Seit vielen Jahre beschäftige ich mich sehr intensiv mit dem Nationalsozialismus. Dabei treibt mich natürlich vor allem die Frage um, wie das alles passieren konnte, wie aus einer Nation, die zu den gebildetsten der Welt gehörte, eine derartige Schreckensherrschaft werden konnte.
Ich sah immer wieder die Bilder johlender und grölender Massen und fragte mich: wie geht das?
Genau diese Bilder sah ich wieder vor einigen Tagen. Nur waren es keine Bilder von 1933, sondern aktuelle Bilder von 2023. Hubert Aiwanger steht im Bierzelt und die Menge jubelt ihm zu, weil er so aufrichtig ist, weil er es allen gezeigt hat, die ihn mit Schmutz bewerfen wollten.
Es hat sich etwas verschoben in Deutschland. Vor zehn Jahren hätte Aiwanger keine Chance mehr gehabt. Nun wird er gefeiert. Was ist passiert?
Was ist passiert?
Am 25. August veröffentlicht die Süddeutsche Zeitung einen Artikel, in dem sie Aiwanger beschuldigt, in seiner Schulzeit ein Pamphlet verfasst zu haben, das vor rechtsradikalen und antisemitischen Sprüchen nur so strotzt. Lehrer berichten von einem damaligen Disziplinarverfahren, in dem Aiwanger die Urheberschaft zu diesem „Auschwitz-Pamphlet“ nicht bestritten habe und dafür bestraft worden ist, mehrere Mitschüler (ca. 2 Dutzend) wurden befragt und berichten teils unappetitliche Dinge wie das regelmäßige Zeigen des Hitlergrußes, ein Ordner, in dessen Innenseite der Spruch „Schwarzbraun ist die Negersau“ geschrieben stand, „Mein Kampf“ in der Schultasche usw.
Die Geschichte steht im Raum und nun hat Aiwanger eigentlich zwei Chancen, einigermaßen ungeschoren aus der Nummer herauszukommen:
- entweder kann er deutlich machen, dass es diese Geschichte nie gegeben hat oder
- er kann deutlich machen, dass es eine unschöne Jugendgeschichte ist, aus der er aber gelernt hat und heute mit diesem Gedankengut nichts mehr zu tun hat.
Für den ersten Weg braucht er hieb- und stichfeste Beweise, für den zweiten Weg braucht er Glaubwürdigkeit.
Der erste Weg war aufgrund der vielen Zeugenaussagen nicht möglich und entsprechend hatte Aiwanger keine Chance, die Existenz dieses Pamphlets und einen Zusammenhang mit sich selbst zu leugnen – immerhin wurde er damals dafür bestraft. Zwar gab sein Bruder an, dieses Pamphlet verfasst zu haben, aber diese Behauptung lässt sich nur schwer mit Beweisen stützen – zumal in der Schulzeit nicht sein Bruder, sondern er selbst als rechtsradikal wahrgenommen wurde.
Die “Verteidigung”
Bleibt also nur der Weg, glaubwürdig zu machen, dass das damals ein Ausrutscher war oder etwas, das man längst hinter sich gelassen hat.
Auch hier ist Aiwanger – man muss es so deutlich sagen – krachend gescheitert.
Aiwanger gibt an, sich an Details gar nicht mehr erinnern zu können. Wie glaubwürdig ist das? Auch wenn es 35 Jahre her ist: man kann sich an die Begebenheit erinnern, in der man als Schüler zum Direktor zitiert wurde, mit einem polizeilichen Ermittlungsverfahren gedroht wurde und ein Disziplinarverfahren durchgeführt wurde.
Er selbst spricht von durchaus von einem „einschneidenden Erlebnis“, kann sich aber an Details nicht erinnern. Weder daran, wer den Text verfasst hat, ob er den Text in der Tasche hatte, wie das Gespräch beim Direktor war. Er kann sich nicht erinnern.
Das heißt: er entschuldigt sich, sagt aber nicht einmal, wofür.
Dieser Widerspruch wird von seiner eigenen Partei gut mitgetragen, wo sich Fraktionschef Streibl nicht zu peinlich ist, folgendes zu sagen:
“Er hat nochmals nachdrücklich erklärt und versichert, dass er nicht Verfasser des scheußlichen Pamphlets ist. Wir sind froh, dass Hubert Aiwanger heute diesen Schritt aufrichtiger Reue und der Entschuldigung gegangen ist.”
Was hat er denn bereut, wenn er behauptet, nichts geschrieben zu haben?
Wofür entschuldigt er sich eigentlich?
Geradezu absurd und völlig entwaffnend wird es, wenn Aiwanger selbst sagt, er sei „seit dem Erwachsenenalter, die letzten Jahrzehnte – kein Antisemit, kein Extremist, sondern ein Menschenfreund“. Also war er vorher ein Antisemit und Extremist?
Hier würde man gerne mehr erfahren, warum er es nicht mehr ist. Schweigen.
Aiwangers Verteidigung strotzt gerade vor unglaubwürdigen Schutzbehauptungen und sich widersprechenden Erinnerungslücken.
Hierbei geht es in erster Linie nicht einmal darum, dass Aiwanger vor 35 Jahren rechtsextremes Gedankengut verbreitet und wohl auch gelebt hat.
