Ich liebe Fußball. Ich schaue gerne Fußballspiele im Fernsehen an. Oder große Spiele längst vergangener Zeiten im Internet. Noch lieber gehe ich ins Stadion. Seit Jahrzehnten. Früher zum Gladbacher Bökelberg, heute zum “Kasteel” von Sparta in Rotterdam. Über zwei Meter meiner Bücherregale werden von Fußballbüchern belegt. Ich tue alles, um meine beiden Söhne zu den richtigen Fußballvereinen hin- und von den falschen Fußballvereinen wegzulocken (sie wachsen hier in den Niederlanden auf und werden erst mit 18 erfahren, dass es den FC Bayern gibt).
Man kann also sagen, dass ich mehr als nur irgendwie interessiert bin am Fußball. Nun stehe ich vor einem großen Problem: die Fußball-WM in Katar.
Es ist eindeutig: Katar konnte sich die WM nur durch eine flächendeckende Bestechungskampagne beim Weltfußballverband FIFA sichern, beim Bau der Stadien kamen ca. 15.000 Bauarbeiter ums Leben, die wie Sklaven gehalten wurden, die Menschenrechtssituation in Katar spottet jeder Beschreibung. Das ist alles eindeutig.
Die Frage ist nun: was bedeutet das für die WM? Zuschauen oder nicht?
Der in allen Ethiken beschlagene Philosoph sagt ein klares: Puh, keine Ahnung.
Einerseits ist diese WM von vorne bis hinten ethisch mehr als bedenklich. Gründe für einen persönlichen WM-Boykott sind also mehr als genug vorhanden.
Andererseits: wem hilft ein Boykott? Die WM ist da, die Stadien stehen, die Arbeiter sind tot. Nichts kann sie wieder lebendig machen. War die WM vor vier Jahren in Russland ethisch besser? Oder die Olympischen Spiele vor ein paar Jahren in China? Kann man sich nur noch Sport in Ländern anschauen, die die Menschenrechte respektieren?
Blicken wir kurz auf Katar.
In vielen teils abenteuerlichen Wendungen werben sie für die WM. Vieles davon ist irritierend bis abstoßend. An einem Punkt haben sie allerdings recht und dieser Punkt ist für mich der entscheidende: sie werfen dem Westen Doppelmoral und Heuchlerei vor.
Die Deutschen und die deutschen Politiker distanzieren sich von der WM in Katar und verweisen zu Recht auf die furchtbare Menschenrechtslage in diesem Land. Gleichzeitig tauchen genau die gleichen Politiker im Land auf und knien vor dem Emir von Katar nieder, um die Handelsbeziehungen auszubauen und insbesondere Flüssiggas und Öl zu erwerben.
Katar konnte sich die WM nicht selbst geben, wir anderen haben sie an Katar gegeben. Die FIFA entschied, dass die WM nach Katar gehen soll. Die FIFA besteht seit Jahrzehnten aus einem Haufen korrupter Funktionäre, die wir Europäer aber auch seit Jahrzehnten machen lassen. Könnte dieses System in der FIFA funktionieren, wenn die großen nationalen Verbände nicht mitmachen würden? Hätte es eine WM in Katar gegeben, wenn Deutschland, Frankreich und England gesagt hätten: nein, wir kommen nicht?
Katar ist seit über einem Jahrzehnt finanziell im europäischen Fußball engagiert. Paris St. Germain in Frankeich, der FC Barcelona in Spanien, der AS Rom in Italien und der FC Bayern in Deutschland werden jedes Jahr mit hohen Millionenbeträgen aus Katar finanziert. Die Übertragungsrechte von zahlreichen europäischen Fußballwettbewerben – und damit ein Teil der Fernsehgelder für die großen Vereine – werden über beIN Sports von Katar finanziert.
Katar hat sich mit vielen Milliarden Euro in den europäischen Fußball eingekauft. Und alle europäischen Länder, Fußballverbände und Fußballvereine, bei denen Katar anklopfte, haben die Hand aufgehalten, sich artig bedankt und weisen jetzt darauf hin, dass man das mit den Menschenrechten in Katar nicht übertreiben sollte.
