In der letzten Woche, am 15.10., jährte sich der Geburtstag von Friedrich Nietzsche zum 175. Mal. Grund genug, einen Blick auf diesen Philosophen zu werfen, der wie kein anderer Genie und Wahnsinn vereint – und zum Glück lange Zeit als Genie schreiben konnte, bevor er völlig dem Wahnsinn verfiel.

Nietzsche 1882, Quelle: www.wikipedia.org

Nietzsche wurde am 15.10.1844 in Röcken (Sachsen-Anhalt) geboren, bereits mit 24 Jahren wurde er Professor für klassische Philologie in Basel. Aus gesundheitlichen Gründen legte er sein Amt bereits 10 Jahre später nieder, reiste durch Europa und verfasste verschiedene Schriften, die allerdings erst einmal wenig erfolgreich waren. Hierbei schuf er kein systematisches, konsequent durchdachtes wissenschaftliches Werk, sondern schrieb in romanhaften Handlungen und Aphorismen, welche oft messerscharf und größenwahnsinnig zugleich waren.

Sein geistiger Zustand verschlimmerte sich zusehends, am 3. Januar 1889 erfolgte in Turin der psychische Zusammenbruch. Nietzsche wurde zuerst nach Basel und dann nach Weimar in ein Sanatorium gebracht, wo er am 25.8.1900 in völliger geistiger Umnachtung starb – mittlerweile von ganz Europa als einer der bedeutendsten Philosophen und Schriftsteller verehrt.


Der Prophet der Moderne

Habt ihr nicht von jenem tollen Menschen gehört, der am hellen Vormittag eine Laterne anzündete, auf den Markt lief und unaufhörlich schrie: „Ich suche Gott! Ich suche Gott!“

Da dort gerade Viele von Denen zusammenstanden, welche nicht an Gott glaubten, so erregte er großes Gelächter. „Ist er denn verloren gegangen?“ sagte der eine. „Hat er sich verlaufen wie ein Kind?“ sagte der Andere. „Oder hält er sich versteckt?“ „Fürchtet er sich vor uns?“ … so schrien und lachten sie durcheinander.

Der tolle Mensch sprang mitten unter sie und durchbohrte sie mit seinen Blicken. „Wohin ist Gott?“, rief er, „Ich will es euch sagen! Wir haben ihn getötet, ihr und ich! Wir alle sind seine Mörder!

Aber wie haben wir das gemacht?

Wer gab uns den Schwamm, um den ganzen Horizont wegzuwischen? Was taten wir, als wir diese Erde von ihrer Sonne losketteten? Wohin bewegt sie sich nun? Wohin bewegen wir uns? Stürzen wir nicht fortwährend? Gibt es noch ein Oben und ein Unten? Irren wir nicht wie durch ein unendliches Nichts? Haucht uns nicht der leere Raum an? Ist es nicht kälter geworden? Kommt nicht immerfort die Nacht und noch mehr Nacht?

Gott ist tot! Und wir haben ihn getötet!

 Diese weltberühmte Szene des „Gott ist tot!“, die Nietzsche in seiner „Fröhlichen Wissenschaft“ erzählt, ist vielleicht die genialste Diagnose, die je über die europäische Moderne geschrieben wurde.

Es ist erst einmal die Diagnose des Todes Gottes. Das Religiöse verschwindet, der Glaube an Gott geht zurück, die christlichen Kirchen werden zusehends zu leeren Hüllen, Gott ist tot. Aber dieser Tod Gottes, so Nietzsche, geht nicht spurlos an den Menschen vorüber: sie stürzen ab, sie verlieren sich, sie werden haltlos, sie taumeln. Gott hat eine Lücke hinterlassen, die der moderne Mensch nicht füllen kann.

Nietzsche besaß wie nur wenige andere Menschen die Fähigkeit zu erkennen, dass sich in der Gesellschaft ein grundlegender Wandel anbahnt, ein Wandel, der einem nicht sofort ins Gesicht springt, sondern der sehr leise, aber sehr mächtig alles umkehrt, was bis dahin wichtig war: ein Wandel bei den Menschen, wie sie die Welt sehen und die Welt erklären. Das wahrzunehmen, ist die Kernaufgabe der Philosophie.

Nietzsche als junger Professor, Quelle: www.wikiquote.org

Nietzsche spürte, dass die religiöse Kraft seiner Zeit hohl und leer geworden war. Die Menschen glaubten nicht mehr daran, dass das Göttliche aktiv das Leben beeinflusst, die Religion wurde zu einer moralischen, war aber nicht mehr spirituelle Substanz. Gläubiges Leben definierte sich über die Erfüllung religiöser Vorschriften, nicht mehr aus dem Gefühl heraus, vom Göttlichen umgeben zu sein.

Religion hieß im 19. Jahrhundert zusehends: die Befolgung der religiösen Vorschriften entscheidet über die Nähe zu Gott. Nietzsche nahm das wahr und er wusste, dass dies das Ende der Religion ist bzw. der „Tod Gottes“.

Hieraus, so Nietzsche, ergibt sich die Not, sich etwas Neues zu schaffen, an das man glauben kann. Das Aufkommen von politischen Ersatzreligionen – vom Kommunismus bis zum Nationalsozialismus – ist vor diesem Hintergrund zu interpretieren.

