Vor einigen Tagen hielt James D. Vance, Vize-Präsident der USA, eine Rede bei der Münchener Sicherheitskonferenz, die man berechtigterweise als gleichermaßen historisch bedeutend, bodenlos und bizarr bezeichnen kann.
Der Tenor dieser Rede: nicht Russland oder China, sondern Europa selbst ist die größte Gefahr für Europa. Europa verrät die Werte der Demokratie, soll Parteien wie die AfD endlich als normale Parteien ansehen und darf sich nicht weiter auf den militärischen Schutzschirm der USA verlassen.

James D. Vance, Quelle: wikimedia.
Dass diese Rede nur so trieft von Doppelmoral, wenn Vance den Europäern Medienzensur vorwirft, aber wenige Tage zuvor eine amerikanische Nachrichtenagentur ihre Akkreditierung verlor, weil sie sich weigerte, vom „Golf von Amerika“ zu sprechen, oder er den Europäern ein falsches Demokratieverständnis vorwirft, weil die Wahl in Rumänien wegen russischer Beeinflussung annulliert wurde, Trump aber jahrelang versuchte, seine verlorene Wahl zu annullieren, sei hier nur kurz erwähnt.
Heuchlerisch sind jedoch auch die europäischen Reaktionen.
Es ist heuchlerisch, den USA wegen des Hinweises auf die AfD illegitime Einmischung in den deutschen Wahlkampf vorzuwerfen, wenn in den letzten Jahren nahezu alle politischen Amtsträger nur wenig Hemmungen hatten, sich gegen Trump zu äußern. Allein die Äußerung eines Bundespräsidenten Steinmeier, dass Trump ein Hassprediger sei, mag zwar menschlich verständlich, aber eben auch als Einmischung in amerikanische Angelegenheiten interpretierbar sein.
Ähnlich heuchlerisch ist die Betroffenheit über die militärische Abwendung der USA von Europa. Seit Jahrzehnten (!) erinnern sämtliche US-Präsidenten, ob jetzt demokratisch oder republikanisch, von Clinton bis Bush, von Obama bis Biden, ihre europäischen „Freunde“ daran, dass auch sie ihren Beitrag zur gemeinsamen Verteidigung leisten müssen. Die Reaktion der Europäer, besonders der Deutschen: null.
Was wir Europäer vor wenigen Tagen von Vance zu sehen bekamen, war ein Spiegel unserer eigenen Ohnmacht, für die kein anderer verantwortlich ist als wir Europäer selbst, die wir uns jahrzehntelang unter dem amerikanischen Schutzschild eingeigelt haben und glaubten, dass Frieden und Wohlstand Selbstverständlichkeiten seien, für die man nichts tun müsse. Und nun wundern wir Europäer uns, dass keiner auf uns hört und wir nicht mit am Tisch sitzen, wenn es entscheidend wird.
Was man wahlweise als naiv oder dumm oder dreist bezeichnen muss.
Der Migrationshype
Ist diese durchaus reale und seit Jahrzehnten wachsende Bedrohung unserer Sicherheit Thema im deutschen Wahlkampf?
Kaum. Worum geht es? Migration!

Quelle: www.bundestag.de
Fanal dieser Fokussierung auf das Thema Migration war der Bundestag vor zwei Wochen, als Friedrich Merz und die Union einen umstrittenen Fünf-Punkte-Plan zur Abstimmung brachten, der dann mit den Stimmen der FDP, aber auch der AfD den Bundestag passierte.
Dieser Fünf-Punkte-Plan stellt die Krönung eines Migrations-Hypes dar, der Deutschland nun seit mehreren Jahren fest im Griff hat.
Um es vorweg zu sagen: natürlich gibt es Probleme mit der Migration. Gewaltbereite Migranten, die nicht abgeschoben werden, Probleme bei der Strafverfolgung, bei der Integration in den Arbeitsmarkt, bei der Integration in die Gesellschaft usw.
Nur: es ist aus vielerlei Gründen nicht empfehlenswert, das Migrations-Thema zur absoluten Nummer eins zu machen:
- Es ist inhaltlich widersinnig, weil es nicht das Thema Nummer eins ist.
Deutschland leidet unter eine Vielzahl von Problemen: die Wirtschaft ist im Niedergang, die Infrastruktur ein Trümmerhaufen, die Digitalisierung hat noch nicht mal richtig begonnen, der Klimawandel schreitet voran, Russland ist auf Eroberungszug in Europa, die USA als bisheriger Schutzschirm ist auf dem Absprung. Aber auch so langweilige Themen wie Renten- oder Pflegeversicherung schreien nach Taten.
