Wie funktioniert kirchliche Macht?
Ich habe darüber viel gelernt in meiner Zeit in Rom. Es ist nun einmal so, dass die Zentrale der Kirche in Rom liegt. Entsprechend groß ist der Einfluss der italienischen Kultur auf die Kirche. Bereits der Name Machiavelli bürgt für eine alte, wirkungsvolle Tradition Italiens in der Erkenntnis und im Umgang mit Macht. Was Niccolò Machiavelli (1469-1527) auszeichnete, war ein sehr realistischer Blick auf die Macht. Es ging ihm in seinen beiden großen Werken „Der Fürst“ und „Die Gespräche“ nicht darum, wie Macht funktionieren sollte, sondern mit gnadenloser Klarheit darum, wie sie funktioniert. Diese oft zynische Illusionslosigkeit der Macht ist ein Erbe, das er hinterlassen hat.
Andreotti
Als ich in den 1990er Jahren in Rom lebte, bekam ich noch die letzten großen Jahre eines Politikers mit, der ein Virtuose der Macht war: des Christdemokraten Giulio Andreotti (1919-2013). Er ist die wichtigste Gestalt des politischen Italiens nach dem II. Weltkrieg, an nahezu jeder Regierung beteiligt – als Minister oder Ministerpräsident. Alleine schon seine Spitznamen verraten, dass es sich um eine interessante Persönlichkeit handeln muss: der Göttliche, der Bucklige, der Fuchs, die Spinne, der schwarze Papst, der Beelzebub, die Sphinx.
Die äußere Erscheinung Andreottis war alles andere als eindrucksvoll: ein buckliges, altes Männchen mit einem Eulengesicht. Das Interessante: so sah er nicht nur im hohen Alter aus, sondern irgendwie schon ein Leben lang. 1974 wurde Andreotti von der Journalistin Oriella Fallaci interviewt. Ihre Beschreibung Andreottis ist in vielfacher Hinsicht treffend und die meiner Meinung nach beste Charakterisierung, die je über ihn geschrieben wurde:
„Er sprach mit seiner langsamen, höflichen Stimme, wie ein Beichtvater, der einem die Buße von fünf Vaterunser, fünf Salve Regina, zehn Requiem Aeternam auferlegt, und ich spürte ein Unbehagen, das ich nicht benennen konnte. Dann wurde mir plötzlich klar, dass es kein Unbehagen war. Es war Angst. Dieser Mann machte mir Angst. Aber warum? Er hatte mich mit erlesener Freundlichkeit empfangen: herzlich. Er hatte mich zum Lachen gebracht: witzig, und seine Erscheinung war gewiss nicht bedrohlich. Diese Schultern, schmal wie Kinderschultern, und gebogen. Dieser fast rührende Mangel an Hals. Dieses glatte Gesicht, auf dem man sich keinen Bart vorstellen kann. Diese zarten Hände mit den langen, kerzenweißen Fingern. Diese Haltung der ständigen Verteidigung. Er stand in sich versunken, den Kopf im Hemd versenkt, wie ein kränklicher Junge, der sich vor einem Regenguss unter einen Regenschirm kauert, oder wie eine Schildkröte, die scheu aus ihrem Panzer steigt. Wer hat Angst vor einem kränklichen Jungen, wer hat Angst vor einer Schildkröte? Wem tun sie weh? Erst später, viel später, wurde mir klar, dass meine Angst von genau diesen Dingen ausging: von der Macht, die hinter diesen Dingen steht. Wahre Macht braucht keine Aufgeblasenheit, keine langen Bärte, keine bellenden Stimmen. Wahre Macht erwürgt einen mit Seidenbändern, Höflichkeit, Intelligenz. Intelligenz, meine Güte, er hatte welche. So viel, dass er sich den Luxus leisten konnte, sie nicht zu zeigen.“
An dieser Beschreibung sind mehrere Dinge interessant. Erst einmal das Katholische, das Fallaci als „Beichtvater“ beschreibt. Andreotti, ein waschechter Römer, ein „Romano de Roma“, war bereits seit frühester Kindheit ein frommer Katholik und zutiefst verbunden mit der katholischen Kirche. Es ist nicht nur die Tatsache, dass Andreotti bis zu seinem Tod jeden Morgen um 6 Uhr die Messe besuchte und bestens bekannt war mit allen, die im Vatikan Rang und Namen hatten. Mehr als nur das hatte Andreotti das Katholische derart verinnerlicht, dass man ihn als politische Ausformung des Katholischseins bezeichnen könnte. Genau das macht ihn zu einem wichtigen Zeugen dafür, wie die Macht der katholischen Kirche funktioniert. Nicht, dass die Kirche sich Andreotti als Vorbild genommen hätte: vielmehr werden beide aus den gleichen Quellen gespeist, der gleichen Tradition und Mentalität, die sich in ihnen ausdrückt.
