Markt und Moral – geht das überhaupt zusammen?
Vor einigen Monaten wurde in Istanbul der arabische Journalist Jamal Kashoggi auf brutale Weise ermordet – mit großer Wahrscheinlichkeit auf Befehl des saudi-arabischen Kronprinzen Mohammed bin Salman.
Für Ende Oktober war in Saudi-Arabien ein gigantischer Investorenkongress geplant, bei dem es um Milliardenaufträge ging. Viele Unternehmen sagten aus Protest gegen die Regierung in Saudi-Arabien ihre Teilnahme ab, andere zögerten mit der Absage, so auch der Siemens-Konzern. Schließlich sagte auch Siemens ab, aber die Begründung von Siemens-Chef Joe Kaeser für dieses Zögern ist durchaus bedenkenswert.
Kaeser wies zuerst darauf hin, dass es sich um ein „sehr ernstes Thema handelt, bei dem man eigentlich nicht gewinnen kann“, und kam dann zu folgendem Schluss:
„Wenn wir die Kommunikation mit Ländern meiden, in denen Menschen vermisst werden, kann ich einfach zu Hause bleiben, weil ich mit niemandem mehr reden kann.“
Meine Reaktion: der Mann hat recht! Aber was heißt das?
Es ist traurige und bittere Realität, dass die meisten Länder auf der Welt nicht demokratisch sind und keine Rechtsstaaten sind. In den meisten Ländern auf der Welt wird gefoltert, durch staatliche Stellen willkürlich verhaftet und ermordet. Laut Amnesty International wird in 141 Ländern systematisch gefoltert. Die UNO hat 193 Mitgliedsstaaten. Heißt: ¾ der Länder auf der Erde foltern.
Leider hat Joe Kaeser recht: wer international überhaupt Geschäfte machen will, muss ganz offensichtlich mit solchen Ländern Geschäfte machen. Darf man dann aber mit solchen Ländern Geschäfte machen?
Joe Kaeser reißt mit seinen Äußerungen eine sehr wichtige Frage an: wie verhalten sich Markt und Moral zueinander? Geht das eigentlich zusammen? Das ist die zentrale Frage einer jeden Wirtschafts- und Unternehmensethik.
Das moralische Dilemma
Diese Frage ist durchaus berechtigt, denn sie stellt sich jedem Unternehmer und jedem Entscheidungsträger in der Wirtschaft immer wieder. Moral ist teuer.
Dabei geht es natürlich oft um viele kleine Dinge. Hier gilt: moralisches Handeln zahlt sich mittelfristig aus und das ist sogar belegbar. Im Vertrauen der Kunden. Im Vertrauen der Mitarbeiter. Im Image des Unternehmens.
Was ist aber mit den großen Dingen? Es gibt Situationen, in denen moralisches Handeln sehr schwere und sehr negative Konsequenzen hat. In denen man – wenn man wirtschaftlich handeln will – eigentlich unmoralisch handeln muss.
Was ist, wenn man in einem Land nur eine Niederlassung gründen kann, wenn man den Beamten in der Behörde besticht?
Wenn man international agieren will, aber ¾ der Staaten offensichtlich verbrecherisch handeln?
Wenn alle Konkurrenten Niederlassungen in Ländern haben, in denen sie unter unmenschlichen Bedingungen, aber eben unschlagbar billig produzieren können?
Bei diesen Dingen geht es vielleicht um die Existenz eines Unternehmens: was wäre, wenn Siemens oder Daimler nur noch in demokratischen Rechtsstaaten aktiv sind? Soll man Arbeitsplätze opfern für die Moral? Oder das ganze Unternehmen?
Diese Fragen sind massiv, berechtigt und nicht leicht zu beantworten. Wenn sie denn überhaupt eindeutig zu beantworten sind.
Dieses Dilemma ist nicht nur ein Dilemma der Wirtschaft, sondern noch vielmehr ein Dilemma der Politik. Wenn Kaeser den Vertrag unterschreibt, sitzt die Regierung mit am Tisch (wie oben zu sehen). Hieraus ergibt sich noch zusätzlicher Druck auf die Wirtschaft: wie kann man einen Vertrag nicht unterschreiben, den die Regierung mit herbeigeführt hat um die nationale Wirtschaft zu stärken?
