In den letzten Wochen muss man viel abstoßenden Blödsinn lesen. Bill Gates will die Weltherrschaft übernehmen, Covid-19 ist durch 5G verursacht und ist übrigens kein Virus, und wenn doch ein Virus, dann in einem Labor wahlweise in China, USA oder Georgien produziert, die Bundesregierung will die Bürgerrechte abschaffen und eine Diktatur errichten usw. Selbst katholische Bischöfe und Kardinäle wie Müller sehen „Kräfte“ am Werk, die eine „Weltregierung“ errichten wollen.
Teilweise ist man belustigt, teilweise erstaunt, teilweise einfach nur angewidert über das, was man in den letzten Wochen lesen muss.
Auf der anderen Seite stehen die Vernünftigen. Die wissen um die Gefahren dieser Pandemie. Sie unterstützen die Maßnahmen der Bundesregierung, der es um den Schutz des Lebens geht und sehen besorgt oder empört, dass viele Menschen dieses Anliegen der Bundesregierung nicht teilen, sondern anscheinend entweder irgendwelchen dumpfen Verschwörungstheorien anhängen oder bloß wollen, dass die Wirtschaft weiter Geld verdient.
Zwischen diesen beiden Polen läuft die aktuelle öffentliche Diskussion in Deutschland, und diese Polarisierung ist Gift für die deutsche Gesellschaft.
Die Vereinfachung
Blicken wir zurück in die Ursprünge von Pegida. Da gingen in Dresden Menschen auf die Straße. Viele „normale“ Bürger, die ein gewisses Gefühl von Unwohlsein hatten. Diese Menschen spürten irgendwie, dass da in der Gesellschaft etwas läuft, mit dem sie nicht klarkamen. Viele Fremde, die in das Land kommen wollten, viele Themen wie Gender usw., mit denen sie nicht viel anfangen konnten, eine Bundesregierung, die irgendwie weit weg von ihnen und ihren Anliegen schien. Da gingen viele auf die Straße, um das Signal zu senden: Es stimmt was nicht! Und spätestens ihr Auftauchen auf der Straße bestätigte ja diese These.
Die vereinfachende Reaktion aus dem politischen und medialen Berlin: „Rechter Mob!“ Was passiert, wenn ich ein Gefühl von Unwohlsein habe (ob berechtigt oder nicht), deshalb auf die Straße gehe und sofort als „rechter Mob“ klassifiziert werde? Nach einigen Wochen denke ich: „Wenn mich das zum rechten Mob macht, dann bin ich rechter Mob!“ Ich marschiere als rechter Mob und gleite dann vielleicht zu dem ab, was man wirklich als „rechten Mob“ bezeichnen würde, weil der ja anscheinend das ist, was meine Anliegen teilt.
Dieser Mechanismus hat sich in der Pegida-Geschichte als absolut verheerend erwiesen. Zumindest kann man aus neutraler Perspektive nicht feststellen, dass die Klassifizierung dieser Menschen auf der Straße als „rechter Mob“ das rechte Lager politisch geschwächt hätte.
Ähnlich ging es dann ja weiter in der Flüchtlingskrise. Natürlich war es aus humanitären Gründen im Juni 2015 geboten, die Flüchtlinge aufzunehmen. Und Kanzlerin Merkel hatte auch mit ihrer Argumentation recht, dass die humanitäre Notlage auch Maßnahmen rechtfertigt, die juristisch grenzwertig sind. Dennoch konnte man ja durchaus die Frage stellen, was das eigentlich juristisch, finanziell, gesellschaftlich und politisch bedeutet und wie es weitergehen soll.
Auch hier: wer diese Fragen stellte, war inhuman und rechts. Mit dem Ergebnis: das rechte Lager konnte feiern. Die Vereinfachung gab es nicht nur bei den Schreihälsen auf der rechten Seite. Sondern auch bei denen, die jeden dort hininterpretierten.
Der gleiche Mechanismus greift auch in diesen Wochen. Jeder, der die aktuellen Maßnahmen der Bundesregierung kritisch hinterfragt, ist inhuman, riskiert das Leben von Menschen, hängt entweder wirren Verschwörungstheorien an oder ist einfach nur Wirtschaftslobbyist.
