Was ist eigentlich die Wissenschaft?

Ganz allgemein gesprochen ist sie ein gesammeltes Wissen über eine bestimmte Sache. Wissenschaft versucht, ein Wissen zu erringen und dann auch zu beschreiben. Damit dieses Wissen überprüfbar und auch nachvollziehbar ist, folgt sie gewissen Methoden. Wissenschaft ist somit immer auch ein methodischer Prozess, der allerdings auch selbst immer wieder hinterfragt und verbessert wird. In diesem Prozess entsteht ein System von Wissen: die Wissenschaft, die sich immer weiterentwickelt und immer neues Wissen hervorbringt.

Die Wissenschaft ist das Kerngeschäft der Universitäten, und genau hier gerät die Wissenschaft in eine Krise.


Mangelnde Innovation

Wissenschaft ist ein ständiger Innovationsprozess. Die Methodik muss hinterfragt und weiterentwickelt werden, der jeweilige Inhalt der Wissenschaft wird immer tiefer durchdrungen. Dies ist Forschung und dies bedeutet auch Innovation, denn neue Fragestellungen und neue Erkenntnisse schaffen neue Erkenntnisse. Das ist Forschung. Das ist Wissenschaft. Ohne Innovation keine Forschung. Und damit auch keine Wissenschaft.

Vor einigen Wochen erschien in „nature“ ein Artikel, der den von vielen Beobachtern lange gehegten Eindruck bestätigte: die Innovation nimmt in den Veröffentlichungen der letzten Jahrzehnte stark ab. Die Ursachen dafür sind sicherlich vielschichtig, eine wichtige Ursache ist aber die immer stärkere Abhängigkeit der Wissenschaft von der Drittmittelfinanzierung.

Mittlerweile wird mehr als jede 4. Stelle an den Universitäten über Drittmittel finanziert. Drittmittelfinanzierung bedeutet: jemand Drittes stellt Gelder für bestimmte Forschungsprojekte zur Verfügung. Diese Fördergelder kommen zumeist von staatlich finanzierten Forschungsgemeinschaften wie der DFG oder von privatwirtschaftlich finanzierten Stiftungen.

Wie läuft das ab?

Ein oder mehrere Wissenschaftler stellen einen Antrag zu einem bestimmten Gebiet, in dem sie forschen wollen. Der Antrag wird von mehreren Wissenschaftlern begutachtet und dann einem Entscheidungsgremium vorgelegt, die dann die Förderung bewilligen oder ablehnen.

Dieses System hat sich als riesiger Hemmschuh für jede Art von Innovation erwiesen. Der Antragsteller, der Geld haben will, damit er die nächsten Jahre überhaupt finanziert ist, denkt sich aus eigenem Überlebenstrieb ein Thema aus, das möglichst sicher ist: es muss handhabbar sein, gut beschreibbar und vor allem bei allen Gutachtern und Entscheidern gut ankommen.

Das Dumme (nicht für den Antragsteller, sondern für die Wissenschaft): wirklich innovative Themen kommen nie bei allen Gutachtern und Entscheidern gut an. Wenn etwas völlig neu ist, wird es immer Leute geben, die dem reserviert gegenüber stehen. Das gilt auch für Forschungsthemen. Es heißt dann in den Gutachten, dass der Antragsteller in dem genannten Gebiet kein Experte sei. Nun kann es eben in völlig neuen Themen eben noch keine Experten geben. Alleine der Satz des Gutachters, dass das Thema zu riskant sei, killt jeden Antrag. Da die anderen Anträge eben nicht so riskant sind. Zwar verweisen die Forschungsgemeinschaften und Stiftungen darauf, innovative Beiträge haben zu wollen – weswegen sie zwar oft innovativ klingen, aber es nicht sind. Und auch nicht sein dürfen, wenn sie Erfolg haben sollen.

„Sicheres“ Thema und Innovation vertragen sich nicht. Die Innovation bleibt auf der Strecke. Was man dem Antragsteller nicht verdenken kann, der einfach nur seine Finanzierung für die nächsten Jahre sichern will. Man kann es ihm nicht verdenken. Aber dem System.