Dieses Dilemma ist auch das Dilemma der Konsumenten: wie soll sich der Konsument verhalten, der sich nur das günstige Produkt erlauben kann, das aber unter ethisch sehr bedenklichen Umständen hergestellt wurde? Abgesehen davon, dass der normale Konsument erst einmal günstig einkaufen will.
Die Modelle der Wirtschaftsethik
Die klassische Wirtschaftsethik kennt inhaltlich drei Modelle, mit denen sie auf das Problem von Markt und Moral zugeht:
1.) Von der Ethik zur Wirtschaft:
Es gibt Prinzipien und Grundwerte der Ethik, die immer gültig sind: Menschenrechte usw. Von diesen Prinzipien aus wird die Wirtschaft beurteilt und auf diese Prinzipien hin hat die Wirtschaft zu agieren.
Natürlich gibt es universale Werte, die überall gültig sind: aber was, wenn die Wirtschaft diesen Werten nicht überall folgen kann und will? Regeln von oben herab? Und welche Werte sind eigentlich universal und welche nicht? Kann und soll die Wirtschaft zum Sklaven der Ethik werden?
2.) Von der Wirtschaft zur Ethik:
Die Wirtschaft funktioniert in einer bestimmten Art und Weise. Ich muss erst einmal von der Realität der Wirtschaft ausgehen und kann dann fragen, welche moralischen Regeln überhaupt anwendbar und sinnvoll sind.
Natürlich darf es keine Ethik geben, die völlig neben der Realität steht. Aber was heißt es, die Ethik auf die Realität hin zu entwerfen? Kann ich dann überhaupt die Realität kritisieren? Kann die Realität nicht auch unethisch und unmoralisch sein, so dass man sie kritisieren muss? Wird die Moral dann nicht zur Sklavin der Wirtschaft?
3.) Integrative Ethik
Das Modell der „integrativen Ethik“, das von Peter Ulrich vorgetragen wurde, versucht beide Bereiche – Ethik und Wirtschaft – zu verbinden. Die Wirtschaft ist selbst etwas ethisch Sinnvolles, weil es nicht nur um Gewinne, sondern um das Schaffen von Werten geht. Damit ist die Wirtschaft kein Selbstzweck, sondern im Dienst des menschlichen Lebens. Aus dieser Perspektive werden die genannten Probleme handhabbar: Markt und Moral gehören zusammen.
Prinzipiell ist der Grundansatz der richtige: er nimmt aber zu wenig ernst, wo der Markt unmoralisch ist: was man nicht getrennt sieht, kann man auch nicht zusammenbringen.
Das Anwendungsmodell
Die meisten Vertreter der Wirtschaftsethik bevorzugen mittlerweile eine Mischung aus den oben genannten Modellen, das man als „Anwendungsmodell“ oder „Wirtschaftsethik als angewandte Ethik“ bezeichnet.
Erst einmal: es gibt ethische Prinzipien und Normen, die universal gültig sind. Die Frage ist nun, wie verhalten die sich zur Realität der Wirtschaft. Wenn von „Anwendung“ gesprochen wird, dann heißt das, dass diese ethischen Prinzipien nicht aufgedrückt werden, sondern erst einmal die Möglichkeit bieten, eine Situation zu beurteilen.
Die Vorgehensweise ist also nicht mehr diejenige, der Wirtschaft Menschenwürde zu predigen, sondern zu schauen, wo es Orte gibt, an denen gegen die Menschenwürde verstoßen wird, warum dies so ist und dann zu überlegen, wie Wirtschaft so gestaltet werden kann, dass sie zu menschenwürdigeren Verhältnissen beiträgt.
Im Fokus steht also die ethische Analyse der Wirtschaft, nicht die Konfrontation mit Forderungen, die keiner einhalten kann oder will.
Siemens und Saudi-Arabien
Was heißt dies konkret? Z. B. bezogen auf Joe Kaeser, Siemens und Saudi-Arabien?
