Was ist die Aufgabe des Philosophen?

Seine Aufgabe besteht darin, aufmerksam in die Gesellschaft zu schauen, vielleicht Dinge wahrzunehmen, die sonst übersehen werden, sie zu sortieren und zu bewerten. Oder, um mit Hegel zu sprechen: „Die Philosophie ist ihre Zeit in Gedanken gefasst.“

Ein Mann, der in einem solchen Sinne Philosophie betreibt und dies auch sehr mächtig und einflussreich tut (und zudem auch Philosophie studiert hat), ist Peter Thiel.

Peter Thiel

Donald Trump und Peter Thiel, Quelle: heute.at.

Thiel ist 1967 in Frankfurt geboren und gelangte als Gründer verschiedener Unternehmen (u.a. PayPal) sowie auch als Investor (erster externer Kapitalgeber von Facebook) zu einem milliardenschweren Vermögen. Der Öffentlichkeit bekannt wurde er in den letzten Jahren vor allem als Unterstützer von Donald Trump und James D. Vance.

In den letzten Monaten fiel er zudem mit etwas eigenwilligen religiösen Botschaften auf, wenn er etwa über das „Kommen des Antichristen“ sprach.

Doch wäre es zu einfach, ihn als neureichen, religiösen Spinner abzutun. Dafür ist Thiel zum einen zu einflussreich und zum anderen unterschätzt man die Konsistenz seines Denkens: all seine Widersprüchlichkeiten sind nur oberflächlich. Thiel folgt einem genauen Plan und einer genauen Logik.

Carl Schmitt und René Girard

Wichtige Inspirationsquellen für Thiel waren der deutsche Staatsrechtler Carl Schmitt sowie der französische Anthropologe René Girard. Insbesondere Girards Motiv der „mimetischen Gewalt“ sollte Thiel beeindrucken.

Carl Schmitt (1888-1985), Quelle: wikimedia.

Die Menschen, so Girard, begehren deshalb etwas Bestimmtes, weil sie sehen, dass andere es begehren. Dieses Begehren wird nachgeahmt (griechisch: „Mimesis“) und führt dann zu Konflikten und zur Gewalt untereinander, da eben dieselben Sachen von verschiedenen Menschen begehrt werden. Dieser Kreislauf der Gewalt wird durch das Opfern eines Sündenbocks durchbrochen: er kanalisiert die Gewalt und schafft so die Möglichkeit eines gesellschaftlichen Zusammenlebens.

Von Girard übernimmt Thiel ein zentrales Motiv: eine Gesellschaft, die auf Konkurrenz und der Freiheit der Einzelnen aufgebaut ist, führt zu Gewalt und Untergang. Was dann eben auch die Demokratie betrifft, die der Sargnagel einer Gesellschaft ist.

Zusammen mit Carl Schmitt  – der dem Nationalsozialimus nahe stand und als scharfer Kritiker der parlamentarischen Demokratie gilt – kann Thiel ein Untergangsszenario der modernen, auf Fortschritt und Liberalität ausgerichteten Gesellschaft entwerfen.

Wie kann dieser Untergang aufgehalten werden? Hier greift Thiel mit Carl Schmitt auf einen Begriff zurück, der ursprünglich von Paulus im Neuen Testament (2 Thess, 2,6-7) erwähnt wird: dem „Katechon“. Dieser „Katechon“ ist bei Paulus der „Aufhalter“, der die Macht des Anti-Christen in der Welt „aufhält“ und damit die Heraufkunft des Reiches Gottes ermöglicht. Bei Schmitt ist das Christentum selbst dieses „Katechon“ insofern es die Aufgabe hat, den Verfall unserer modernen Gesellschaft aufzuhalten.

Mimesis und Katechon

Thiel – der einen klar christlich-evangelikalen  Hintergrund hat – greift nun verschiedene Motive dieser Denker auf und mischt sie zu folgendem Weltbild: unsere moderne, westliche, liberale Gesellschaft ist krank und dem Untergang geweiht. Sie geht an dem kaputt, was Girard als „mimetisch“ beschrieben hat: dem freien Spiel der Menschen untereinander, das letztlich in Gewalt und Unfreiheit enden muss.

René Girard (1923-2015), Quelle: wikimedia.

Dieses Spiel muss unterbrochen werden durch einen „Katechon“: durch das Christentum mit seinen Werten und durch den technologischen Fortschritt. Beide stehen für die Überwindung eines Individualismus, der letztlich durch Neid und Gewalt zu einer neuen Uniformität führt: inhaltsleer und sinnlos.

Was diesen Totentanz der Freiheit und des Liberalismus aufhalten kann, ist eine klare Ordnung, wie sie inhaltlich vom Christentum und technologisch von den Superfirmen des Silicon Valley getragen und notfalls mit Gewalt durchgesetzt werden soll.

Die liberale Demokratie mit ihren Parlamenten, übernationale Einrichtungen wie die UN oder die EU sind die Stütze, was die westlichen Gesellschaften in den Ruin treibt und muss entsprechend bekämpft werden. Mit allen Mitteln. Auch mit Gewalt.

