Wenn ich jemandem erzähle, dass ich in Rotterdam lebe, dann ist immer entscheidend, ob und wann er diese Stadt besucht hat. Wenn es 30 Jahre oder so her ist, kommt pures Mitleid: „Was eine hässliche Stadt!“ Und es stimmt. Rotterdam war hässlich. Potthässlich.
Heute zählt die „New York Times“ Rotterdam zu den zehn Orten auf der Welt, die man gesehen haben muss.
Was ist passiert? Was ist Rotterdam für eine Stadt?
Rotterdam war viele Jahrhunderte eine normale Hafenstadt in Süd-Holland. Weniger bedeutend als das große Amsterdam weiter in Norden, zu dem bis heute eine mehr als schwierige Beziehung besteht, die man nur als Hassliebe bezeichnen könnte, wenn es immerhin einen Funken Liebe geben würde.
Amsterdam, sagt man, ist eine Stadt mit Hafen, Rotterdam ist ein Hafen mit Stadt.
Und dieser Hafen wurde im 19. Jahrhundert richtig groß, vor allem angetrieben durch den Aufstieg des Ruhrgebiets rheinaufwärts, dessen Produkte über Rotterdam in die ganze Welt verschifft wurden und dessen Hafen zum größten in der Welt wurde (bis 2004 die Chinesen mit Shanghai vorbeizogen).
Seitdem ist Rotterdam das industrielle Zentrum der Niederlande:
„In Rotterdam wird das Geld verdient, in Den Haag verteilt und in Amsterdam ausgegeben“, so der Rotterdamer Dichter und selbsternannte „Nachtbürgermeister“ Jules Deelder (1944-2019).
Rotterdam wurde zu der Hafenstadt schlechthin, mit entsprechend rauer und schnörkelloser Mentalität.
Zerstörung im Krieg
Dann kam der 14. Mai 1940, ein sonniger schöner Dienstagnachmittag, der in wenigen Minuten zur Hölle wurde.
Die deutsche Luftwaffe griff im Rahmen ihres Westfeldzugs die Niederlande an und ließ die gesamte Rotterdamer Innenstadt in einem tödlichen Feuerhagel untergehen. Dass die Niederlande bereits die Kapitulation angeboten hatten und die Luftwaffe trotzdem ihre Bombenlast über Rotterdam entlud, macht dieses Inferno umso bitterer.
Rotterdam war eine Stadt, der man das Herz herausgerissen hat: in der ehemals pulsierenden, lebendigen Mitte der Stadt klaffte ein riesiges, ödes und weites Loch.
“Sterker door strijd”
Nach dem Krieg beginnt der Wiederaufbau der Stadt und in der Haltung, wie die Rotterdamer ihre Stadt wiederaufbauen, wird etwas Besonderes sichtbar: ein ungeheurer Kampfeswille, eine Mentalität des „Jetzt erst recht! Wir zeigen es allen! Wir lassen uns nicht unterkriegen!“
Seit 1948 führt Rotterdam den Spruch „Sterker door strijd“ (Stärker durch Kampf) im Stadtwappen, und dieser Spruch ist nicht nur ein konstruiertes Motto, es ist die Mentalität der Stadt. Mit ungeheurer Energie bauen die Rotterdamer ihre Stadt wieder auf, nicht gerade schön, aber Schönheit ist eh Luxus.
Die Rotterdamer bauen die Innenstadt nicht wieder auf, sie bauen sie neu. Das ist ein Unterschied. Die Straßen werden breiter angelegt, alte Kanäle werden zugeschüttet, auf dem Reißbrett entsteht eine völlig neue Stadt, die mit der alten nichts mehr zu tun hat
Der Schriftsteller Alfred Kossmann (1922-1998) beschreibt die Rotterdamer nicht unbedingt schmeichelhaft:
„Wir Rotterdamer kennen den sicheren, langsamen Stil der Selbstzufriedenheit nicht, wir sind ruhelos in unserer Eitelkeit, anfällig für Effekthascherei, misstrauisch, leicht beleidigt, immer noch Provinzler, die nicht an die Stadt und den Sinn für Urbanität glauben. Unsere Stadt ist “ungeistig”, und das ist nicht das Schlimmste, sie ist auch sinnentleert, prüde, freizeitfaul, brutal in der Liebe, und aus Angst vor dem Leben haben wir begonnen, Dinge wichtiger zu nehmen als Menschen, Autos wichtiger als Fußgänger, Kais wichtiger als Häuser, und nun behaupten wir, Verkehrsplätze und Steine zu lieben, obwohl wir nur Angst vor Intimität, vor Emotionen, vor Gefühlen, vor Feinheiten und Nuancen haben, starr und ungelenk.“
Erst einmal: dass Kossmann später nach Amsterdam zog, ist kein Zufall. Was Kossmann aber meisterhaft beschreibt, ist der unbedingte Wille der Rotterdamer zu kämpfen und zu bauen – bei völligem Fehlen von Dingen wie Sentimentalität und Sensibilität, die als bloße Gefühlsduselei gelten. Wenn es nicht mehr gebraucht wird, wird es abgerissen – selbst die Laurenskerk, die jahrhundertealte Hauptkirche der Stadt konnte nur knapp vor dem Abriss gerettet werden.
