Die Zerrissenheit des Westens
Am letzten Sonntag wurde Wladimir Putin erneut und wie erwartet zum russischen Präsidenten gewählt. Auch wenn sich in diesen Tagen westliche Analysten intensiv mit der Frage beschäftigen, wie groß der Rückhalt Putins in der russischen Bevölkerung ist oder wie legitim seine Wiederwahl ist, ist eine andere Frage für den Westen viel wichtiger: wie er selbst zu Putin steht und welche Mechanismen das Verhältnis des Westens zu Putin bestimmen.
Hierzu boten die letzten Wochen ertragreiches Anschauungsmaterial: in Großbritannien wird der ehemalige russische Agent Sergej Skripal mit einem Nervenkampfstoff aus der russischen Nowitschok-Reihe vergiftet. Die Indizien verweisen relativ eindeutig nach Russland – zumal man nach ähnlich gelagerten Fällen nicht lange suchen muss. Litwinenko lässt grüßen.
Wie geht es weiter? Eigentlich wie immer: Russland dementiert … und der Westen debattiert.
Sigmar Gabriel spricht von „skurrilen Verdächtigungen“ und „Verschwörungstheorien. Im Übrigen solle man sich endlich dazu überwinden, die Situation auf der Krim anzuerkennen, um wieder in einen Dialog mit Russland eintreten zu können. Der ehemalige ARD-Chef Fritz Pleitgen spricht davon, dass nur „ein Beschränkter“ die Schuld „alleine bei den Russen suchen würde“. Matthias Platzeck warnt davor, vorschnell „Schlussfolgerungen zu ziehen“ und mahnt zu „Besonnenheit“ um den „Frieden nicht zu gefährden“.
Einmal abgesehen von einer Umkehrung des Ursache-Wirkungs-Prinzips, die in diesen Äußerungen deutlich wird (was ist hier Aktion und was ist Reaktion?), sind sie sehr bezeichnend für die zerrissene Haltung des Westens angesichts dauernder Provokationen Russlands.
Halten wir kurz fest: wiederholte Morde an unliebsamen Personen des russischen Regimes in In- und Ausland, massive Eingriffe in die Innenpolitik westlicher Staaten durch Finanzierung extremistischer Parteien, Cyberangriffe und Propaganda, Besetzung und Annexion von Teilen der Ukraine, Bruch der atomaren Abrüstungsvereinbarungen, Unterstützung des giftgasmordenden Assad-Regimes in Syrien, Manöversimulationen eines Angriffs auf die Nato usw.
Diese Liste ließe sich noch um viele Elemente verlängern. Es soll an dieser Stelle jedoch nicht um die Verfehlungen des russischen Regimes gehen, sondern darum, wie eigenartig der Westen auf diese Provokationen und massiven Eingriffe in die westliche Gesellschaft reagiert.
Warum wünscht sich aktuellen Umfragen zufolge die Mehrheit der deutschen Bevölkerung trotz dieser Dinge eine Annäherung an Russland? Warum springen erfahrene und versierte Politiker wie Sigmar Gabriel oder Gerhard Schröder immer wieder für Russland öffentlich in die Bresche?
Warum macht der Westen angesichts dieser russischen Aktivitäten einen derart schwachen Eindruck?
Wenn es stimmt, dass Russlands im Verhältnis zum Westen so stark sein kann, weil der Westen so schwach ist: was sind dann die Schwächen des Westens?
Die Beziehungen zwischen Russland und dem Westen sind schwierig. Nun gibt es zwei Möglichkeiten. Die erste: mit der russischen Regierung reden und sie davon überzeugen, nicht mehr die Schwächen des Westens so gemein auszunutzen. Wird seit Jahren versucht, ohne Erfolg. Die zweite Möglichkeit: auf sich selbst schauen, warum die russische Taktik immer wieder so erfolgreich sein kann.
Welche Schwächen hat der Westen, die in der Beziehung zu Russland zutage treten?
Hier sind zwei verschiedene Bereiche zu betrachten. Bei beiden muss der Westen sehr genau hinsehen.
1. Werte
Das russische Staatsfernsehen ist sich mit muslimischen Fundamentalisten in immerhin einem Punkt einig: der Westen hat keine Werte.
Dies wird an vielen Dingen festgemacht: an der Toleranz von Homosexualität (die als Förderung der Homosexualität gedeutet wird), an Areligiosität und Atheismus, an der Amerikanisierung und Kommerzialisierung, am Verlust vieler überlieferter Traditionen und Wertbilder usw.
