Vor wenigen Tagen brach im Dachstuhl der Kathedrale von Notre-Dame ein verheerendes Feuer aus, das große Teile der Kathedrale zerstörte. Viele Menschen – ob Christen oder nicht – reagierten entsetzt angesichts der Bilder der brennenden Kirche. Beileidsbekundungen und Spendenaufrufe aus der ganzen Welt waren die Folge. Viele Menschen reagierten jedoch auch verstört auf diese Reaktionen und fragten, warum man sich derart um ein Gebäude sorgen würde bzw. warum man so viel Geld für Steine in die Hand nehmen wollte, wo zugleich viele Menschen auf der Welt hungern würden.
Eigentlich hatte ich in dieser Woche keinen Blog geplant – Osterferien. Aber der Brand dieser Kathedrale und vor allem die öffentlichen Reaktionen darauf haben mich dann doch eine andere Entscheidung treffen lassen. Weil da etwas sehr Wichtiges passiert ist, das sehr bezeichnend ist für unsere europäische Kultur. Und darauf hinzuweisen, kann sicherlich nicht schaden im Zeichen der anstehenden Wahlen für Europa und der politisch sehr bewegten Zeiten.
“Die Christenheit und Europa”
Als Hilfe greife ich auf einen Essay des Romantikers Novalis (1772-1801) zurück, den dieser 1799 verfasst hat und erst nach seinem Tod veröffentlicht wurde: „Die Christenheit oder Europa“. Dieser Essay beginnt mit einem Lobpreis auf das gute, alte, mittelalterliche, christliche Europa:
„Es waren schöne glänzende Zeiten, wo Europa ein christliches Land war, wo Eine Christenheit diesen menschlich gestalteten Weltteil bewohnte.“
Dieses Europa, so Novalis, wurde zusammengehalten von einem gemeinsamen Glauben. In diesem Glauben haben die Menschen des Mittelalters sich selbst als wunderbare Krönung der Schöpfung erkannt und wunderbare Werke geschaffen. Dieser Glaube wurde zusammengehalten durch die Kirche und das funktionierte so lange, wie die Kirche das geistige Leben im Auge hatte – nicht das weltlich-politische Leben.
Als die Kirche diese innere Kraft verlor, habe es zwei Gegenbewegungen gegeben: die Reformation und die Aufklärung. Beide sind laut Novalis Zeichen des Verfalls der Kirche bzw. ihrer geistigen Macht. Als die Kirche glaubte, den Menschen ihre innere Freiheit nehmen zu können und politische Macht über sie auszuüben, habe die Reformation die Freiheit des Gewissens gepredigt. Als die Kirche glaubte, die Welt wissenschaftlich erklären zu können, kam die Aufklärung.
Novalis kritisiert Reformation und Aufklärung, weil diese ihrerseits neue Irrwege eingeschlagen hätten und er entwirft eine Vision eines neuen Christentums: eines Christentums, das eine neue Blütezeit in Europa anbrechen lässt, das die Grenzen der Nationen überwindet und dem Menschen das schenkt, das ihm neue Größe verleihen wird, nämlich Freiheit:
„Sie muss das alte Füllhorn des Segens wieder über die Völker ausgießen. Aus dem heiligen Schoße eines ehrwürdigen europäischen Consiliums wird die Christenheit aufstehen. Keiner wird dann mehr protestieren gegen christlichen und weltlichen Zwang, denn das Wesen der Kirche wird echte Freiheit sein.“
Man kann verschiedene Dinge dieses Essays zu Recht kritisieren. Insbesondere Novalis‘ Sicht auf die paradiesischen Zustände im christlichen Mittelalter und den angeblichen Verzicht der Kirche auf weltliche Macht ist sicherlich nicht haltbar.
Aber in diesem Essay geht es weniger um historische Details, es geht um den Hinweis darauf, dass Europa etwas Verbindendes hat, eine gemeinsame Wurzel, einen Strom gemeinsamer Werte. Diese Werte haben das geschaffen, was in Paris vor einigen Tagen in Flammen aufging und auf das sich Europa wieder besinnen muss.
Novalis weist auf die Wurzeln Europas hin und eine besonders wichtige Wurzel ist das Christentum. Die Würde jedes Einzelnen als von Gott geschaffenen Menschen, die Individualität sind in ihrer Entstehung nicht ohne das Christentum denkbar – Werte, die im Christentum entstanden, sich aber dann irgendwann gegen das Christentum wenden mussten.
Das Christentum war die einzige Religion, das die Einheit von Vernunft und Religion leben konnte und wollte. Irgendwann musste sich die Vernunft von der Religion lösen, weil irgendwann der Zeitpunkt kommen musste, an dem die religiöse Vernunft die Welt nicht mehr erklären konnte.
