In wenigen Tagen wird in Deutschland der neue Bundestag gewählt, Anlass, mal wieder die eigene politische Grundhaltung zu reflektieren.
Ich bezeichne mich als Liberaler. Was erst einmal relativ nichtssagend ist, da sich die meisten politischen Gruppierungen der Mitte irgendwie als liberal bezeichnen.
Wenn ich klarstelle, dass ich mich durchaus als liberal im engeren Sinne bezeichne – gar im Zusammenhang mit der FDP – schlägt einem bei vielen Leuten schnell eine gewisse grundsätzliche Verachtung entgegen, die mich an meine Zeit als katholischer Priester erinnert. Damals wie heute gibt es bei vielen Leuten ein völliges Unverständnis, einer solchen Sache irgendwie anhängen zu können.
Aufklärung
Ein wichtiger Bezugspunkt für mein politisches und gesellschaftliches Weltbild ist die Europäische Aufklärung. Kant und Co. Ein unbeirrbarer, manchmal auch naiver Glaube daran, dass Vernunft und Bildung die Grundpfeiler für ein gelingendes Leben sind.
Die Aufklärung war von einem großen Gedanken beseelt: dem der Mündigkeit des Menschen. Jeder Mensch hat prinzipiell das Recht, über sein Leben zu bestimmen. Dies wurde damals gegen die Könige und die Kirche eingefordert.
Vielleicht ist es meine eigene kirchliche Biographie, die mich sehr sensibel dafür gemacht hat, dass auch heute religiöse oder allgemein weltanschauliche Einstellungen sich dominant über das Individuum stellen können und dass das nicht immer gut ist für das Individuum.
Ideologie?
Hier ist wohl auch der Grund, warum ich mich keiner anderen als einer liberalen Partei zugewandt habe: jede andere Partei hat eine Kernbotschaft oder eine Kernzielgruppe oder ein Kernthema. Jede andere Partei hat damit sehr klare Vorstellungen von einer bestimmten, sehr eingeschränkten Idee, mit der sie das ganze Volk beglücken will.
Es ist gut einen persönlichen Wertekompass zu haben.
- Es ist gut, ein Christ zu sein. Ich selbst bin einer. Und Christsein soll auch in die Öffentlichkeit wirken. Nur kann der Versuch, das christliche Weltbild in einem gewissen Sinne zum alleinigen Handlungsmaßstab zu machen, dieser heutigen Gesellschaft nicht mehr gerecht werden. Weil dann mit dem Seelenheil Grundrechte des Menschen ausgehebelt werden können.
- Es ist wichtig, sich für den Arbeiter oder für Benachteiligte einzusetzen. Ich bin Kind des Ruhrgebiets. Nur lehrt die Geschichte, dass dieser Blick auf den Arbeiter nicht der einzige Maßstab gesellschaftlichen Handelns werden darf. Weil dann mit der „sozialen Gerechtigkeit“ Grundrechte des Menschen ausgehebelt werden können.
- Es ist wichtig, die Traditionen und die Kultur des eigenen Landes zu pflegen. Nur lehrt die Geschichte, dass diese eigene Kultur bzw. der eigene „Stamm“ nicht der einzige Maßstab gesellschaftlichen Handelns werden darf. Weil dann über eine kulturelle oder gar rassistische Reinheit Grundrechte des Menschen ausgehebelt werden können.
- Es ist wichtig, sich für die Umwelt und das Klima einzusetzen. Nur darf dieser Einsatz nie der einzige Maßstab gesellschaftlichen Handelns werden. Weil dann über den Klimaschutz Grundrechte des Menschen ausgehebelt werden können.
Dies alles waren und sind gute und wichtige Ideen. Historische brutale Ausformungen die zu Ketzerverfolgungen, kommunistischen oder nationalsozialistischen Diktaturen führten, werden von oft abgetan mit: „Ja, das ist schlecht gelaufen. Aber die Idee war richtig!“
Das ist ein Fehler. Der damit beginnt, eine Idee über alles andere zu stellen.
Offene Gesellschaft
Wohl aufgrund meiner kirchlichen Biographie, aber auch aufgrund meiner intensiven lebenslangen historischen Lektüre bin ich jeder Art Beglückung von oben gegenüber sehr skeptisch, egal aus welcher Richtung.