Da dieses System auch bei den Veröffentlichungen greift, versandet auch hier jede Innovation: jeder Artikel wird mehrfach begutachtet. Jeder braucht möglichst viele Artikel, der Inhalt spielt keine Rolle, gelesen werden Artikel eh nur von den Gutachtern. Jeder Wissenschaftler braucht eine lange Artikelliste. Und schreibt daher über „sichere“ Themen. Ein sehr erfolgreicher Artikelschreiber, der sehr oft Artikel in Topjournals platzieren kann, sagte mir, dass er einfach einen guten Artikel eines bekannten Wissenschaftlers im Journal lesen und nach einem Fehler – und sei er noch so klein – suchen würde. Dann würde er einen “Gegenartikel” einreichen und über diesen Fehler schreiben. Die Gegenartikel kommen eigentlich immer durch. Ein System, das mit wenig Aufwand viele Artikel produziert. Und wenig Innovation.



Zeitmangel

Die Drittmittelfinanzierung besitzt noch eine weitere, düstere Schattenseite: sie ist ein ungeheurer Zeitfresser. Die Erstellung eines Antrags kostet – je nach Umfang – zwischen einem halben und einem Jahr Zeit. Bei größeren Projekten dauert es auch länger. Thema und Methodik müssen beschrieben werden, Personal- und Verbrauchskosten müssen ermittelt werden, Kooperationspartner müssen gewonnen werden, die eigene Universitätsverwaltung muss zustimmen.

Zwischen drei und fünf Wissenschaftler verfassen dann ein Gutachten für das Entscheidungsgremium. Da die geförderte Zeit normalerweise drei Jahre beträgt, kann man sagen, dass bereits 1/3 der Zeit investiert werden muss, um den Antrag zu stellen. Was bedeutet, dass viele Antragsteller, die sonst keine festen Stellen haben, direkt nach Annahme des Projekts damit beginnen, das nächste Projekt vorzubereiten. Natürlich zu Lasten des aktuellen Projekts, dessen Durchführung aber eher lasch kontrolliert wird.

Je nach Projektart liegt die Quote der bewilligten Anträge bei 10 bis 30%. Manchmal sogar bei 5%. Das bedeutet, ein Wissenschaftler muss durchschnittlich 4-10 Anträge schreiben (und 10 bis 50 Gutachter beschäftigen), bevor auch nur einer bewilligt wird.

Mittlerweile sind die Universitäten zu Antragserstellungsmaschinen verkommen. Wissenschaftler werden nur eingestellt, wenn sie bereits Drittmittel erworben haben. Ihre zukünftige Arbeit besteht vor allem aus der Erstellung von Anträgen oder aus der Begutachtung von Anträgen. Oder aus der aus der Erstellung sicherer Artikel oder aus ihrer Begutachtung. Ich selbst war dabei, als ein Dekan einem abgelehnten Bewerber mitteilte, dass dieser zwar inhaltlich stärker gewesen sei als sein Konkurrent, aber eben weniger Drittmittel eingeworben habe: “Hätten Sie auch nur einen Cent mehr eingeworben als er, hätten wir Sie genommen!”

 

Anwendung vs. Grundlage

Projekte gehen am besten durch, wenn sie anwendungsorientiert sind, also wenn ein greifbares Ergebnis zu erwarten ist. Eine solche Zielrichtung liegt bereits in der Natur eines zeitlich befristeten Projekts. Was dabei allerdings zu kurz kommt, ist die Grundlagenforschung. Sie ist nicht immer kompatibel mit einem festen zeitlichen Rahmen und sie erzeugt meistens auch kein greifbares Ergebnis. Diese Grundlagenforschung wird aber benötigt, um wirkliche Innovationen hervorzubringen und eine bestimmte Wissenschaft als ganze weiterzuentwickeln.