Das Mittelalter sah eine tiefe Einheit des gesamten Lebens im christlichen Glauben. Novalis beschrieb diese tiefe Einheit, die etwas Paradiesisches hat. In den Kathedralen spüren wir diese tiefe Einheit der damaligen Menschen – eine Einheit, die verloren ist und nicht wiederhergestellt werden kann.
Europa heute
Novalis macht uns auf zwei Dinge aufmerksam, die sich auch in der Nacht der brennenden Kathedrale von Notre-Dame bewusst oder unbewusst aufdrängten: die Größe der europäischen Kultur und die Krise der europäischen Kultur: dieses Haus ist großartig, aber es brennt.
Was ist die Größe der europäischen Kultur?
Es ist ein bestimmtes Bild des Menschen, das dort entstanden ist: der Mensch ist nicht abhängig vom Willen eines göttlichen Schicksals, er ist nicht Sklave eines Staates oder eines Volkes oder eines Herrschers, er ist ein freies Wesen, das unglaublich großartige Fähigkeiten besitzt, und das als Individuum einen Wert und eine unverlierbare Würde besitzt.
Dieses Bild des Menschen ist in Europa im Laufe vieler Jahrhunderte gebaut worden: durch die griechisch-römische Kultur, durch das Christentum, durch die Aufklärung.
Dieses Bild des Menschen befindet sich aber in der Krise, und auf diese Krise hat bereits Novalis aufmerksam gemacht. Dieses Haus Europas brennt.
Dieses Haus brennt überall da, wo Wert und Würde des einzelnen Menschen vergessen werden.
Wo die Vernunft durch dumpfen Populismus verfinstert wird.
Wo Rassismus und Nationalismus überhand gewinnen.
Wo die christliche Botschaft der Liebe zu jedem Menschen in der Kirche selbst zerstört wird durch den sexuellen Missbrauch von Kindern und Jugendlichen.
Wo es ein Bildungssystem gibt, in dem nicht einmal 40% der Schüler wissen, was Auschwitz war.
Als die Bilder der brennenden Kathedrale von Notre-Dame vor unseren Augen auftauchten, spürten viele, dass da etwas brannte, dem wir viel verdanken, das aber irgendwie weit weg zu sein scheint: ein altes Europa, das an den Menschen geglaubt hat und in diesem Glauben großartige Dinge geschaffen hat. Diese Kathedrale wurde gebaut, um die Größe Gottes zu verkünden und wurde zugleich zu einem Beweis der Größe der Menschen, die sie gebaut haben.
Wir spüren etwas von dieser vergangenen Größe, wenn wir durch den lichtdurchfluteten, riesigen Raum einer Kathedrale schreiten. Vielleicht auch, wenn wir die Musik eines Bach oder Beethoven hören, oder die Schriften eines Goethe oder Schiller lesen. Vielleicht, man sollte es versuchen.
Die Zerstörung dieser großartigen Kirche stellt uns die unangenehme Frage, was denn das Große ist, das wir heute bauen. Woran man sich in 800 Jahren erinnern wird.
Vielleicht klingt all dies nach etwas zu großem Pathos. Aber es geht auch um Pathos, es geht auch um Gefühl und Emotion, um ein Gefühl für die Größe und Großartigkeit des Menschen. Dies geht nicht ohne Pathos; und dieses Pathos brauchen wir heute, wenn es um Europa und seine Werte geht.
Größe und Verletztlichkeit Europas
Die Vergangenheit Europas war nicht nur schön. Sie hat auch großes Leid über die Menschen in und außerhalb Europas gebracht. Aber diese Vergangenheit hat das Bild eines Menschen entworfen, um das wir heute wieder neu ringen müssen: das Bild eines Menschen, der eine unverlierbare Würde besitzt, und der in der Kraft seiner Freiheit und Vernunft großartige Möglichkeiten besitzt.
Die brennende Kathedrale von Notre-Dame erinnert an die Größe, aber auch die Verletzlichkeit Europas und des Bildes vom Menschen, das Europa geschaffen hat. Sie erinnert uns daran, dass die Kultur Europas etwas ist, an dem wir immer neu weiterbauen müssen.
Sollte es zur sehr nach Predigt geklungen haben, bitte ich um Entschuldigung. Anscheinend kann ich als ehemaliger Prediger nicht ganz heraus aus meiner Haut. Es hat aber auch damit zu tun, das wirklich zu schätzen, was Europa geschaffen hat und sich über vieles zu ärgern, was dieses Geschaffene heutzutage herunterzieht.
Literaturempfehlungen:
Hugo, Victor: Der Glöckner von Notre-Dame.
Novalis: Die Christenheit oder Europa.
In österlicher Hoffung:Vielen Dank!
Sehr gute Gedanken, Michael
Danke dafür