Diese Einschätzung – und damit kommen wir zu dem für den Westen relevanten Punkt – wird von vielen Menschen im Westen geteilt. Weite Teile der Bevölkerung verfolgen zumindest mit einem gewissen Unbehagen, dass die traditionellen Werte keine Gültigkeit mehr besitzen, dass Homosexuelle heiraten dürfen, dass die Kirchen als Garanten eines gültigen Wertekanons immer mehr ausfallen und dass sich alles in einer Soße aus Globalisierung, Kommerzialisierung und Toleranz gegenüber Allem und Jedem aufzulösen scheint. Die Diskussionen um Transgender und Unisex-Toiletten sind dann noch das Sahnehäubchen, das die Torte einfach zu mächtig macht.
Es ist wichtig, darauf hinzuweisen, dass es hier um den Verlust bestimmter traditioneller Werte geht – nicht um Werte überhaupt. Der Durchschnitts-Westler ist nicht korrupter oder moralisch schlechter als der Durchschnitts-Russe. Aber es fehlt ein bestimmter stützender Wertekanon, der verloren gegangen ist und dieser Verlust bereitet vielen Menschen Unbehagen.
Trump, der Brexit, die Wahlerfolge von Parteien wie der AfD, der FPÖ, der Partei für die Freiheit in den Niederlanden oder des Front National in Frankreich wären ohne dieses weitverbreitete Unbehagen überhaupt nicht denkbar.
Es ist kein Zufall, dass die genannten Bewegungen und Personen von Russland unterstützt werden. Aber diese Unterstützung kann eben nur deshalb greifen und erfolgreich sein, weil es eine reale Haltung in den westlichen Ländern trifft. Russland kann sich als dasjenige im Westen präsentieren, das noch an die alten Werte glaubt: Christentum, nationale Identität, traditionelle Sexuallehre.
Das dabei auch ein Schuss Anti-Amerikanismus mitbedient wird, macht Russland auch weiterhin für die klassische Linke attraktiv – obwohl das heutige Russland mit der kommunistischen Sowjetunion nur noch die geographische Lage und sonst nichts gemein hat. Der Feind meines Feindes ist mein Freund.
Diese Ideologisierung führt dazu, dass gegen amerikanische Militäraktionen im Nahen Osten oder anderswo regelmäßig auf der Straße demonstriert wird, während sich gegen Russlands Eingreifen in Syrien, der Ukraine oder sonstwo nichts rührt. Oder sie führt zur Forderung, „endlich mal die Fakten zu sehen“ und die Annexion der Krim anzuerkennen, aber gleichzeitig dazu, die Verlegung der amerikanischen Botschaft nach Jerusalem als verkehrte Anerkennung des Hauptstadtstatus‘ Jerusalems zu verurteilen.
Die Diagnose, dass im Westen viele traditionelle Werte erodieren, ist nicht von der Hand zu weisen. Hier taucht ein großes Problem auf, über das liberale Gesellschaften verfügen: die Ablösung alter Werte impliziert noch nicht die Schöpfung neuer Werte. Klassische Wertevermittler – die Kirchen genauso wie der Sozialismus – verlieren ihre Gültigkeit. Dieser Verlust wurde auch angeregt und beschleunigt durch eine liberale Mentalität, die alten Autoritäten sehr kritisch zu hinterfragen und diese – postmodern gesprochen – zu dekonstruieren. Was faktisch oft heißt: überflüssig zu machen.
Hieraus ergeben sich zwei Aufträge an die moderne liberale Gesellschaft des Westens. Noch einmal sei darauf hingewiesen: der Westen ist nicht moralisch schlechter, aber er fühlt sich moralisch schlechter aufgrund des Verlusts vieler alter Werte. Was aber nichts am Ergebnis ändert, dass der Westen handeln muss und neu auf seinen eigenen Wertekanon schauen muss.
Zum einen muss deutlich werden, dass die kritische Beurteilung der alten Werte nicht gleich die Ablösung aller alten Werte beinhaltet. Eine kritische Betrachtung von katholischem Zentralismus und Zölibat muss nicht zur Ablösung des Christentums führen. Die Anerkennung der Ehe Homosexueller bedeutet nicht die Abwertung der Ehe heterosexueller Paare. Die Aufnahme von Flüchtlingen bedeutet nicht den Untergang nationaler Identität.
Der andere Auftrag beinhaltet die Schöpfung neuer Werte bzw. das Hinweisen darauf, wofür eine liberale Gesellschaft eigentlich steht. Liberalismus und Demokratie bestehen nicht nur im Verwischen von Werten, sondern stellen an sich bereits einen Wert dar. Dies muss aber auch konkret gemacht werden. Wofür steht die Demokratie eigentlich? Warum sind Presse- und Meinungsfreiheit wichtig? Was ist der Wert des Freihandels abgesehen davon, mehr Geld zu verdienen? Was sind eigentlich konkret die Menschenrechte und warum müssen wir nicht nur im Ausland, sondern auch im Inland immer wieder für sie kämpfen?
2. Gier
Die zweite Schwäche des Westens hängt mit der ersten zusammen, muss aber gesondert betrachtet werden: die Gier.
