In den letzten Wochen wird auch in liberalen Kreisen sehr erregt und sehr laut über die Impfpflicht debattiert. Im Mittelpunkt dieser Debatte steht die Frage, ob persönliche Freiheit und das Recht auf Unversehrtheit überhaupt einen derartigen staatlichen Eingriff wie die Impfpflicht zulassen.
Unter der Oberfläche dieser aktuellen Diskussion rumort seit geraumer Zeit jedoch eine viel grundlegendere Fragestellung: die nach dem Grundverständnis des Liberalismus. Was ist Liberalismus eigentlich?
Liberalismus?
Dem Liberalismus geht es um den Einzelnen.
So selbstverständlich das klingt, so wenig selbstverständlich ist das als politische Aufgabe.
Der Liberalismus ist die politische Ausformung einer neuen Grundhaltung, die am Ende des Mittelalters begann bzw. dieses beendete. Bis dahin sah der Mensch sich weitgehend als Teil einer übergeordneten Gemeinschaft, in Europa als Teil des Christentums. Individualität war verpönt und galt als Eitelkeit und Egoismus. Der einzelne Mensch definierte sein Leben über die Mitgliedschaft am Christentum, das deckungsgleich war mit der Gesellschaft.
Dies begann zu bröckeln. Immer weniger nahm der Einzelne sich nur als Teil von etwas Übergeordnetem wahr, sondern immer mehr als ein individuelles Wesen.
Die Konsequenzen sind gravierend: die Reformation als Hervorhebung des Einzelnen gegenüber der Glaubensgemeinschaft, der Aufschwung der Naturwissenschaften als die individuelle Suche nach Erklärungen über die Welt, schließlich in der Aufklärung die Mündigkeit des Einzelnen gegenüber Staat und Kirche.
In diesem Dunstkreis und in dieser Mentalität entstand der Liberalismus: die Hervorhebung des Einzelnen, der als freies Wesen in seinen Rechten und in seiner Würde nicht behindert werden darf.
Ein großes Ziel, das natürlich immer aktuell bleibt. Denn natürlich lauert immer die Gefahr – an erster, aber nicht an einziger Stelle durch den Staat – , dass Rechte des Einzelnen beschnitten werden und der Einzelne in seiner Freiheit eingeschränkt wird.
Individuum – Gesellschaft
Die Frage ist nun: wo ist die Grenze zwischen diesen beiden?
Wo ist die Grenze …
- … zwischen dem Einzelnen und seinen Rechten, seiner Freiheit, seinen individuellen Gestaltungsmöglichkeiten auf der einen Seite
- … und dem Staat, der Gesellschaft, der Allgemeinheit, dem Zusammen der Menschen auf der anderen Seite?
Wo genau diese Grenze liegt, ist in den einzelnen Gesellschaften sehr unterschiedlich. Sie verändert sich ständig und der genaue Verlauf dieser Grenze ist Verhandlungssache eines möglichst freien politischen Diskurses innerhalb einer Gesellschaft.
Nun gibt es auf dieser Skala Individuum – Gesellschaft Extrempositionen.
Die eine Extremposition besteht im ausschließlichen Bezug auf die Gesellschaft: eine Allgemeinheit – definiert als Klasse, Religion, Volk o.ä. – gibt vor, was für den Einzelnen gut ist und der Einzelne hat keine Möglichkeit, sein Leben frei zu gestalten. Es ist die Extremposition autoritärer Regime. Historisch belegbare Folgen solcher Regime sind Ketzerverbrennungen, Judenverfolgungen u.ä.
Die andere Extremposition besteht im ausschließlichen Bezug auf das Individuum: die Allgemeinheit hat kein Recht, dem Individuum irgendwelche Vorschriften zu machen. Das Individuum ist nur sich selbst verantwortlich, alles andere ist maximal Verhandlungssache.
Historische Beispiele für eine solche Gesellschaft gibt es nicht und kann es auch gar nicht geben, weil eine solche Gesellschaft gar nicht funktionieren würde.
Ich will das etwas deutlicher machen. In den letzten Monaten hörte ich immer wieder Äußerungen wie „Jeder Staat ist ein Krebsgeschwür“, „Ich schulde dem Staat überhaupt nichts“ oder „Verantwortung ist dummes Geschwurbel“.
Ich will jetzt gar nicht in die Details gehen und zurückfragen, ob in Deutschland nicht jeder Bürger von Geburt an als Nutzer des hiesigen Gesundheits-, Bildungs- und Rechtssystems in der Schuld der Allgemeinheit steht. Bereits die Tatsache, dass man den eigenen Grund nicht mit Waffengewalt verteidigen muss gegen die Gier des Nachbarn oder dass man die entsprechende Bildung erhielt, durch die man einen lukrativen Beruf ergreifen kann, ist ein Resultat der Allgemeinheit.
Die These, dass man der Allgemeinheit nichts schuldet, ist also faktisch etwas kurzsichtig. Unser Leben ist immer ein gesellschaftliches Leben und ist immer auf die Allgemeinheit angewiesen. Seit Jahrtausenden wird die Frage diskutiert, ob der Mensch im Grunde seines Wesens egoistisch („Psychologischer Egoismus“, Hobbes, Nietzsche …) oder altruistisch veranlagt ist.
Völlig unabhängig davon, wie man diese Frage beantwortet: der Mensch ist ein soziales Wesen. Ob er seine Mitmenschen jetzt egoistisch oder altruistisch behandelt: er lebt mit ihnen zusammen.