Nietzsche hat sehr präzise den Verlust des Religiösen beschrieben – der vielleicht ein notwendiger Verlust war, aber eben nicht spurlos an den Menschen vorbeigehen konnte. Die denkerischen Konsequenzen, die Nietzsche hieraus zog, etwa „Der Über-Mensch“, sind sicherlich in einer sehr unguten Weise interpretierbar, wie es ja auch von den Nazis getan wurde. Heutige Bemühungen einer ständigen, auch biologischen Verbesserung des Menschen im Rahmen des „Human Enhancement“ verschaffen Nietzsche eine neue Aktualität und machen ihn in neuer Weise zum Propheten der Moderne.


Fazit

Wenn ich auf die Philosophen zurückblicke, die mir am meiste gegeben haben und von denen ich am meisten lernen konnte: Nietzsche gehört zu ihnen.

Vor allem zwei Dinge sind es, die ich von ihm mitgenommen habe und aus denen sich – so denke ich – noch immer aktuelle gesellschaftliche Herausforderungen ergeben:

1.) Der Verlust des Religiösen: Glaube durch Ethik? Nicht Ethik durch Glauben?

Gerade in meiner Vergangenheit als katholischer Priester habe ich mich natürlich sehr dafür interessiert, womit der überall greifbare Glaubensverlust zusammenhängt und welche Konsequenzen sich daraus für die Kirche ergeben. Nietzsches Diagnose der zunehmenden Gottes-Entleerung und der zunehmenden Moralisierung und Verrechtlichung der Kirche ist meiner Meinung nach zutreffend. Spätestens seit dem 19. Jahrhundert definierten sich die beiden christlichen Kirchen in ihrer Verkündigung als ethisch-moralische Instanzen. Ethik in einer Religion muss aber Folge eines Glaubens an Gott sein, nicht die Grundlage. Eine Religion, die sich über Regeln definiert, gibt sich selbst auf.

Folgende Zeilen Nietzsches (aus „Der Antichrist“) über Christus – die ich persönlich für eine der großartigsten Definitionen des Christentums überhaupt halte – mögen den Unterschied deutlich machen zwischen Christus und dem damaligen und heutigen Christentum:

„Dieser frohe Botschafter starb wie er lebte. Er widersteht nicht, er verteidigt nicht sein Recht, er tut keinen Schritt, der das Äußerste von ihm abwehrt, mehr noch: er fordert es heraus. Und er bittet, er leidet, er liebt mit denen, die ihm Böses. Nicht wehren, nicht zürnen, nicht verantwortlich machen, auch nicht dem Bösen widerstehen, ihn lieben. … Das echte, das ursprüngliche Christentum wird zu allen Zeiten möglich sein.“

Frage an das heutige Christentum: lebt Ihr das so?

 

Quelle: www.bbc.co.uk

2.) Der Verlust des geistigen Fundamentes der modernen Gesellschaft.

Die Religion gab der Gesellschaft ein Fundament: die Menschen verfügten über einen Wertekanon, an dem sie sich orientieren konnten. Über den kann man im einzelnen streiten, aber man wußte instinktiv, warum ein Mensch auf der Erde herumläuft und was er dort soll. Das ist vorbei – und diese Entwicklung musste auch so sein -, aber blieb eben nicht folgenlos. Das geistige Fundament war auf einmal weg.

Geistig heißt nicht geistlich. Es geht nicht um etwas Religiöses, es geht um den inneren Kompass.

Die gesellschaftliche Aufgabe, die sich aus diesem Verlust ergibt: wie kann den Menschen eine innere Grundlage vermittelt werden, die sie fähig macht, in der Gesellschaft zu leben? Die sie befähigt, in ihrem Leben einen Sinn zu erkennen? Die sie befähigt, in sich und in jedem anderen Menschen ein wertvolles Wesen zu erkennen, das unabhängig von Gesundheit, Geschlecht, Alter, Religion oder Ethnie über eine unverlierbare Würde verfügt?

Nietzsche sah diese große Lücke, welche die Religionen hinterlassen und offensichtlich bis heute nicht mehr füllen können. Frage an die Gesellschaft heute: Wie können wir diese Lücke neu füllen? Dass nicht etwa rassistische oder sonstige inhumane Ideologien sie zu füllen versuchen?

 

Nietzsche war ein Prophet der Moderne. Er sah in seiner brutalen und schonungslos-präzisen Weise den Untergang des alten christlichen Europas und die Ankunft des neuen Europas: zwar gewaltig im technischen und wissenschaftlichen Fortschritt, gleichzeitig aber auch innerlich hilflos und taumelnd, nervös hin und her springend, nach einer neuen Mitte suchend.

Nietzsche hat vielleicht wenig Lösungen aufgezeigt, die sind unsere Aufgabe heute. Aber alleine für diese Diagnose sollten wir ihm dankbar sein.

 

Literaturempfehlungen:

Gerhardt, Volker: Friedrich Nietzsche.

Nietzsche, Friedrich: Hauptwerke.

Safranski: Nietzsche. Biographie seines Denkens.