Was der Gesellschaft gut tut, muss von unten wachsen. „Die“ Gesellschaft gibt es nicht. Es gibt eine Gesellschaft, die aus vielen Millionen Individuen gebildet wird. Und was für das Zusammenleben dieser Individuen gut ist, müssen die Individuen untereinander klären bzw. gut und frei klären können.
Hieraus ergibt sich mein Verständnis des Staates bzw. der Politik, die ich mir wünsche: ihre Rolle besteht darin, diesen Klärungsprozess zu sichern und zu begleiten. Durch eine allgemeine Bildung. Durch eine offene und freie Diskussion. Durch einen freien Austausch der Ideen und Visionen, der Bedürfnisse und Leidenschaften, aber auch der Befürchtungen und Ängste.
Mit anderen Worten: der Liberalismus hat keine Idee, was genau und wie genau der einzelne Mensch sein muss. Er hat die Idee, dass der Mensch selbst die Idee ist. Dass nicht „die“ Gesellschaft oder der Staat dem Einzelnen seine tolle Idee aufdrückt, sondern dieser ihm hilft, seine eigene Idee vom Menschen zu entwickeln und zusammen eine Gesellschaft zu bauen.
Das Individuum baut die Gesellschaft. Nicht die Gesellschaft das Individuum.
Egoismus?
Ist das nicht verkappter Egoismus? Dieser Vorwurf wird dem Liberalismus oft gemacht.
Dieser Vorwurf greift nicht ganz ins Leere. In der Tat gibt es viele, die unter dem Namen des Liberalismus genau das vertreten. Dem liegt aber eine Verzerrung des Liberalismus zugrunde. Beim Individuum anzusetzen, bedeutet nicht, allgemein gesellschaftliche oder soziale Belange nicht im Auge zu haben.
Jeder Mensch ist ein gesellschaftliches Wesen und besitzt auch entsprechend gesellschaftliche Verantwortung. Gut verstandener und gut begründeter Liberalismus heißt nicht: Mensch ohne Gesellschaft, sondern: Mensch in der Gesellschaft. Was auch heißt, dass er die Pflicht hat, die Gesellschaft zu gestalten. Eine Gesellschaft, die auch für diejenigen eintritt, die Hilfe brauchen.
Perspektive: von wo nach wo blicken?
Gegenüber den anderen Parteien ist es eine Frage der Perspektive, die für mich sehr entscheidend ist:
Schaue ich von der Gesellschaft auf den Einzelnen? Und beglücke ihn mit der Idee, von der ich überzeugt bin (bzw. meine Partei), dass sie für alle das Beste ist?
Oder schaue ich vom Einzelnen auf die Gesellschaft? Und überlege, wie ich den Einzelnen so fit kriege, dass er mit den anderen eine gute Gesellschaft bauen kann?
Wenn ich die Idee habe, dass der Mensch Anfang und Ziel politischen Handelns sein soll, dann muss die politische Perspektive vom Menschen nach oben gehen, nicht von oben auf den Menschen.
Es geht dem Liberalismus gar nicht um einen bestimmten Inhalt. Deshalb wirkt er oft kalt und seelenlos.
Es geht dem Liberalismus nicht um den Inhalt, sondern um den Rahmen, in dem Inhalte entstehen können, in dem gesellschaftliche Ideen erfunden, entwickelt und diskutiert werden können. Und so die Gesellschaft verändern. Das ist Liberalismus.
Und wenn der Liberalismus diese umfassende und großangelegte Vision auf die Förderung der Wirtschaft reduziert, verrät er sich selbst. Leider ist es nicht so, dass diese Gefahr überhaupt nicht vorhanden wäre.
Mein Liberalismus
Jeder Mensch ist nicht nur, aber auch das Produkt seiner Biographie. Seiner Erlebnisse, seiner Interessen und Leidenschaften.
Ich wurde in der katholischen Kirche groß und habe sehr intensiv erfahren, wie die Kirche zu sehr darauf vertraute, dass die Wahrheit nur von oben nach unten verteilt werden kann.