Und aus diesem Zusammenleben ergibt sich auch eine Verantwortung, die jeder einzelne für das Zusammenleben hat. Diese Verantwortung nicht wahrzunehmen, bedeutet, das Zusammenleben nur auf sich selbst hin zu interpretieren und damit letztlich zu Lasten der anderen auszunutzen.
Diese Ebene der Verantwortung, die die persönliche Freiheit natürlich einschränkt, war seit jeher Bestandteil des Liberalismus. Die Freiheit des Einzelnen wurde immer gedacht im Zusammenhang mit der Freiheit des Anderen. Anders ist ein gutes Zusammenleben nicht möglich. Und nur so ist der Liberalismus überhaupt als eine Vision für die Gesellschaft denkbar.
Die liberale Perspektive
Wodurch grenzt sich dann der Liberalismus von anderen politischen Richtungen ab?
Durch die Perspektive. Es geht vom Einzelnen zur Gesellschaft, nicht umgekehrt.
Andere politische Richtungen beschreiben eine Gesellschaft, die entweder christlich, ökologisch, sozial gerecht sein soll und blicken dann auf den Einzelnen, wie er sich dieser Gesellschaft einfügen kann bzw. von den Zielen dieser Gesellschaft überzeugt werden kann.
Von der Gesellschaft auf den Einzelnen.
Der Liberalismus geht den umgekehrten Weg: er will den Einzelnen stärken, in seiner Freiheit, in seiner Mündigkeit, und von diesen vielen Einzelnen aus soll die Gesellschaft gestaltet werden. Diese Gestaltung der Gesellschaft soll in einem freien Dialog freier Menschen passieren, aber es ist auch klar, dass der Einzelne dabei etwas von seiner Freiheit abgeben muss, wenn ein gesellschaftliches Zusammenleben funktionieren soll.
Liberalismus und Freiheit
Angesichts der Corona-Pandemie und den damit verbundenen Eingriffen in die persönliche Freiheit – nicht zuletzt durch eine Impfpflicht – tobt die Diskussion, ob diese Maßnahmen mit dem Liberalismus vereinbar seien oder nicht.
Die aktuelle Diskussion ist jedoch nur die Spitze eines Eisbergs, der seit Jahren die liberalen Gemüter beschäftigt:
Wie ist das Verhältnis des Einzelnen zur Gesellschaft zu bestimmen?
Hier muss festgehalten werden, dass die Position, die Freiheit des Einzelnen absolut zu setzen und jede Art staatlichen Eingriffs als illegitimen Angriff auf die persönliche Freiheit zu interpretieren, nicht dem Liberalismus entspricht, sondern eine Verzerrung darstellt.
Der Liberalismus spricht von Freiheit und meint das auch ernst. Diese Freiheit aber zu einem plumpen: „Ich darf machen, was ich will!“ und zu einem bloßen Egoismus zu machen, ist eine Verzerrung. Die Gesellschaft soll durch die Freiheit des Einzelnen nicht abgeschafft werden, sondern gestaltet.
Der Grundgedanke ist eigentlich recht simpel: kein Mensch lebt alleine, sondern jeder Mensch ist Teil einer menschlichen Gruppe, letztlich der Gesellschaft. Dies erfordert Regeln des Zusammenlebens und damit Verzicht auf Freiheit. Diese Regeln sollen immer neu von freien Menschen diskutiert und erstellt werden. Das ist Liberalismus.
Das Wort „Liberalismus“ ist schwammig geworden – wenn es das nicht schon immer war. Zum einen, weil jede einigermaßen demokratische politische Richtung von sich behauptet, liberal zu sein. Zum anderen, weil auch nach innen hin nicht immer klar ist, was eigentlich liberal ist. Das Schlagwort „Freiheit“ klingt toll, kann aber auch verzerren, um was es dem Liberalismus eigentlich geht.
Die Freiheit ist aber nicht das Ziel des Liberalismus, sondern ein Mittel: das Mittel, mit dem vernünftige und aufgeklärte Menschen ihre Gesellschaft gestalten sollen:
„Der Mensch ist durch seine Vernunft bestimmt, in einer Gesellschaft mit Menschen zu sein, und in ihr sich durch Kunst und Wissenschaft zu kultivieren, zu zivilisieren und zu moralisieren.“
(Kant, Anthropologie in pragmatischer Hinsicht, S. 321)
Unabhängig davon, wie die aktuelle Frage über die Impfpflicht beantwortet werden wird: sie ist ein Appell an den Liberalismus, mal wieder über sich selbst nachzudenken und das kann nicht schaden.
Sehr geehrter Herr Rasche,
vielen Dank für das Liberalismus-Scipt. Das war bitte nötig.
Allerdings geht es mir zu wenig weit. Sie bringen die Sache auf den Punkt, wenn Sie schreiben: Es kommt auf die Perspektive an: Ausgangspunkt die Gesellschaft oder der Einzelne.
Was ist aber, wenn der Einzelne von der Gesellschaft unendlich stark geprägt ist? In diesem Fall meine ich die neo-wirschaftslibale Gesellschaft, die dem Einzelnen alles, was mit luxuriösem Wohlstand, Spaß, Lust zusammenhängt, hinten rein schiebt. Das sind doch Verwerfungen ohne Ende..???
Freundliche Grüße, Walter Schimpf