Die Ereignisse im Nahen Osten bestimmen die aktuellen Diskussionen. Hier ist es gut und richtig, dass sich Philosophinnen und Philosophen öffentlich in die Debatte einbringen, denn es ist die originäre Aufgabe der Philosophie, das, was gerade im Nahen Osten passiert, rational und ethisch einzuordnen.
So wurde vor zwei Wochen ein Aufruf „Philosophy for Palestine“ veröffentlicht, der mittlerweile von über 400 Philosophinnen und Philosophen unterschrieben ist und der seinem Titel in vollem Sinne gerecht wird: es geht um Philosophie für Palästina. Nicht für Israel.
Kein Wort über die israelischen Opfer oder eine Einordnung, dass es die Hamas war, die mit der Gewalt begonnen hat; kein Wort über die furchtbaren Massaker am 7.10.; kein Wort über die immer noch gefangen gehaltenen Geiseln oder über tausende Raketen, die seitdem vom Gazastreifen aus nach Israel abgefeuert werden.
All dies ist für diese Philosophinnen und Philosophen die logische Konsequenz einer Besatzungs- und Apartheidsmacht, wie Israel bezeichnet wird.
Kein Nachdenken über die Legitimität des Staates Israel, keine Kenntnisnahme des Terrors, den die Hamas nicht nur gegen Israel, sondern auch gegen die eigene Bevölkerung richtet; kein Vergleich der Lebensrealität der Araber im demokratischen Israel, wo sie 20% der Bevölkerung stellen und im Parlament mit mehreren Parteien vertreten sind und der im Gaza-Streifen, wo sie von der Hamas als Schutzschilder missbraucht werden, jede humanitäre Hilfe in Waffen und Hass investiert wird und jeder Kritiker brutal erschossen wird; kein Abwägen, dass auch eine kritikwürde Siedlungspolitik Israel in der Westbank das Abschlachten von Babys nicht rechtfertigt, dass Frauen vergewaltigt, Babys lebendig im Backofen verbrannt und Leichen geschändet werden.
Dieser Aufruf ist ein Aufruf der Einseitigkeiten und der falschen Prämissen und es wiegt umso schwerer, dass er von Menschen verfasst und unterzeichnet wurde, die sich der Philosophie verschrieben haben. Noch einmal schwerer wiegt die Tatsache, dass philosophische Schwergewichte wie Judith Butler dieses Manifest verfasst haben.
Was ist Philosophie eigentlich? Und was macht jemanden zu einer Philosophin oder zu einem Philosophen?
In den letzten Wochen gab es viel zu hören und zu lesen, dass über eine legitime Kritik an Israel hinausging und purer Antisemitismus war. Dieser traf mich besonders, wenn er nicht aus den Ecken kam, von wo aus man ihn immer vermutete, sondern von sog. „Intellektuellen“. Ein Precht, der antisemitische Stereotype von sich gibt, Philosophie-Studenten, die Bilder israelischer Kinder, die als Geiseln gehalten werden, von den Wänden ihrer Universität reißen, Philosophie-Professoren, die zur Unterstützung der Hamas und zum Boykott Israels aufrufen.
Diese Dinge haben mich durchaus in meiner Berufsehre als Philosoph getroffen, weil sie dem widersprechen, was ich unter „Philosophie“ verstehe, nämlich den Anspruch, rational und ethisch zu urteilen. Rational bedeutet, nicht nur eine Meinung zu haben, sondern diese Meinung auch begründen und immer wieder überprüfen zu können.
Wenn das nicht passiert, dann ist Philosophie nicht mehr als sophistisches und spitzfindiges Begründen dessen, was man eh schon immer geglaubt hat.
Es geht nicht darum, Israel von der Kritik zu verschonen. Es geht darum, dass jede persönliche Haltung – sei sie israelfreundlich oder -feindlich – immer wieder selbstkritisch überprüft werden muss. Was im Fall von Butler und Co. offensichtlich nicht geschehen ist.
Kritik als Grundlage der Philosophie
Rationalität bedeutet, zur Beurteilung einer Situation möglichst viele Faktoren einzubeziehen und zu gewichten. Je mehr, desto besser. Dazu gehört auch, die Faktoren einzubeziehen, die die bisherige Meinung hinterfragen und vielleicht sogar verändern können.
Mit anderen Worten: Kritik und Selbstkritik sind notwendige Bedingungen für die Philosophie. Dies gilt systematisch und historisch.
Wie allgemein bekannt, entstand die Philosophie im antiken Griechenland. Bevor die Philosophie jedoch loslegte, war die Zeit der großen Tragödiendichter, Aischylos, Sophokles, Euripides. Worum ging es in den Tragödien?
