verteidigt hat. Das theologische Bild der Kirche ist nicht nur eine Frage der Bücher, sie ist vor allem die Frage des konkreten Lebens der Kirche.
Wenn ich von einer unfehlbaren und reinen Kirche spreche (und sie so gegenüber der Welt definiere), dann hat das Konsequenzen für das konkrete Leben der Kirche.
Die Missbrauchsfälle sind eine logische Konsequenz dieses Kirchenbildes, das zur Folge hat,
– dass Amtsträger überhöht werden und einen zu großen Vertrauensvorschuss bekommen, der ihnen erst die Möglichkeit zum Missbrauch gibt,
– dass Amtsträger geschützt und versteckt wurden und jahrzehntelang ihren Missbrauch fortsetzen konnten,
– dass Opfer nur als Gefahr für die Reinheit der Kirche gesehen wurden und ihr Leid nicht anerkennt wurde.
Diese Faktoren waren und sind es, die aus Einzelfällen eine flächendeckende Angelegenheit der gesamten Kirche machen. Mit Ratzinger an der Spitze, der aufgrund seines Kirchenbildes bis zum Schluss nicht verstehen konnte, dass diese Problematik eine Problematik der Kirche selbst ist und keine Einzelfälle.
Es ist mittlerweise erwiesen,dass Ratzinger wider besseren Wissens lange Jahre nichts unternommen hat und selbst in späteren Jahren – als er von vielen als harter Aufklärer gefeiert wurde – maximal das Nötigste unternahm, um das größte Unheil einzudämpfen. Ein Marcial Maciel, der zu den schlimmsten und dreistesten Tätern gehörte, wurde zur Strafe gebeten, ein “zurückgezogenes Leben in Buße und Gebet” zu führen. Was Maciel übrigens nicht einen Tag tat.
Theologen, die Zweifel an der Jungfräulichkeit Marias hatten, wurden schneller und härter bestraft. In solchen Fällen musste kein Zeuge 20 Jahre warten, bis er gehört wurde.
Die Schattenseite des Schönen
Ratzinger hatte seit seiner Kindheit ein ausgesprochen romantisches und verklärtes Bild von der Kirche, auf dass er sich immer wieder berief: es war eine zutiefst einfache Kirche, der man mit einem gerade kindlichen Glauben anhängen muss. Ratzinger bezog sich immer wieder auf den Glauben seiner Kindheit und ermahnte die Priester und Bischöfe immer wieder, die einfachen Gläubigen vor der komplizierten Welt zu schützen.
Dieser kindliche Glaube, auch versehen mit einem romantisierenden Kirchenbild, eine große persönliche Bescheidenheit, ein sehr ästhetischer, geschliffener und klarer theologischer Stil haben Ratzinger eine große Anziehungskraft verliehen.
Ratzinger hat in wirklich guter und starker Weise die Schönheit des christlichen Glaubens beschreiben können. In dieser Schönheit muss jedoch immer auch Beschönigung sein. Und auch diese Seite gehört zu Ratzinger.
Seine Theologie war nicht nur schön, sie beschönigte auch etwas, das nicht nur schön sein konnte.
Ratzingers Theologie hatte harte Konsequenzen, indem sie jahrzehntelang Schwerstverbrecher schützte und ihre Opfer diffamierte. Unzählige Leben wurden ruiniert oder sogar suizidal beendet. Ratzinger wollte dies alles natürlich nicht, er war entsetzt über diese Dinge, von denen er seit Beginn der 80er Jahre Kenntnis hatte, aber er nahm all dies für seine Kirche in Kauf und spätestens das hat seine Theologie letztlich nutzlos und gefährlich gemacht.
Welchen Wert hat eine schöne Theologie, wenn sie reale Opfer erzeugt? Wenn sie Leben ruiniert? Wenn sie Menschen in den Selbstmord zwingt?
Ich selbst habe erst dann begriffen, was sexueller Missbrauch ist, als ich in den 2000er Jahren erstmals auf Opfer traf. Diesen Schritt zu machen, auf die Opfer zuzugehen und sie zu verstehen, kam Ratzinger jahrzehntelang nicht in den Sinn und selbst seine Äußerungen kurz vor seinem Tod in Bezug auf das Münchener Missbrauchsgutachten (“Es ist kein Missbrauch, wenn ein Priester nackt vor Minderjährigen masturbiert und Pornos zeigt, weil die Minderjährigen nicht direkt berührt werden”) haben gezeigt, dass er das Thema Missbrauch nur verarbeiten konnte als Angriff auf die Kirche, aber nicht als das, was es ist: ein Angriff auf die Unversehrtheit von Menschen, die darunter ein Leben lang leiden müssen. Wenn sie denn weiter leben wollen.
Was wird bleiben?
Joseph Ratzinger bzw. Benedikt XVI. muss in einem engen Zusammenhang gesehen werden mit seinem Vorgänger, Papst Johannes Paul II. Jener dachte sehr politisch. Er zentralisierte die Kirche immer weiter und konnte so nach außen eine schlagkräftige Einheit herstellen, die im Osten Europas den Kommunismus bekämpfen konnte. Nach innen war diese Einheit jedoch verheerend: alles, was nicht auf der Linie Roms lag, wurde entfernt. Ratzinger trug diese Linie mit – aus anderen Gründen, die weniger politisch, als vielmehr theologisch waren, aber er trug sie mit und führte sie als Papst fort. Beide Päpste werden vielleicht als die Päpste in Erinnerung bleiben, die durchaus zäh und langlebig, aber letztlich erfolglos ein Kirchenbild wieder stark machen wollten, das wesentlich im 19. Jahrhundert gebaut worden ist und sich überlebt hat.