Nach dem Krieg lernten die Rotterdamer, sich und ihre Stadt in einem Kampf wieder neu erfinden zu müssen. Daraus wurde eine Mentalität, eine Daueraufgabe. Dem wurden viele alte Dinge geopfert, aber so konnte auch Raum für Neues entstehen. Kreativität braucht Raum, um sich zu entfalten, den schufen die Rotterdamer immer wieder neu und auf einmal gab es ganz viel neuen Raum.
Aufbruch in die Moderne
Der Rotterdamer Hafen musste wachsen. Richtung Meer entstanden immer neue, riesige Hafenflächen und als das nicht mehr reichte, baute man eben immer weiter ins Meer hinaus (heute ist das Hafengebiet ca. 100 km2 groß). Da die Containerschiffe immer tiefere Becken benötigten, wurden die jetzt zu kleinen Hafengebiete in der Stadt selbst nach und nach aufgegeben.
Die Folge: seit den 1980er Jahren werden nach und nach riesige Flächen in bester Lage frei und schreien danach, dass sich der Rotterdamer Kampfeswille an ihnen austobt. Und das tut er.
Erster Höhepunkt ist die Einweihung der Erasmus-Brücke 1996. Sie steht für die neue Zeit, die nun in der Stadt anbricht und für die städtebauliche Hinwendung zum Fluss und zum Südufer der Maas, wo nun Gigantisches passiert. Weltberühmte Architekten wie Norman Forster, Renzo Piano, Rem Koolhaas und viele andere gaben und geben der Stadt ein neues Gesicht.
Am besten lässt sich die Entwicklung am „Kop van Zuid“ aufzeigen.
Früher ein reines Hafengebiet, Anlegestelle der Fährschiffe nach Amerika. Schön geht anders.
So sieht es dort heute aus:
Und so wird es in ca. 5 Jahren aussehen:
Links Kop van Zuid, rechts davon der Rijnhaven, an dem gerade gebaut wird.
Was in diesen Jahren in Rotterdam passiert, ist ein ungeheuer dynamischer Aufbruch. Überall wird gebaut, überall wird geplant, überall schießen neue Gebäude in den Himmel. Das Zalmhaven-Hochhaus, das gerade gebaut wird, ist so hoch, dass man bei gutem Wetter angeblich bis zum 70 km entfernten Amsterdam sehen kann! (Darauf weist man durchaus stolz hin – nicht, weil man nach Amsterdam gucken will, sondern weil die Amsterdamer nicht zurückgucken können.)
Philosoph der Stadt ist natürlich der bekannteste Sohn der Stadt: Erasmus von Rotterdam (1467-1536, vgl. den Blog über ihn.). Eine bessere Symbolfigur als dieser im Grunde seines Wesens friedfertige und ausgleichende Mensch wäre allerdings der Grieche Heraklit (520-460 v. Chr.) gewesen, dessen berühmte Zitate “Der Kampf ist der Vater aller Dinge” und “Alles fließt” bestmögliche Beschreibungen der Rotterdamer Mentalität sind.
Mit Grüßen an den in Amsterdam verstorbenen und an der Rotterdamer Ungeistigkeit verzweifelten Alfred Kossmann ist zu sagen, dass dieser Freiraum, den der Rotterdamer Wille gestalten und in ihm etwas aufbauen will, sehr attraktiv für den Geist ist. Künstler fühlen sich immer mehr von dieser Stadt angezogen, denn der künstlerische Geist braucht den freien Raum, in dem er sich entwickeln kann, in dem seine Phantasie immer wieder durch neues angeregt wird und dann seinerseits Neues anregen kann.
Dieser Aufbruch und diese Dynamik, gepaart mit Mut und Kreativität, machen Rotterdam zu einer faszinierenden Stadt, bei der man jeden Tag spürt, dass sie mit aller Macht irgendwie weiter will. Wohin, weiß keiner, aber diese Frage ist etwas für Schöngeister. Hauptsache, weiter. Sterker door strijd.
Dieser Wille nach vorne hat zwar kein klares Ziel, aber er ist gepaart mit Kreativität und Innovation. Man sieht, was ansteht und macht es. Als 1963 F. Posthuma, Direktor des Rotterdamer Hafens, in New York die ersten Container sah, erkannte er sofort die gigantischen Möglichkeiten, die in dieser neuen Transportform steckten. Wenige Monate später wurde im Hafen in Rotterdam der erste Containerterminal in Europa errichtet.