In ihnen passierte etwas, das bis dahin unmöglich war: die Götter wurden hinterfragt und angeklagt. Mit anderen Worten: das bisherige Weltbild wurde kritisiert. Und danach entstand die Philosophie. Danach konnte sie erst entstehen.
Philosophie muss immer um dieses kritische Moment verfügen, um Philosophie zu sein. So ist es weder ein Zufall, dass die Philosophie damals im relativ freien Griechenland entstand, noch ist es ein Zufall, dass sich die Philosophie heute in Ländern schwer tut, die sehr stark religiös geprägt oder sonst unfrei sind.
Die Kritik ist die Grundlage der Philosophie, weil man nur dann eine Situation, ein Ereignis oder auch eine Person rational beurteilen kann, wenn man in der Lage ist, sich zu distanzieren. Wenn das nicht passiert, bleibt man in seinem Trott und begründet immer neu die gleichen Meinungen, die man schon immer hatte. Vor dieser Gefahr sind auch Philosophen nicht geschützt – im Gegenteil sind sie sogar sehr stark gefährdet, weil sie durch ihre Expertise in der Lage sind, wirklich jede Meinung mit Argumenten zu versehen.
Jede Situation, die zu beurteilen ist, hat mehrere Seiten. Es gibt immer Gründe für die eine oder andere Seite. Die Frage ist nun, ob man die vorhandenen Argumente beider Seiten sortiert und gewichtet – und dann eventuell zu einer neuen Sicht kommt – oder ob man nur die Argumente zur Kenntnis nimmt, die die eigene Position stärken. Das eine ist selbstkritisch und philosophisch, das andere ideologisch.
Selbstkritik
Der Vorwurf, den man auch sehr renommierten Philosophinnen und Philosophen wie Judith Butler machen muss, ist in Bezug auf Israel eine seit langem gefasste Meinung zu haben, die durch keine Fakten über die Hamas und keine grausam abgeschlachteten Babys gestört werden kann. Was auch immer passiert: letztlich ist Israel schuld. Das ist antisemitisch und ideologisch.
Philosophie besteht nicht darin, eine Meinung zu haben, sondern darin, sich eine Meinung bilden zu können, die gut begründet ist. In der Begründung – in der Sichtung, Sortierung und Darstellung von Argumenten – findet Philosophie statt. Es ist menschlich, eigene Meinungen zu haben, sie zu pflegen und sich auf ihnen auszuruhen. Philosophisch ist es nicht.
Philosophie kann ohne kritische Grundhaltung nicht existieren, ohne die Fähigkeit, den vielen Selbstverständlichkeiten ins Auge zu blicken und sie zu hinterfragen.
Ich war viele Jahre tätig als katholischer Priester. Es wäre bequem gewesen, bestimmte Dinge nicht zu hinterfragen. Ich hätte das genommen, was für mein Leben als Priester spricht, und das ausgeblendet, was dagegen spricht. Das wäre gegangen. Ich wäre heute noch katholischer Priester. Dass ich es nicht mehr bin, hat damit zu tun, dass ich in dem Sinne zutiefst philosophisch auf mich und mein Leben geschaut habe: mit einem kritischen Bewusstsein auf sich, sein Leben und seine Umwelt zu schauen und auch in der Lage zu sein, bisherige Gewissheiten und Sicherheiten zu hinterfragen. Diese Haltung ist nicht immer die bequemste, aber sie ist die ehrlichste und diejenige, die dem eigenen Leben und der Welt angemessen ist, in der man lebt.
Es sind Kritik und Selbstkritik. Kritik der Sicherheiten und Meinungen, die man hatte, und Selbstkritik, weil man vieles von dem überwindet, an das man geglaubt habt.
Fazit
Viele Philosophinnen und Philosophen, die sich in den letzten Wochen über Israel und Palästina äußern, fehlt nicht die Fähigkeit, aber der Wille, persönliche Meinungen zu hinterfragen und durch die Realität korrigieren zu lassen.
Es geht nicht darum, dass man in seiner Meinung und als Philosoph immer auf der Seite Israels stehen muss. Dass jede Analyse der Situation im Nahen Osten immer für Israel und gegen die Palästinenser sprechen muss. Es geht nicht um die Meinung, die diese Philosophinnen und Philosophen geäußert haben, sondern um ihre Einseitigkeit und ihren völlligen Verzicht auf Argumente.
Ein Philosophie-Student fragte neulich hier in Rotterdam: „Warum muss ich mich mit der Philosophie beschäftigen? Mit Argumenten? Ich habe doch schon meine Meinung!“
Genau deshalb.