Uli Hoeness vom FC Bayern beschimpft Kritiker, dass man schließlich nicht Amnesty International sei. Dummerweise begründet der Fußball seine besondere gesellschaftliche Stellung eben genau mit den Themen Demokratie, Menschenrechte usw. Weswegen die Verbände und viele Vereine auch gemeinnützig sind (auch der FC Bayern, Grüße an Herrn Hoeness) und trotz Milliardengewinnen steuerliche Vergünstigungen haben. Vor ein paar Jahren nahm der alte FIFA-Präsident Joseph Blatter diese humanitäre Mission des Fußballs zum Anlaß, für sich den Friedensnobelpreis zu proklamieren. Kein Witz.
Das wahre Problem dieser WM ist nicht Katar. Das wahre Problem ist die Doppelmoral von uns Europäern, die Katar nicht nur die WM, sondern seit Jahren einen riesigen Einfluss im Weltsport zubilligen. Wir nehmen das Geld von Katar (das wir ihnen vorher für Öl und Gas gegeben haben) und freuen uns, wenn die großen Vereine Europas noch reicher werden. Wir geben eine WM nach Katar und beschweren uns dann, dass Katar so mit der WM umgeht, wie es jeder erwarten musste. Das ist verlogen. Das ist Doppelmoral. Da hat Katar einmal recht.
Was heißt das für die WM? Anschauen oder nicht?
Ich muss gestehen, dass ich in den letzten Jahren immer weniger Spiele der großen Turniere gesehen habe. Weil Korruption und Kommerzialisierung das im Fußball unterdrücken, was es im Kern ist: ein Spiel. So habe ich schon bei der letzten WM in Russland nur wenige Spiele gesehen und so werde ich es auch jetzt handhaben. Ein prinzipieller Boykott von mir oder irgendeinem anderen Fernsehzuschauer ist in meinen Augen jedoch völlig sinnlos.
Mein persönlicher Tipp: schauen Sie sich die Spiele an, die Sie sich ansehen wollen. Aber geben Sie kein Geld dafür aus. Gehen Sie nirgendwohin, wo sie für WM-Fußball Geld bezahlen müssen. Kaufen Sie kein Trikot der Deutschen Nationalmannschaft oder von Paris St. Germain oder vom FC Bayern oder von Manchester United, sondern geben Sie dieses Geld beim Amateurverein um die Ecke aus, wenn Sie den Fußball lieben.
Ich habe hier in Rotterdam eine Dauerkarte bei Sparta. Dieser Verein spielt zwar in der ersten Liga, wird aber nie etwas mit Katar oder dem Spitzenfußball zu tun haben. Es ist mir egal, weil ich den Fußball liebe und sogar froh darüber bin, dass dieser Verein nicht von Kommerzialisierung und Korruption erstickt wird.
Daher: schauen Sie den Fußball, den Sie sehen wollen. Aber vergessen Sie die kleinen Vereine nicht. Dort wird Fußball gelebt und nicht nur Marketing. Mir ist jeder Fan lieber, der treu zu hoffnungslosen Fällen wie RW Oberhausen oder SW Essen läuft, als sich ein Trikot von Paris oder Manchester zu holen. Weil nur so das Geld in andere Bahnen gelenkt wird. Weil nur so das besiegt werden kann, was uns die WM nach Katar gebracht hat und was den Fußball kaputt macht.
Hallo Michael, vielen Dank für deinen Bock. Ich freue mich, dass ich deine Sichtweise genau so praktiziert habe. Mit unserer syrischen Mieterin habe ich mir Spiele von Saudi Arabien, Tunesien und Marocko angechaut. Das hat mit vielen guten Spielzügen und viel Entusiasmus bei den Spielern Spaß gemacht. Ich wünsche mir, dass ein kleines, nicht im Mittelpunkt der Fußballöffentlichkeit stehendes Land den Weltpokal gewinnt. Japan währe mir ein würdiger Gewinner.