Es geht hier nicht um Kapitalistenschelte. Oder darum, dass „Gier“ von vornherein schlecht wäre oder dass man gar eine Gesellschaft von Menschen schaffen könnte, in der es keine Gier gibt. Gier muss noch nicht einmal schlecht sein: Gier kann Kräfte freisetzen, Gier kann dazu helfen, bestimmte Ziele zu erreichen. Die Gier nach Erkenntnis hat die größten Erfindungen hervorgerufen. Es ist kein Zufall, dass die Gier zur DNA des Menschen gehört, sie hat ihren Sinn, aber sie hat auch ihre Schattenseiten.
Es gibt ein sehr gutes, treffendes Zitat, das von Lenin überliefert ist: „Die Kapitalisten werden uns noch den Strick verkaufen, mit dem wir sie aufknüpfen.“ Nie hatte Lenin rechter als in diesem Satz.
Wenn Europäer Öl in muslimischen Ländern kaufen, die gleichzeitig Terroristen finanzieren und im Westen aktiv werden lassen, ist das der von Lenin benannte Effekt mit dem Strick. Der gleiche Mechanismus greift auch bei Russland.
Man kann lange darüber streiten, woran es liegt: an den Aktionären, die bessere Zahlen sehen wollen oder an den Unternehmensleitungen, die bessere Zahlen zeigen wollen, oder an den Konkurrenten, die es ja auch machen: Fakt ist, dass das Geschäft zumeist vor der Moral kommt.
Dann kann ein Bundeskanzler kurz vor seiner Abwahl die politisch zumindest bedenkliche Entscheidung treffen, eine neue Pipeline durch die Ostsee zu bauen: das Geschäft stimmt, wie sich dann schnell nach der Wahl herausstellen sollte. Dann können 2012 nach der Wahl in Russland Hunderttausende wegen Wahlmanipulationen auf die Straße gehen: der damalige Geschäftsführer des Ostausschusses der Deutschen Wirtschaft lobt die Wahlen als „erste freie Wahlen“ in der Geschichte Russlands.
Es geht nicht darum, dass jedes Geschäft höchsten moralischen Ansprüchen genügen müsste. Aber Geschäfte sollten der Moral auch nicht widersprechen. Die Gefahr liegt einerseits darin, dass aufgrund geschäftlicher Beziehungen der andere Handelspartner auch moralisch besser beurteilt wird als er ist und man ein paar Augen zu viel vor der Realität in dem betreffenden Land verschließt – abgesehen von der Tatsache, dass jedes Handelsabkommen mit einem Regime dieses stabilisiert.
Der andere große Denkfehler besteht in der Trennung von Demokratie und Rechtsstaatlichkeit. Investoren brauchen Rechtsstaatlichkeit, damit die Investitionen sicher sind. Dabei ist erst einmal egal, ob die Wahlen im betreffenden Land demokratischen Ansprüchen genügen oder nicht. Das Problem ist nur, dass auf Dauer ein Staat, der nicht durch die eigene Bevölkerung effektiv demokratisch kontrolliert wird, kein Rechtsstaat bleiben kann, sondern in der Korruption versinkt. Nicht die Gesetze zu haben, zeichnet einen Rechtsstaat aus, sondern auch, die Gesetze gerecht durchzusetzen. Dies kann auf Dauer nicht in einem Staat gelingen, in dem der Gesetzgeber und Richter-Ernenner nicht demokratisch kontrolliert wird.
Heißt: Investitionen in nichtdemokratische Staaten werden über kurz oder lang zum Risikokapital. Ob dann öffentliche Sympathiebekundungen mit dem jeweiligen Regime oder der Einstieg in die Korruption des jeweiligen Landes auf Dauer helfen, das angelegte Kapital sicherer zu machen, ist fraglich.
Die Schwäche des Westens
Die Ohnmacht des Westens angesichts russischer Provokationen oder zumindest fragwürdiger außenpolitischer Signale besteht nicht darin, dass man sich nicht in der Lage sieht, militärisch einzugreifen. Die Schwäche des Westens ist eine innere, psychische, die von Russland taktisch geschickt ausgenutzt wird.
Die westlichen Gesellschaften sind in Bezug auf Russland zerrissen zwischen einer offenen Ablehnung seiner aggressiven Methoden und einer heimlichen Anerkennung eines in Russland bestehenden traditionellen Wertekanons. Ob der in Russland selbst überhaupt existiert, ist erst einmal zweitrangig. Er wird von Russland so vermittelt und der Westen spürt das Fehlen eines eigenen geistigen Kompasses, an dem es sich orientieren kann.
Die große, die Zukunft des Westens entscheidende Aufgabe ist nun diejenige, die liberale Demokratie nach Innen und Außen als einen Wertekanon zu begreifen, der nicht nur alte Werte verwischt oder alles relativiert, sondern selbst für Werte steht: an erster Stelle der Freiheit und der Würde eines jeden einzelnen Menschen.
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