Was passiert, wenn Siemens NICHT die Verträge abschließt?
Vermutlich schließt die Verträge jemand anders ab, aber vielleicht jemand, der nicht so gute Produkte anbietet wie Siemens.
Die Frage: bekommt Siemens wirtschaftliche Schwierigkeiten, wenn sie in Saudi-Arabien nicht abschließen?
Kann Siemens diesen wirtschaftlichen Nachteil in einen öffentlichen Vorteil umwandeln (der dann auch wieder zum wirtschaftlichen Vorteil werden kann)? Durch das Image eines ethisch sauberen Konzerns, der eben nicht auf den schnellen Dollar schaut?
Was passiert, wenn Siemens abschließt?
Der Abschluss eines milliardenschweren Vertrags mit Saudi-Arabien hat nicht nur wirtschaftliche, sondern auch ethische Effekte: unter anderem den, in der Situation nach dem Mord an Kashoggi das Regime in seinem Tun zu bestärken. Abgesehen von diesem speziellen Zeitpunkt ist es so, dass ein autoritäres Regime durch öffentliche Anerkennung (Siemens-Verträge mit Saudi-Arabien, Merkel-Besuche bei Erdogan in seinem Wahlkampf) immer nach innen gestärkt wird.
Desweiteren ist zu schauen: wie hoch ist eigentlich das Risiko, in einem Land zu investieren, das kein Rechtsstaat ist? Welche Sicherheiten gibt es eigentlich für die Investitionen, die dort getätigt werden?
Vor allem jedoch ist die Frage zentral, welche Konsequenzen ein Engagement für das ethische Selbstverständnis des Konzerns hat.
Dies ist nicht nur eine Imagefrage, sondern überhaupt eine Frage, mit welcher Legitimität das Unternehmen vor allem auch gegenüber den eigenen Mitarbeitern auftreten kann: wie will das Unternehmen intern wie extern ethische Grundwerte durchsetzen, wenn diese anscheinend gegenüber einem guten Geschäft von untergeordneter Bedeutung sind?
Es ist ein Abwägen, bei dem es – da hat Joe Kaeser recht – keine Gewinner gibt, aber dieses Abwägen ist eben nicht nur dasjenige: wieviel Geld mache ich und wieviele Arbeitsplätze sichere ich, sondern hat sehr viel mehr Faktoren einzubeziehen:
Inwiefern stärkt oder schwächt das unternehmerische Handeln die demokratische oder menschenrechtliche Situation im Land?
Welche mittel- und langfristigen Folgen ergeben sich aus dem unternehmerischen Handeln für das Image und für das ethische Selbstverständnis des Unternehmens? Gegenüber der Öffentlichkeit, gegenüber den Kunden, aber auch gegenüber den eigenen Mitarbeitern?
Welche Werte hat mein Unternehmen und stimmt das unternehmerische Handeln des Unternehmens mit diesen Werten überein?
Fazit
Es geht in einer ethischen Analyse weder darum, ein Unternehmen mit Vorwürfen zu überhäufen, noch geht es darum, ein Unternehmen von ethischem Fehlverhalten freizusprechen.
Es geht darum, klar zu benennen, wo Schwierigkeiten vorliegen und Wege zu überlegen, diese Schwierigkeiten zu bekämpfen. Unternehmen stecken oft in einem ethischen Dilemma, für das es keine einfache Lösung gibt. Es geht darum, das wirtschaftliche Handeln einer ethischen Überprüfung zu unterziehen und das Unternehmen auf die sehr vielschichtigen Konsequenzen seines Handelns hinzuweisen. Daraus können sich dann konkrete Lösungen ergeben, die zwar das grundsätzliche Dilemma nicht komplett beseitigen, aber wirtschaftlich vernünftig und ethisch vertretbar sind.
Literaturempfehlungen:
Aßländer, Michael S. (Hg.): Handbuch Wirtschaftsethik.
Göbel, Elisabeth: Unternehmensethik. Grundlagen und praktische Umsetzung.
Ulrich, Peter: Integrative Wirtschaftsethik: Grundlagen einer lebensdienlichen Ökonomie.