In den letzten Jahren hat sich der Ton von Thiel deutlich verschärft: er schlägt einen immer fundamentalistischeren Ton an, es wird immer apokalyptischer: der Anti-Christ will die Macht übernehmen, die liberalen Demokratien mit ihrem Werteverfall sind die Diener dieses Anti-Christen. Es braucht einen „Katechon“, der diesen Anti-Christen aufhält und er, Thiel, will ihn schaffen durch die Installation einer Regierung, die sich allein an den christlichen Werten und am technischen Fortschritt orientiert.

Thiels Thesen klingen in vielem verstörend und faszinierend zugleich. Was steckt dahinter und wie tragfähig sind seine Thesen?

Der Untergang des Westens

Thiel sieht die westlichen Kulturen als im Untergang begriffen. Dieses Gefühl teilt er mit vielen Menschen, die angesichts der Globalisierung, angesichts des Zusammengehens verschiedener Kulturen, angesichts einer immer schneller voranschreitenden Technisierung und einem flächendeckenden Rückzug des Christentums vieles von dem verschwinden sehen, was eigentlich als Fundament der eigenen Kultur galt.

Oswald Spengler (1880-1936), Quelle: wikimedia.

Die Diagnose des Untergangs der westlichen Gesellschaft ist seit mittlerweile über 100 Jahren präsent und hat im berühmten Werk von Oswald Spengler von 1918 („Der Untergang des Abendlands“) seinen prominentesten Niederschlag gefunden. Dass diese These nun seit über 100 Jahren vertreten wird, ohne dass das Abendland wirklich untergegangen ist, mag zwar empirisch korrekt sein, hat dieser These aber nicht seine Kraft nehmen können.

Diese These lebt bis heute – nicht nur bei Thiel – von einem verbreiteten Unwohlsein angesichts vieler neuer Entwicklungen, die das infrage stellen, was eigentlich als unumstößlich galt. Die Frage ist zum einen, ob man gesellschaftliche Veränderungen – die es immer (!) gegeben hat – immer nur als Untergang interpretieren muss. In diesem Zusammenhang muss zudem gefragt werden, ob es das vermeintlich Untergehende überhaupt in dieser Form gegeben hat: gab es früher ein christliches Paradies? Oder ein wirklich reines, kulturell oder rassisch für sich abgeschlossenes Vaterland?

Schließlich ist die Frage zu stellen, ob dieser Untergang in seinen Ursachen richtig diagnostiziert ist. In der Tat kann man feststellen, dass bestimmte Bildungstechniken und -kennzeichen (Bücher lesen, Konzentrationsfähigkeit …) den Bach runter gehen. Jeder Lehrer wird es bestätigen. Unsere Gesellschaften erscheinen in vielem leer und oberflächlich zugleich. Dieser Diagnose würde ich sogar zustimmen. Die Frage ist jedoch, ob dafür in der Tat der Untergang des Christentums verantwortlich ist, wie Schmitt und Thiel diagnostizieren. Die immer weiter voranschreitende Kommerzialisierung, die alles und jedes nur auf ihre Nutzbarkeit hin interpretiert, käme da als Verdächtiger vielleicht auch in Frage. Die vielleicht aber nicht erwähnt wird, da Thiel genau diese selbst vorantreibt und durch sie zum mehrfachen Milliardär wurde. PayPal und Facebook lassen grüßen.

Christentum

Thiel sieht im Untergang des Christentums den Untergang der westlichen Gesellschaften und in der Wiederherstellung der Macht des Christentums die Rettung der christlichen Gesellschaften. Nun ist die spannende Frage: welches Bild hat Thiel vom Christentum?

Peter Thiel, Quelle: wikimedia.

Er sieht das Christentum – anknüpfend an die Formulierung des Paulus an einer (!) Stelle eines Briefes – als Aufhalter des Antichristen. Das ist eine sehr funktionale Beschreibung des Christentums, die mit seiner Botschaft eigentlich nicht viel zu tun hat. Natürlich gab es eine apokalyptische Ebene des Christentums, die aber zu Recht im Laufe der Zeit verschwand. Die Welt ging eben nicht unter.

Die christliche Botschaft spricht in der Tat von der Heraufkunft eines neuen Reiches. Aber was ist das Kennzeichen des Reiches Gottes? Die Herrschaft der Liebe. Von Liebe oder Nächstenliebe ist bei Thiel nirgends die Rede.

Die Herrschaft Gottes bei Thiel wird nicht im, sondern gegen das Volk durchgesetzt. Dies widerspricht der Botschaft Jesu (der übrigens auch von Thiel so gut wie gar nicht erwähnt wird, da wohl zu woke und nächstenliebend). Wenn Jesus davon spricht, dass nicht der Mensch für das Gesetz (Gottes), sondern das Gesetz für den Menschen da ist, dann ist klar, dass das Christentum nie eine Richtung haben darf, die Gott gegen die Menschen ausspielt.