Personalkarussel

Projekte sind befristet und Wissenschaftler werden hauptamtlich fast nur noch für Projekte eingestellt. Über 80% aller hauptamtlich in der Wissenschaft Beschäftigten sind befristet eingestellt. Viele hangeln sich von Befristung zu Befristung. Der Staat hat versucht, gegenzusteuern und die maximale Beschäftigungsdauer in befristeten Arbeitsverhältnissen auf 12 Jahre begrenzt. Was nicht dazu führte, dass die Beschäftigten entfristet werden, sondern dass sie nach 12 Jahren auf der Straße stehen.

Abgesehen von dem menschlichen Drama, mit Mitte 40 arbeitslos zu werden, führt diese massenweise Befristung der Arbeitsverhältnisse zu einer hohen Fluktuation, zu einem Personalkarussel, das eine über viele Jahre und Jahrzehnte aufgebaute Expertise sehr schwer oder gar unmöglich macht. Zum Schaden der Wissenschaft.

 

Der Kreisel dreht sich

Der Kreisel der Wissenschaft dreht sich. In dieser Rotation werden viele Wissenschaftler angezogen und wieder abgestoßen. Vor allem dreht sich dieser Kreisel immer an der gleichen Stelle und kommt nicht voran: Weiterentwicklung und Innovation werden immer schwerer.

Natürlich findet auch heute noch gute Wissenschaft statt. Innovative Wissenschaft. Aber wie viel Potential wird verschenkt, wenn 80% der Wissenschaftler nur befristet arbeiten? Wenn alle Wissenschaftler einen großen Teil ihrer wertvollen Zeit damit vergeuden müssen, Artikel zu schreiben, die keiner liest, Anträge, die zu 80% nicht bewilligt werden oder Gutachten über Anträge, die zu 80% nicht bewilligt werden?

 

Was ist zu tun?

  • Mehr Grundlagenfinanzierung: die Universitäten müssen mehr feste und unbefristete Stellen finanzieren bzw. finanziert bekommen. Da die meisten Fördergelder letztlich eh aus staatlichen Töpfen kommen, müsste der Staat einen Teil dieser Gelder direkt in die Universitäten stecken.
  • Weniger Drittmittel: durch weniger Drittmittel sinkt auch der Druck, Drittmittel einzuwerben. Die Chancen, den hohen Aufwand zu refinanzieren, werden geringer. Damit sinkt auch der Aufwand (für Antragsteller und Gutachter) für die Drittmittel, weil weniger Konkurrenten sich bewerben. Zudem ist nicht mehr die Höhe der bisher erworbenen Drittmittel das entscheidende Kriterium für Neueinstellungen.
  • Verbesserte Drittmittelvergabe: die Vergabe der Drittmittel muss transparenter werden. Neutrale Schiedsstellen müssen eingerichtet werden, um Einsprüche gegen abgelehnte Anträge nicht von denjenigen bearbeiten zu lassen, die die Anträge abgelehnt haben.

Letztlich macht die universitäre Wissenschaft den gleichen Fehler wie auch viele Unternehmen: indem in Projekten und kurzfristigen Zielen gedacht wird, wird die langfristige Entwicklung vergessen. Zu dieser Entwicklung gehören stetige Innovation und ein stetiger Blick auf das große Ganze. Dass die Wissenschaft an diesem Kreisel noch nicht kaputt gegangen ist, verdankt sie nur ihrer Monopolstellung. Kein Unternehmen, das im Markt steht, könnte sich eine derartige Vergeudung ihrer Ressourcen auf Dauer erlauben.

Wissen und Wissenschaft sind zentrale Elemente unseres Wohlstands in Deutschland und Europa – des gegenwärtigen, aber noch mehr des zukünftigen Wohlstands. Die Ressource “Wissen” muss genauso sensibel erarbeitet werden wie jede andere auch. Sie fällt nicht vom Himmel, sondern wird mehr oder weniger gut erwirtschaftet – abhängig von den Bedingungen, in denen sie erwirtschaftet wird. Zu diesen Bedingungen gehören Mut und Wille zur Innovation, Honorierung von Leistung und gute Arbeitsbedingungen. An allem mangelt es zur Zeit und das ist nicht nur ein Problem der Universitäten, sondern auch ein gesellschaftliches Problem.