Das ist in der Tat lange her und kann einem Menschen 35 Jahre später nicht zum Vorwurf gemacht werden. Aber ein Politiker, der ein öffentliches Amt innehat, muss sehr wohl deutlich machen, warum das, was er damals gemacht hat, heute nicht mehr aktuell für ihn aktuell ist. Er muss deutlich machen, was ihn von dem weggebracht hat, was er damals anscheinend selbst geglaubt hat.
Es geht hier nicht um eine Jugendsünde wie Ladendiebstahl oder Schneeballwerfen, sondern um die Frage, welche politische Haltung ein Politiker hat. Zu Recht ist man in Deutschland sehr sensibel, wenn es um den Holocaust geht. Ist ein Politiker vertrauenswürdig, der anscheinend die Brisanz dieser Thematik nicht versteht?
Das macht Aiwanger nicht, wenn er von einer „Schmutzkampagne“ spricht, die gegen ihn erhoben wird. Der Schmutz, auf den die Kampagne hinweist, den hat es ja gegeben. Und Aiwanger muss erklären, warum dieser Schmutz für ihn heute wirklich schmutzig ist.
Und das macht er nicht, wenn Aiwanger als Opfer jammert, sich an nichts erinnert, aber in bayerischen Zelten mit dem Naziwortschatz auftritt, dass „die schweigende Mehrheit sich die Demokratie zurückholen“ müsse oder über Flüchtlinge aus Kriegsgebieten herzieht, dass diese keine Deutschkurse bräuchten, sondern nur knappe Anweisungen, wo sie den Wurstsalat im Restaurant hinbringen müssten.
Um es kurz zu machen: Aiwanger steht inhaltlich und moralisch eigentlich völlig blank, und eine derart undifferenzierte Haltung zum Nationalsozialismus hätte eigentlich mehrfach zu seinem Sturz führen müssen. Führte es aber nicht.
Die Menge feiert ihn in den Zelten, die Freien Wähler Bayerns melden eine Zunahme der Mitgliedsanträge und schießen in den Umfragen nach oben.
Was passiert da und was muss zukünftig besser laufen?
Was ist Moral?
Von Aiwangers Chef Markus Söder stammt der Satz: „Moral ist natürlich keine Kategorie in der Politik. Außer, man will jemandem schaden.“ So zu denken, beschränkt sich leider nicht auf Herrn Söder.
Moral und Ethik haben etwas mit Werten zu tun Diese müssen dann aber auch für alle gelten. Wenn Aiwangers Verteidiger bei seinen Erinnerungslücken auf Bundeskanzler Scholz und seine CumEx-Affäre hinweisen, so haben sie nicht gerade unrecht. Es gibt kaum einen Politiker oder Journalisten, der dem Bundeskanzler seine Erinnerungslücken abnimmt. Warum ist er noch im Amt? Claudia Roth, die Bundesbeauftragte für Kultur und Medien ist verantwortlich für das Akzeptieren übelster antisemitischer Entgleisungen bei der documenta. Musste sie ihren Hut nehmen? Was passierte mit der Süddeutschen, als sie vor einigen Jahren mehrere antisemitische Karikaturen abdruckte?
Söder hat recht mit seinem Satz, weil die Moral immer nur dann ins Feld geführt wird, wenn man der gegnerischen Seite schaden kann. Das vergiftet jedoch den öffentlichen Diskurs und führt zur Aushöhlung von Ethik und Moral.
Was ist ein Nazi?
Es verschwimmt immer mehr, was eigentlich ein Nazi ist. Dies ist zum einen die Schuld von Rechtsradikalen, die sich oft ein bürgerliches Antlitz geben, aber noch mehr von politisch eher Linken, die „Nazi“ schreien, sobald jemand das Wort „Heimat“ in den Mund nimmt oder auf Schwierigkeiten bei der Integrationspolitik verweist.
Entsprechend nutzt sich das Wort „Nazi“ ab und die Charakterisierung als „Nazi“ wird nicht mehr zur Kenntnis genommen, weil man sie fast jeden Tag liest.
Es muss genauer als bisher geschaut und darüber nachgedacht werden, was ist politisch rechts und konservativ und völlig legitim und wo liegt die Grenze zum Rechtsradikalen oder gar Nationalsozialistischen?
Demokratie
Eine Demokratie lebt davon und kann nur funktionieren, wenn bestimmte Werte eingehalten werden: Toleranz, Respekt vor der Meinung des anderen, Achtung der Menschenwürde. Eine Demokratie muss diese Werte aber auch aktiv schützen. Deshalb sind freie Medien wichtig, die auf Verstöße gegen diese Werte hinweisen. Es ist ihre Pflicht, nachzuhaken und zu fragen, wenn ein Politiker gegen die Grundwerte der Demokratie verstößt – und dies unabhängig davon, ob es um strafbare Taten geht. Es geht um die Frage der moralischen Eignung von Politikern, von ihrer Fähigkeit, für sich und für andere Verantwortung zu übernehmen.
Und hier hat Aiwanger völlig versagt. Hoffentlich kann die Demokratie draus lernen. Die Wahlurne wird es zeigen. Optimistisch bin ich nicht.d
HAllo Michael Rasche, deine Bewertung im Fall Aiwanger teile ich zu 100%. Du solltest diesen Kommentar an alle Fernsehanstalten senden und natürlich an die Staatskanzlei in München. Denn nur wenn die schlafende Masse wach gerüttelt wird, könnte es sich zu Besseren entwickel.