Es geht ausdrücklich nicht darum, dass jeder verwirrte Mensch mit blödsinnigen Thesen über das Corona-Virus gehört werden muss. Es geht darum, dass aber auch nicht jeder verwirrt ist, bloß weil er Maßnahmen der Bundesregierung hinterfragt.
Streitkultur
Was der deutschen Gesellschaft fehlt, ist Streitkultur, und dieses Fehlen ist eine große Gefahr für die Demokratie in Deutschland. Nicht nur irgendwelche irren Verschwörungstheoretiker gefährden die Demokratie, sondern auch all diejenigen, die jede abweichende Meinung als herzlos oder irre brandmarken und auf ihre Weise einen öffentlichen Diskurs durch ihre moralische Überheblichkeit genauso unmöglich machen wie die Dummheit der Verschwörungstheoretiker.
Vielleicht liegt es an meiner Vergangenheit als katholischer Priester. Ich reagiere immer sehr kritisch, wenn Entscheidungen oder Wahrheiten als unumstößlich oder alternativlos verkauft werden.
Eine politische Entscheidung ist nie alternativlos. Und eine Diskussion über politische Entscheidungen ist nie eine überflüssige Diskussionsorgie.
- Wie sieht die Situation in Ländern aus, die keinen Lock-Down wie in Deutschland haben? Was geht da gut, was nicht? Und warum?
- Nach welchen Kriterien werden die medizinischen Notwendigkeiten, die durch das Corona-Virus verursacht werden, mit anderen medizinischen Notwendigkeiten gewichtet (Operationen, Chemotherapien usw.)?
- Wo liegt eigentlich die Grenze zwischen medizinischen und wirtschaftlichen Notwendigkeiten und wie begründe ich sie? Bzw. zwischen medizinischen und gesellschaftlichen Notwendigkeiten?
- Oder anderen menschlichen Notwendigkeiten? Besuch von Angehörigen usw.?
- Wie geht man mit der Paradoxie um, dass gerade ein gut funktionierender Lock-Down eine flächendeckende Immunisierung verhindert?
- Wie sind eigentlich die einzelnen Maßnahmen aufeinander abgestimmt und gäbe es vielleicht Maßnahmen, die medizinisch ähnlich effektiv, aber gesellschaftlich angemessener wären?
- Wie soll eigentlich ein gesellschaftliches Leben aussehen, dass auch angesichts der erst einmal bleibenden Präsenz des Virus einigermaßen in normalen Bahnen verläuft?
Nicht jeder, der diese Fragen stellt, glaubt an die Gates-Weltverschwörung oder ist ein Menschenhasser, dem die Gesundheit der Menschen egal wäre.
Die Wirklichkeit ist kompliziert
Die Wirklichkeit ist kompliziert. Sie ist nicht nur schwarz oder weiß, nicht nur gut oder schlecht, nicht nur wirtschaftlich oder sozial, nicht nur krank oder gesund, nicht nur wissenschaftlich oder dummes Zeug.
Die Wirklichkeit ist nie einfach und man muss sich vor denen hüten, für die die Wirklichkeit einfach ist, egal, aus welcher Richtung. Die Wirklichkeit ist kompliziert. Man muss forschen, man muss genau hinsehen, man muss analysieren, man muss vergleichen, man muss sich austauschen und diskutieren. Dann hat man eine Chance, die komplizierte Wirklichkeit zu verstehen.
Diesem Erkenntnisprozess entziehen sich die wirren Verschwörungstheoretiker mit ihren kruden Thesen genauso wie diejenigen, die in jeder kritischen Anfrage an die aktuellen Maßnahmen einen Verschwörungstheoretiker am Werk sehen.
Beide Seiten machen es sich zu einfach, weil die Lösung der aktuellen Corona-Krise in jedem Fall intelligenter als eine Demonstration gegen Bill Gates sein muss, aber eben auch komplexer als ein flächendeckender Lock-Down.
Die Dummheit auf der einen Seite wie auch die moralische Überheblichkeit auf der anderen Seite verhindern einen sinnvollen Diskurs über die Corona-Krise.
Diese Verhinderung eines sinnvollen Diskurses hat zwei Konsequenzen: sie schädigt die konkrete Lösungsfindung und sie schädigt die Demokratie.
Wenn nun aber Eile gefordert ist..
Oder wie Winstin Churchill gesagt haben soll: Man kann nicht mit dem Löwen diskutieren, solange man den Kopf in seinem Maul hat..