Andreotti wird oft beschrieben als eine Mischung aus Machiavelli, Richelieu und Talleyrand, drei historischen Virtuosen der Macht. Interessanterweise sind die letzten beiden dieser Reihe katholische Priester gewesen, der erste dieser drei war nur so katholisch.
Macht durch Ohnmacht
Fallaci beschreibt ausführlich das wenig beeindruckende, kränklich wirkende Äußere Andreottis, das in einem klaren Gegensatz steht zur Macht, die dieser Mann besaß. In genau diesem Gegensatz steckte ein Prinzip seiner Macht. Eine deutlich sichtbare Macht ist kalkulierbar und angreifbar, eine unsichtbare Macht ist unangreifbar, sie stimuliert die Phantasie und ist deshalb immer größer und auch angsteinflößender als sie in der Realität ist. Andreottis ganzes Wesen strahlte äußerste Zurückhaltung und Bescheidenheit aus, ein netter Tonfall, eine leise Stimme.
Als der Schauspieler Marlon Brando die Filmrolle des „Paten“ übernahm, besuchte er einen Mafiaboss im Gefängnis und war überrascht von seiner kleinen, unscheinbaren Gestalt und seiner leisen Stimme. Brando begriff – wie Fallaci –, dass wahre Macht nicht laut sein muss, und ließ den Paten im Film leise und undeutlich sprechen. Wer etwas zu sagen hat, kann leise sprechen, weil trotzdem jeder auf seine Stimme hört, ob er jetzt ein Mafiaboss ist oder ein Kardinal – oder eine Mischung von beiden, wie Andreotti.
Fallaci fühlte sich an einen Beichtvater erinnert. Was Andreotti hier verkörperte, war in der Tat etwas Kirchliches und man kann sich bei dieser Beschreibung auch einen hohen Kirchenfürsten vorstellen. Kardinäle und Bischöfe – man denke nur an Ratzinger – agieren im persönlichen Kontakt oft sehr ähnlich wie Andreotti in jenem Gespräch: leise sprechende, intelligente, gebildete, höfliche alte Herren, die jedes Wort bewusst einsetzen, und die es schaffen, ihre eigentliche Botschaft zwischen den Zeilen aufleuchten zu lassen.
Hier liegt ein weiteres wichtiges Merkmal: die Kunst alles und nichts zugleich zu sagen. Von Charles-Maurice de Talleyrand (1754-1838) ist der meisterhafte Satz überliefert:
„Die Sprache ist dem Menschen gegeben, um seine Gedanken zu verbergen.“
Bei Gesprächen mit Kardinälen und bei kirchlichen Verlautbarungen ist es immer wichtig, zwischen den Zeilen zu lesen. Das, was geschrieben steht, ist nur die halbe Information. Maximal. Die wichtigere Information besteht in dem, was nicht gesagt wird. Die Sprache der kirchlichen Macht ist bewusst vage, und in dieser Vagheit zugleich geschliffen und präzise. Es gibt kein klares Ja und kein klares Nein, alles ertrinkt in einer Flut von frommen Phrasen, die aber trotzdem Klarheit schaffen in dem, was sie nicht sagen. Die Sprache der Kirche will nicht zeigen, sie will verbergen und indem sie verbirgt, macht sie deutlich, dass hinter ihr etwas Unausgesprochenes steht, ein großes Geheimnis, aus dem sie ihre Macht empfängt. Es ist natürlich nicht so, dass Bischöfe sich „Der Pate“ oder Lehrfilme über Andreotti anschauen, um an ihrer Rhetorik zu feilen. Die kirchliche Sprache der Macht funktioniert nicht ähnlich, weil sie von Andreotti übernommen wurde, sondern weil beide sich ähnlichen Quellen verdanken.
