In wenigen Tagen finden die Wahlen zum Europäischen Parlament statt. Allgemein wird ein Erstarken der Parteien vom rechten wie linken politischen Rand erwartet, die sehr kritisch auf die Europäische Union blicken. Entsprechend nervös blickt die politische Mitte auf diese Wahl.

Um es vorneweg zu sagen: Kritik an der Europäischen Union ist mehr als berechtigt. Korruption, aufgeblähte Behörden, übermäßiger Lobbyismus und Regulierungswut sind ihre traurigen Merkmale, die uns europäische Bürger immer wieder abstoßen, wenn Staubsauer oder Duschköpfe runterreguliert werden, von der EU finanzierte Brückenteile in der kargen Landschaft Siziliens stehen oder es trotz europaweiter Volksabstimmung und erklärtem Willen aller Beteiligten auch nach Jahren nicht gelingt, die an sich sinnlose Zeitumstellung abzuschaffen.

Die Kritik an der Europäischen Union ist also mehr als berechtigt. Die Frage: was ergibt sich daraus? Ihre Abschaffung?
Trotz aller Schwächen hat sich die Europäische Union zwei große Verdienste erworben, die man nicht hoch genug einschätzen kann:

  1.  Die Sicherung des Friedens: Länder, die jahrhundertelang verfeindet waren, sind unter dem europäischen Dach vereint. Wer hätte vor 80 Jahren glauben können, dass Franzosen und Deutsche friedlich und freundschaftlich zusammen leben?
  2. Die Schaffung von Wohlstand: die EU ist ein wirtschaftliches Erfolgsmodell – trotz massenweiser Geldverschwendung der Bürokratie. Die EU sichert und erleichtert den Handel und Warenaustausch. Grüße nach Großbritannien, deren Wirtschaft nach dem Brexit in einer Dauerkrise ist, weil bisherige Absatzmärkte weggebrochen sind. Alleine im letzten Jahr kostete der Brexit 162 Milliarden Euro an Wertschöpfung. In Deutschland wäre es noch härter. Mehr als die Hälfte des deutschen Im- und Exports geht in EU-Länder.

Allein diese beiden Verdienste, Frieden und Wohlstand, rechtfertigen die Existenz der Europäischen Union. Und damit den Auftrag an jeden Bürger, dieser Union positiv gegenüberzustehen. Nicht kritiklos, aber grundsätzlich positiv.

Angreifer

Verschiedene Parteien Europas wie etwa die französische Rassemblement National von Marine Le Pen, die ungarische Fidesz von Viktor Orban, die polnische PiS oder die deutsche AfD wollen die Europäische Union nicht verbessern, sondern abschaffen:

„Diese EU muss sterben, damit das wahre Europa leben kann.“ (Höcke)

Wie dieses wahre Europa aussieht, wird nur indirekt verraten: es ist ein Europa, das faktisch nicht mehr in die einzelnen Länder „hineinregieren“ kann. Das klingt charmant, heißt aber eigentlich nur: es soll völlig machtlos und damit irrelevant werden.
Europa steht für ein Zusammen. Und genau dieses Zusammen stört, wenn es nur und ausschließlich um das eigene Volk gehen darf. Dieses Zusammen Europas ist jedoch die Stütze von Frieden und Wohlstand, und es ist auch eine wichtige Stütze der Demokratien in den einzelnen Ländern. Was das Projekt Europa erst recht zum Hindernis gewisser Parteien macht.

Die Auseinandersetzung um Europa ist nicht nur eine außenpolitische Frage. Sie ist Teil der immer offeneren innenpolitischen Frage, wie unsere Gesellschaften eigentlich politisch funktionieren sollen: als Demokratie oder nicht? Und was heißt „Demokratie“ eigentlich konkret?

Die Mitte und die Ränder

Wir erleben seit etwa 20 Jahren, wie die politische Mitte immer mehr unter Druck gerät, von linker, aber vor allem von rechter Seite.
Was ist die Mitte? Was sind ihre Grenzen?
Gerade auf rechter und konservativer Seite wird darauf verwiesen, dass sich die politische Mitte in den letzten Jahren nach links verschoben hätte. Merkel ist ein wichtiges Symbol dieser Verschiebung.
Der Vorwurf mag vielleicht sogar richtig sein: es gab Veränderungen in der politischen Mitte.
Aber was ergibt sich daraus? Nicht mehr zur politischen Mitte gehören zu wollen?
Was ist die Grenze der politischen Mitte?
Es ist die Fähigkeit oder Unfähigkeit, Kompromisse zu schließen. Und Kompromisse bedeutet eben auch, Dinge auszuhalten, die man selbst nicht wünscht, die aber von der Mehrheit beschlossen sind.

Eine AfD will keinen Kompromiss. Sie will das wegschieben, was ihr nicht deutsch genug ist. Dass das, was sie unter „deutsch“ versteht, mit der Realität der meisten Menschen in Deutschland nichts zu tun hat und sich deshalb auf demokratischen Wege nie mehrheitsfähig durchsetzen kann, macht es für sie notwendig, die Demokratie zu bekämpfen.
Deshalb wird die Demokratie sabotiert und diskreditiert, wo es nur geht. Um die eigenen Leute zu motivieren und die vielen anderen einfach nur von der Demokratie und den „alten“ Parteien abzustossen.
Die Demokratie wird von ihnen beschrieben als schwächlich und entscheidungsunfähig. Sicher. Eine Diktatur wirkt nach außen stärker und entscheidungsfreudiger. Aber lebt es sich in ihnen besser? Gelingt es ihnen, Frieden und Wohlstand zu schaffen? War ihnen das je gelungen?
Das langsame demokratische Ringen um Kompromisse ist nicht effektiv und oft einfach nervend. Aber es ist notwendig, um zu Entscheidungen zu kommen, die möglichst vielen Ansprüchen gerecht werden und nicht nur denen, die am lautesten schreien.

Demokratie

Wir sehen, dass die politische Mitte seit vielen Jahren immer mehr ausgedünnt wird und die politischen Ränder immer mehr an (Laut-)Stärke gewinnen. Dies gilt für eigentlich alle Länder Europas. Sie werden innerlich zerrissen über die Frage, ob man sich die komplizierten Prozesse der Demokratie noch zumuten will. Außenpolitische Akteure wie Russland oder China gießen dabei freudig Öl in das Feuer, das in den europäischen Gesellschaften brennt.
Die Wahlen zum Europäischen Parlament werden ein wichtiges Signal setzen – in welcher Richtung auch immer. Sie werden das Signal setzen, wieviel den Europäern die zähe und komplizierte Demokratie mit ihren endlosen Debatten wert ist.
Es ist klar, dass sich die Europäische Union in vielen Bereichen deutlich verbessern muss. Bürgernäher. Effizienter. Demokratischer. Weniger korrupt. Die Europäische Union muss sich verbessern, wie sich auch Deutschland und das deutsche politische System verbessern müssen. Aber nur eine Demokratie ist ein System, dass sich verbessern kann, weil Verbesserung nur da möglich ist, wo verschiedene Möglichkeiten diskutiert und gelebt werden können. Das macht eine Demokratie nicht immer sexy, aber es ist die einzige Staatsform, die der Würde aller ihrer Bürger gerecht werden kann.
Auf dass die anstehenden Wahlen dies deutlich machen.