Ich habe mich sehr intensiv mit der Geschichte beschäftigt und immer wieder gesehen, wie aus einer vielleicht sogar guten politischen Idee oder Ideologie eine Bevormundung oder sogar eine Tyrannei werden kann:
- Weil sich diese Idee irgendwann über die Menschen hinweg entwickelte.
- Weil sie instrumentalisiert wurde.
- Weil man mit dieser guten Idee Unrecht begründen konnte.
- Weil eine Lehre oder eine Idee oder auch nur ein Thema über allem anderen stehen sollte.
Auf der anderen Seite habe ich mit der Europäischen Aufklärung den Gegenentwurf gesehen: sich nicht bevormunden zu lassen. Den einzelnen Menschen zu befähigen, sich und seine Situation zu verstehen und dann mit diesem Verständnis mit den anderen Menschen an einer freien Gesellschaft zu bauen.
2016 bin ich in die FDP eingetreten, weil ich spürte, dass Demokratie und Freiheit in Deutschland mehr gefährdet sind, als ich je für möglich hielt.
Durch einen dumpfen, „bio-deutschen“ Nationalismus, der das Menschsein über eine Rasse oder über ein Volk definieren will und den die AfD salonfähig gemacht hat. Durch einen alten und neuen Antisemitismus. Durch Fake-News und Desinformationen, die leider Teil der digitalen Medialität sind. Durch übertriebene Staatshörigkeit vieler Menschen und durch Politiker, die diese nur allzu gerne ausnutzen.
Meine zugegebenerweise etwas eigenwillige Lebenserfahrung hat mir diese liberale Perspektive gegeben.
Die muss nicht jeder teilen. Teilen sollte man allerdings das, wofür diese liberale Perspektive steht: für eine funktionierende Demokratie und für einen Blick auf die Dinge, die dieses Funktionieren in Gefahr bringen.
In dem Sinne: auf eine gute Bundestagswahl!
Mit der Basisargumentation Ihres/Deines Liberalismus bin ich voll einverstanden. Doch ist der Liberalismus der FDP soweit von Deiner IDEE entfern, wie die Idee des jesuanischen Christen vom Christlichen der CSU!
Mein ‘Liberalismus’: Menschliche Welttheorie und Weltpraxis werden ausschließlich in guter Kanttradition gemäß Erfahrung und Vernunft erkannt und verantwortlich gestaltet. Und wozu dann noch Christentum? Und Glaube? Meine Antwort: Um die Frage stellen zu können: Was geschieht mit Deiner konkreten Weltsicht und Deinem Handeln, wenn Du davon ausgehst, dass es einen Gott geben könnte, der sich zu Welt und Mensch so verhält, wie Jesus (analog unter den Erkenntnis- und Handlungs-Bedingungen Seiner Zeit).
Dogmen sind keine “Glaubenssätze” sondern zeitbedingt, zeitabhängige Deutungsversuche des Glaubens.
Da Bischöfe an zeitbedingte Glaubenserklärungen glauben und nicht an eigene Erfahrungen unter den Bedingungen des Vertrauens zu den Zusagen Jesu, diagnostiziere ich die Krise der Kirche als bedeutend existentieller als zu Luthers Zeiten. Missbrauch, Frauenfrage, Machtfrage sind sehr harte, dennoch “Sekundär-Phänomene” einer viel tieferen Glaubenskrise.
Wenn ich die wortführenden Politiker vor der Wahl höre, sehe ich ähnliches Fehlverständnis der Wortführer (politische Oberhirten:Innen), wenn von Wertegemeinschaft geredet wird ( Der Begriff WERTE kommt aus der Ökonomie!) als eine Art Glaubensbasis an das Gute und Vernünftige; andererseits in der Praxis geglaubt wird an individual- oder staatsegoistische Vorteilsnahmen.
Was den Liberalismus der FDP betrifft: der ist sicher noch ausbaufähig. Und dass die Wirtschaftspolitik einem liberalen Menschenbild entspringen sollte und nicht umgekehrt, muss auch innerhalb der FDP teilweise noch gelernt werden. Aber daran arbeiten wir und da ist die FDP meiner Meinung nach auf einem besseren Weg als die politische Konkurrenz.
Was das Christentum betrifft: das schafft sich zumindest in seiner kirchlichen Form gerade selbst ab durch eine Haltung, die man als autistisch bezeichnen muss.