Die Geschichte geht weiter und sie ist unbarmherzig. Sie wird beide Päpste – Johannes Paul II. und Benedikt XVI. – als Päpste in Erinnerung behalten, die beide für eine Form der Kirche kämpften, die nicht mehr lebensfähig ist und unglaublich viele Opfer hervorgebracht hat.
Diese Opfer sind kein Zufall und keine Nebensache, sondern sind das Ergebnis der Art Kirche, wie sie von diesen beiden Päpsten immer weiter ausgebaut wurde. Diese Überhöhung des kirchlichen Amtes, dieses Ausklammern der Welt und der Menschen, diese ausschließliche theologische und strukturelle Selbstbespiegelung, der Glaube daran, dass die Kirche immer nur Heil, aber nie Unheil schenken kann, diese Angst vor dem Individualismus und der Freiheit, dieser Kampf gegen das, was Aufklärung und Wissenschaft hervorgebracht haben: das musste zu dem führen, was passierte.
Solange die Kirche diesen Zusammenhang nicht begreift, wird sie die Krise immer weiter verschärfen.
Die Frage wird nun sein, wie die Kirche mit dem umgeht, was diese beiden Päpste hinterlassen haben. Entweder markieren sie das Ende einer kirchlichen Epoche oder das Ende der Kirche.
Die Kirche lebt davon, dass man ihr glaubt, wenn sie von Gott erzählt. Wenn sie immer wieder beim Lügen erwischt wird, wo Priester unschuldige Menschen zugrunde richten: wie soll man ihr glauben, wenn sie von Gott erzählt? Das nicht zu sehen und immer weiter zu lügen und zu vertuschen, das ist die Tragik Ratzingers und seiner Kirche.
Danke für diesen umfassenden Bericht, der sachlich und OHNE zu beschönigen ausspricht, was Kirchenmitglieder schon lange anprangern!
Die unzähligen Missbrauchsopfer erdweit, die endlich ihre Stimmen erheben können, werden jetzt hoffentlich gehört und erfahren Gerechtigkeit!
Aber ob der aktuelle Papst das Vertrauen zurückgewinnen kann, bezweifle ich.
Ratzingers Theologie und sein damit verbundenen Kirchen- und Weltbild ist zutiefst von Augustinus geprägt, mit dem er sich in seiner wissenschaftlichen Arbeit sehr intensiv auseinander gesetzt hat. Von daher konnte Ratzinger auch nie einen Zugang zur Befreiungstheologie oder einem sozial geprägten Katholizismus finden, der sich politisch einmischt. In seiner Theologie gibt es deshalb auch keinen Rekurs auf die katholische Soziallehre. Die Welt ist für Ratzinger verderbt durch den Sündenfall und in ihrem infralapsarischen Zustand durch den Menschen, der selbst immer nur Sünder ist, nicht verbesserbar. Von daher kann ich Michael Rasches Darstellung der Theologie Ratzinger nur zustimmen, die von einem tiefen Pessimismus gegenüber der Welt und dem Menschen durchzogen ist.
Sehr geehrter Herr Rasche,
ich finde es bemerkenswert, dass sie Herrn Ratzinger so viele Zeilen widmen und es ist klar ersichtlich, dass er auch Sie in irgendeiner Form und sei es als Person, die eine provozierende Haltung hatte, zum Denken herausfordert. Gleichzeitig finde ich es schade, dass Sie in diesem Denken so sehr ihren eigenen Grundsätzen der Rationalität widersprechen. Denn Ihr Artikel ist weder eine fundierte sachliche Analyse noch eine argumentative Auseinandersetzung mit den Argumenten Ratzingers. So legen Sie zum Beispiel bei Ihrer Kritik einen Kirchenbegriff zugrunde, der Kirche sehr stark mit der sichtbaren Institution und deren Amtsträger gleichsetzt. Legt man diesen Begriff zugrunde müssen natürlich sämtliche Aussagen über die Kirche als weltfremde Hybris wahrgenommen werden; selbstverständlich ist eine so verstandene Kirche weder heilig, unfehlbar, etc. Ratzinger hat jedoch einen anderen Kirchenbegriff. Und es gehört zur Redlichkeit eines Philosophen entweder die eigenen Prämissen transparent zu machen, auf der die eigenen Behauptungen fußen oder an den Prämissen des Gegenübers mit seiner Kritik anzusetzen. Beides vermisse ich in Ihrem Artikel – zumindest auf einer solchen Homepage.
Lieber Herr Brehm,
Ratzinger verfügt in der Tat über ein Kirchenbild, das nicht das meine ist. Es ist in sich sehr konsistent und beschränkt die Kirche nicht auf die sichtbare, institutionelle Kirche. Das Dumme ist nur, dass dieses Kirchenbild von Ratzinger in all seiner Konsistenz und sogar Schönheit eine Schattenseite hat: es funktioniert nicht in der Realität und bringt Opfer hervor. Diese Opfer passen überhaupt nicht in Ratzingers Kirchenbild und sind Betriebsunfälle und Ausnahmen. Welchen Wert hat dieses Kirchenbald, wenn es Opfer hervorbringt? Kann ich über die Kirche sprechen, ohne die Realität der Kirche im Auge zu haben? Für mich ist eben die Realität, die ein Kirchenbild hervorbringt, entscheidend für meine Bewertung des Kirchenbildes. Das mag uns unterscheiden.