Macht durch simulierte Veränderung
Eines der beliebtesten Zitate Andreottis, das er immer wieder gebrauchte, ist bezeichnenderweise von Talleyrand übernommen: „Die Macht verschleißt den, der sie nicht hat.“
Diese Aussage mag überraschen, denn wir haben Regierungen vor Augen, die lange im Amt sind und einen langen Tod sterben: sie haben keine neuen Ideen mehr, kein neues Personal, sie verschleißen. Die Kunst besteht nun darin, die Macht so sicher zu machen, dass nicht der Machthaber verschleißt, sondern derjenige, der die Macht haben will, und der deswegen verschleißt, weil er keine Chance hat.
Es gibt eine berühmte Szene in dem von Giuseppe Tomasi de Lampedusa geschriebenen Roman „Der Leopard“. Der Fürst von Salina, ein Mann des Hochadels des 19. Jahrhunderts, macht sich Sorgen um den neuen demokratischen Nationalstaat Italien, der sein altes Sizilien zu überrollen droht. Er macht seinem Neffen Tancredi Vorhaltungen, dass er sich mit dieser neuen Sache gemein machen würde. Dieser antwortet mit einem Satz, der zu einer Ikone wurde: „Wenn wir wollen, dass alles bleibt wie es ist, muss alles sich ändern.“
Man bleibt an der Macht, indem man sich ändert. Ohne sich zu ändern. Man ändert etwas Oberflächliches, um das Wesentliche nicht zu ändern. Seit dem Krieg haben über 70 Regierungen Italien regiert, einige hielten nur wenige Wochen oder gar Tage. Trotzdem saßen jahrzehntelang in allen Regierungen dieselben Leute und vor allem einer: Andreotti. Diese Kunst, oberflächliche Dinge zu ändern, um den Kern der Sache nicht zu ändern, beherrscht die katholische Kirche wie niemand anders. Unzählige Gesprächsrunden, Reformen und Strukturprozesse, die nicht an die wirklich tragenden Strukturen rühren, aber ein verbreitetes Bedürfnis nach Veränderung stillen. Es ist ein Mechanismus, die von Gott selbst so gewollten Strukturen zu erhalten: Veränderungen schützen das Unveränderliche. Die Macht verschleißt den, der sie nicht hat.
Macht durch Vertauschung der Wirklichkeit
Der Journalist Luigi Abete hat die Kommunikation Andreottis einmal als eine solche beschrieben, die „Ursache und Wirkung“ vertauschen würde. Vielleicht hat keiner die Kommunikation Andreottis (und der Kirche) so gut verstanden wie Abete.
Andreotti wie auch die Kirche lebten davon, dass die normale Welt, die wir jeden Tag vor uns sehen, nicht die richtige Welt ist. Hinter ihr steckt eine Welt der Geheimnisse, die diese Welt dominiert: sie ist die „eigentliche“ Welt, auf die es ankommt. Bei Andreotti war es eine Welt von Netzwerken, Geheimbünden und Mafia, bei der Kirche ist es die Welt der Heiligen und Gottes. Das mögen jeweils unterschiedliche Dinge sein, der Mechanismus ist der gleiche: die Umkehrung dessen, was die eigentliche Welt ist: nämlich nicht die Welt hier, sondern das Geheimnisvolle, aus dem Andreotti oder die Kirche ihre Macht ziehen.
Wenn die Kirche beispielsweise bei der Eucharistie davon spricht, dass das Brot auf dem Altar nicht Brot, sondern wirklich und real der Leib Christi ist, dann macht sie aus einem Symbol eine Realität – und die Realität zu einem bloßen Symbol. Damit passiert das, was Abete als Vertauschung von Ursache und Wirkung in der Kommunikation Andreottis erkannt hat. Die Kirche stützt sich damit auf uralte, aus der Antike und dem Mittelalter überlieferte Denkmuster. Für die Menschen jener Zeiten war es selbstverständlich, dass „diese“ Welt eingebettet war in die unsichtbare Welt von geistigen Wesen: Dämonen, Engel, Götter bzw. Gott. Platon hatte mit seiner Ideenlehre diese Weltsicht in die Philosophie gebracht: die Realität der Welt sind nicht die Dinge der Welt selbst, sondern die Ideen, die geistigen Wirklichkeiten, die diese Dinge hervorbringen und in deren Abhängigkeit die Dinge funktionieren.
Solche Thesen sind uns heute fremd. Für die meisten Menschen unserer Zeit ist diese Welt Realität und nichts anderes. Die Menschen früherer Zeiten konnten sich jedoch nicht anders erklären, warum die Welt so funktioniert wie sie funktioniert. Es brauchte etwas, dass diese Welt auf unsichtbare Weise beherrscht und ordnet, dass sie nicht aus den Fugen gerät. Und schon sind wir bei einer unsichtbaren Welt, die diese sichtbare Welt beherrscht: religiös das Göttliche, philosophisch die Ideen.