So geht es auch heute weiter. Die Zukunft wird nicht erlitten, sie wird gebaut.
Energie der Zukunft: Aktuell läuft der größte Teil des europäischen Öl- und Kohlehandels über Rotterdam. Die Zukunft? Seit mehreren Jahren baut der Hafen bereits eine Infrastruktur auf, um ganz Nordwesteuropa zukünftig mit Wasserstoff versorgen zu können.
Klimawandel: seit 2010 wird auf dem Stadtgebiet mit „schwimmenden Häusern“ experimentiert: angesichts des steigenden Meeresspiegels wird für viele Städte die Frage überlebenswichtig sein, auf und mit dem Wasser leben zu können. Bis 2040 sollen in Rotterdam 1.000 solcher Häuser entstehen. Auch ein schwimmender landwirtschaftlicher Betrieb (“Floating Farm”) existiert bereits.
Nachhaltig leben: mit dem „Dutch Windwheel“ ist ein „Windrad“ in der Planung, das mit einer klassischen holländischen Windmühle nicht viel gemein hat: 174 m hoch ist es ein riesiges Rad, das mit Wind, Wasser und Sonne Energie erzeugt. Gleichzeitig kann man in diesem Rad wohnen, arbeiten, Sport treiben oder Restaurants und Kinos besuchen. Dass die Stadt alleine mit diesem Windrad mit 1,5 Millionen Touristen mehr pro Jahr rechnet, ist ein angenehmer Nebeneffekt.
Natürlich ergeben sich aus dieser Dynamik auch Schwierigkeiten. Wo gehobelt wird, fallen Späne. Das gilt auch für Rotterdam. Die rasante Entwicklung von Modernität und Urbanität kann und will nicht von allen Rotterdamern euphorisch mitgemacht werden, die eben auch sehen, dass in diesem Neuen viel Altes verschwindet. Die Moderne in Rotterdam überwältigt nicht nur, sie kann auch vergewaltigen.
Man kann sich den klassischen Hafenarbeiter nur schwer in einer schicken Bar 200 Meter über der Maas bei seinem Cocktail vorstellen. Hier treffen zwei Welten aufeinander, von denen es eine vor Kurzem noch nicht gab.
Die Zukunftsaufgabe dieser Stadt wird darin bestehen, diese beiden Welten zu versöhnen: Den Hafenarbeiter mit seiner bärbeißigen und schnoddrigen Provinzialität zusammenzubringen mit einer neuen Urbanität, die geradezu zwanghaft kosmopolitisch, international und modern ist – aber nicht vergessen darf, dass sie ihre Entstehung dieser alten Rotterdamer Mentalität verdankt. Sterker door strijd.
Rotterdam hat viel zu bieten. Lifestyle. Architektur. Museen. Eine lebendige Künstlerszene. Musik. Festivals. Sport. Den Hafen. Das Meer. Multikulturalität.
Aber was Rotterdam einzigartig macht: die ungeheure Dynamik, die Kreativität, die Innovationskraft, der Willen zum Neuen. Rotterdam ist nicht. Rotterdam wird. Rotterdam kämpft. Und das als Dauerzustand.
Oder, um es mit den Worten von Jules Deelder zu sagen:
„Beweging is het enige onveranderlijke dat er bestaat. Dat regeert alles.“
(Bewegung ist das einzig Unveränderliche, was es gibt. Sie regiert alles.)
Als klassischer Humanist erschrecke ich manchmal in dieser Stadt vor der Unsentimentalität gegenüber dem, was war. Vor der völligen Unfähigkeit oder vielmehr dem völligen Unwillen, historisch zu denken, die eigene Gegenwart als Fortsetzung der Vergangenheit wahrnehmen zu können. Und bin gleichzeitig fasziniert von den Möglichkeiten, die sich aus diesem Unwillen ergeben.
In der Rotterdamer Mentalität erkenne ich viel aus dem heimischen Ruhrgebiet wieder: das Direkte und Respektlose, das für Außenstehende oft wie ein Angriff wirkt, den Ethos des Schuftens und des Rackerns, ein gewisses Minderwertigkeitsgefühl, weil man zwar die Werkbank des ganzen Landes ist, dafür aber nicht anerkannt wird und von Städten mit großer Geschichte und Vergangenheit oft von oben herab behandelt wird.
Einen wichtigen Unterschied gibt es aber: während das Ruhrgebiet noch nicht die Kraft zu finden scheint, die eigene Vergangenheit von Kohle und Stahl hinter sich zu lassen und mit Gewalt und Dynamik Neues zu bauen, findet Rotterdam gerade hier seine Bestimmung und prescht nach vorne. Ohne große Vision, aber mit einer Mentalität des “Immer weiter”. Sterker door strijd. Und diesen Kampf mitzuerleben, ist überaus spannend.