Vielheit und Einheit

Thiel erkennt in der Vielheit die Wurzel allen Übels; sie ist der Ursprung für Konflikte und Gewalt und verhindert ein effektives Zusammen. Entsprechend ist die Demokratie als Form einer Vielheit zu überwinden und ein autoritäres Regime zu installieren. Dies gilt auch für die Wirtschaft: hier sieht Thiel den wirtschaftlichen und technischen Fortschritt nicht in der Konkurrenz, sondern in starken Monopolisten verortet.

Ganz abgesehen davon, dass Fortschritt und Erfindungen historisch und empirisch wahrnehmbar nicht durch große Monopolisten, sondern im freien Wettbewerb entstehen, ist Thieles Haltung insbesondere auf die Regierungsform mehr als bedenklich. So richtig es ist, dass viele Konflikte in der Vielheit ihren Ursprung haben: die Herstellung und Durchsetzung einer Einheit ist sehr viel konfliktreicher. Es ist ein Zirkel: Thiel warnt vor Vielfalt, weil in dieser durch Gewalt eine Einheit, eine „Uniformität“ entstehen würde – und propagiert stattdessen eine Einheit, die notfalls mit Gewalt herzustellen ist.

Der „Hyper-Mensch“

Thiel strebt einen neuen „Hyper-Menschen“ an. Dies erinnert nicht ohne Zufall an den „Über-Menschen“ Nietzsches. Thiel sieht im „Hyper-Menschen“ im Sinne des Transhumanismus ein unsterbliches Wesen, das technisch immer weiter perfektioniert wird und in einer geistigen Digitalität ewig leben soll. Die Menschen, die zu diesem Schritt nicht bereit oder in der Lage sind, spielen keine Rolle: es zählen nur die Stärksten und Besten. „Je intensiver man sich um Opfer kümmert“, so Thiel, „desto mehr Opfer produziert man.“ Ist das christlich?

Nirgendwo wird Thiels Distanz zum Christentum deutlicher, das sich ja zu einem Gott bekennt, der sich selbst erniedrigte, nicht erhöhte. Der sich selbst wörtlich „opferte“. Das Christentum spricht davon, dass der Mensch in der Nächstenliebe und im Geben zu Gott findet, nicht im Nehmen und Selbsterhöhen.

Man muss nüchtern konstatieren, dass Thiel in einer maßlosen Selbstüberschätzung spricht und lebt. Es ist die libertäre Selbstüberschätzung zu glauben, dass man nur selbst für den Erfolg verantwortlich ist – der nur entstehen konnte, weil man an staatlichen Universitären ausgebildet wurde und seine Unternehmen und Vermögen in einem sicheren Rechtsstaat aufbauen konnte.

Thiels sog. „Philosophie“ ist letztlich nur eine Anreicherung einer narzisstischen Selbstüberschätzung mit philosophischen und religiösen Motiven, die vor allem in seinem Bild vom Christentum deutlich wird. Greller kann man die Botschaft des Christentums nicht verzerren, als wenn man die Verachtung von Opfern und die Überhöhung von Helden als christliche Botschaft propagiert. Der christliche Gott ging nach unten, nicht nach oben.

Fazit

Thiel greift ein Unwohlsein auf, das durchaus verbreitet ist: ein Unwohlsein angesichts weitgreifender gesellschaftlicher Veränderungen, die überall sichtbar sind: in der Globalisierung, Digitalisierung usw. Gleichzeitig war Thiel in seinen Unternehmungen sehr erfolgreich und spricht damit in der Autorität eines Menschen, der weiß, worum es wirklich geht. Und wenn dies noch mit philosophischen und theologisch-religiösen Begründungen versehen wird, dann ist die Wirkung umso größer.

Peter Thiel, Quelle: wikimedia.

Thiels Diagnose über die Ursachen der aktuellen gesellschaftlichen Krisen sind genauso fragwürdig und unbelegt wie seine Thesen über das Wesen des Christentums, die eigentlich allem widersprechen, was das Neue Testament über Jesus erzählt. Thiel bedient sich einzelner Elemente philosophischer oder biblischer Autoren, reißt sie aus dem Kontext und zimmert sie zu einer neuen Lehre zusammen. Doch auch wenn in der Mathematik Minus mal Minus Plus ergibt, ergibt sich aus verschiedenen falschen Voraussetzungen keine tragfähige Lehre.

Thiel kokettiert mit dem Gefühl, dass alles den Bach runter geht und wir nur gerettet werden können durch das Christentum und die Technik. Alleine diese Doppelung wirft bereits Fragen auf und lässt sich inhaltlich nicht begründen. Die einzige Verbindung beider ist er selbst: mit seinem Anspruch als Christ und technikaffiner Unternehmer. So erscheinen seine Thesen letztlich als bewusste oder vielleicht sogar unbewusste Verschleierung des eigentlichen Zieles seiner „Philosophie“: er selbst.