Diese Weltsicht wurde spätestens am Ende des Mittelalters zerstört: die Moderne begann in dem Augenblick, in dem der Mensch nicht mehr in das Jenseits und in das Unsichtbare schaute, um diese Welt zu erklären, sondern in die Welt selbst. Die Kirche hat diese Entwicklung nicht mitgemacht, da für sie mit Gott ihr wesentlicher Bezugspunkt Teil des Unsichtbaren und des Jenseits war.
Der Schein der Macht
Diese Weltsicht, die nach modernen Maßstäben eine Vertauschung von Ursache und Wirkung darstellt, hat der Kirche seit jeher große Macht gegeben. Sie war die Sprecherin dessen, was diese Welt dominiert, des großen Geheimnisses, das unsere Welt erklärt. Diese Macht hat etwas Faszinierendes und diese Faszination hält auch heute noch an. Wir Menschen sind aus ganz unterschiedlichen Gründen nicht zufrieden mit dieser Welt und hören auf jemanden, der uns von einer besseren und mächtigeren Welt erzählt, der geheimnisvoll immer wieder auf diese jenseitige Welt verweist und damit eine große, überirdische Macht andeutet. Dieses Überirdische wird nie völlig offen gelegt, es wird gleichzeitig aufgedeckt und verborgen. Die Macht besteht darin, dass man spürt, dass hinter dem, was man da sieht, viel mehr steckt als das, was man sieht. Davon lebte die Kirche genauso wie Andreotti.
Machiavelli schreibt in seinem „Fürsten“ passenderweise, dass der Machthaber seine Macht mit einem „Schein“ versehen soll. Macht besteht nicht darin, die Realität zu zeigen, sondern darin, dass sie zeigt, dass sie mehr ist als die Realität. Denn hier liegt die Quelle der Macht, über die Realität herrschen zu können. Diese Quelle der kirchlichen Macht versiegt allerdings: indem die Menschen immer weniger an Gott glauben, glauben sie auch immer weniger an den, der ihnen von Gott erzählt oder vielmehr mit diesem Gott in der Welt Einfluss ausübt. Die Macht versiegt, die Kirche schwindet.
Das Ende der Macht
Als ich in Italien lebte, lag das Machtsystem Andreottis in seinen letzten Zügen. Seine Welt ging unter, die Zukunft gehörte dem neuen Stern am politischen Himmel Italiens: Silvio Berlusconi. Andreottis Sprachspiele waren zu subtil und zu feinsinnig geworden, das müde Entziffern und zwischen-den-Zeilen-lesen erwies sich immer weniger dem gewachsen, was ein Berlusconi verkörperte: das grelle Licht der Scheinwerfer, gutes Aussehen, schnelle Sprüche und gute Laune. Als ich in Italien lebte, war ich Zeuge dieses Wechsels einer politischen Mentalität.
In dieser zunehmenden Machtlosigkeit Andreottis erkannte ich auch die zunehmende Machtlosigkeit der Kirche in ihrer Sprache und in ihrer Kommunikation. Die Sprache der Kirche wurde überhaupt nicht mehr verstanden. Andreotti wie die Kirche lebten in ihrer Kommunikation von Andeutungen, von einem Geheimnis, das sie nicht vollständig preisgeben wollen, ihnen aber große Macht verlieh. In den heutigen Medien und in der heutigen Kommunikation gibt es kein Geheimnis mehr. Die Mühe, zwischen den Zeilen zu lesen, macht sich heute keiner mehr, weil das, was nicht sofort sichtbar wird, nicht wichtig sein kann. Die Kirche kann und will nicht verstehen, dass ihre Sprache Ausdruck einer Mentalität ist, die nicht mehr verstanden wird und damit stumpf wird. Die Sprache der Kirche ist nicht mehr Ausdruck ihrer Macht, sondern ihrer Machtlosigkeit.
Ganz herzlichen Dank für diesen umfassenden Beitrag zum Thema „Macht“.
Besonders interessant finde ich die aufgezeigte Parallelität von Kirche („Kirchenfürsten“) und Politik „Politikern“) und deren Verhältnis und Spiel mit der Macht. Vielen Dank!