Jeder einzelne dieser Punkte ist schwerwiegender und auch teurer als die Migration. Dennoch ist die Migration das große Thema. - Es ist politisch widersinnig, weil es nur die Extremisten am rechten Rand stärkt.
Ganz abgesehen davon, dass es dumm ist, seinen Gegner am stärksten Punkt anzugreifen: es ist offensichtlich und sogar wissenschaftlich nachgewiesen, dass der Wähler bei einem politischen Thema eher zum Original als zur Kopie zieht. Indem insbesondere die Union ohne Not die Migration zum großen Thema macht, schwächt sie nicht die AfD, sondern stärkt sie. Besonders wenn sie dabei eine Rhetorik wählt, die an die AfD erinnert und sogar etwas von einem “nationalen Notstand” faselt. - Es ist wirtschaftlich widersinnig, weil wir Zuwanderung brauchen.
Viele Branchen sind auf Migranten angewiesen, sei es, weil es nicht genug Menschen gibt, die dort arbeiten wollen, oder nicht genug, die es können: nicht nur Pflege, Baugewerbe, Handwerk, Gastronomie, Müllentsorgung oder Gebäudereinigung, sondern auch Medizin und Industrie sind auf Zuwanderung angewiesen.
Noch einmal: es gibt Missstände in der Migration, die danach schreien, endlich behoben zu werden. Doch gibt es eben zum einen Probleme, die deutlich drängender sind als die Migration, und zum anderen ist auch der Umgang mit der Migration selbst durch die Parteien der Mitte sehr bedenklich:
Die eher linken Parteien der Mitte negieren, dass es mit der Migration ein Problem gibt und sperren sich gegen jede Verschärfung im Umgang mit Migranten.
Die eher rechten Parteien der Mitte wollen zahlreiche Verschärfungen einführen und teilweise sogar die Migration einschränken.
Hierbei bedienen sich beide Seiten einer Symbolpolitik, die schwer zu ertragen ist:
– die eine Seite (Innenministerin Faeser, SPD) schickt ein Flugzeug mit ausreisepflichtigen Migranten nach Afghanistan, in dem sich nur Frauen und Kinder, aber nicht ein einziger Straftäter befindet,
– die andere Seite (Union) beschließt Pläne, die in mehrfacher Hinsicht undurchführbar sind, da es überhaupt nicht möglich ist, die Grenzen so zu schließen, dass keine Einwanderer mehr reinkommen (lassen sich Migranten wirklich von Kontrollen an deutschen Autobahnen abhalten?), und es ebenso unmöglich ist, sämtliche (!) nachvollziehbare Ausreisepflichtige (ca. 220.000) in Haft zu nehmen, wie allerdings vorgesehen.
Äußere und innere Gefahren
Deutschland – wie auch die anderen Länder in Europa – ist zur Zeit von innen und von außen gefährdet: das sind zwei verschiedene Gefährdungen, die jedoch miteinander zu tun haben.
Für die äußere Gefährdung ist nicht nur, aber hauptsächlich Russland verantwortlich, das seit Jahren mit Gewalt seine Grenzen nach Europa ausdehnt und laut von einem russischen oder sowjetischen Riesenreich träumt – und dabei lange Zeit von westlichen Politikern hofiert wurde und noch wird.
Die Gefahr ist durchaus real, dass wir uns im noch friedlichen Mitteleuropa in wenigen Jahren in einem Krieg gegen Russland befinden.
Wenn Trump nach den Gesprächen mit Russland darauf hinweist, dass die Ukraine diesen Krieg nie hätte beginnen dürfen: kann sich jemand in Europa angesichts dieser Sätze auf einen amerikanische Unterstützung verlassen? Oder darauf, dass Putin Hemmungen hat, dies auszunutzen?
Einen solchen Krieg kann Russland auf Dauer nicht gewinnen, die Wirtschaftskraft der Europäischen Union ist neunmal so groß wie die Russlands, die Einwohnerzahl mehr als dreimal so groß. Auf Dauer kann Russland diesen Krieg nicht gewinnen, aber das konnte das Dritte Reich auch nicht, als es den Krieg begann. 60 Millionen Tote mussten damals nicht sein und müssen auch heute nicht sein.
Deutschland und Europa müssen schnell militärisch aufrüsten, um zum einen der Ukraine die Möglichkeit zu geben, sich selbst zu schützen und die russischen Ambitionen bereits jetzt zu beenden, zum anderen aber auch, um schlicht und einfach sich selbst zu schützen und für militärische Abschreckung zu sorgen.
Die Alternative sind kurzfristig 10 bis 15 Millionen ukrainische Flüchtlinge und mittelfristig ein neuer, großer Krieg in Mitteleuropa.
Die innere Gefährdung ist eine Krise der Demokratie, die von Rechtspopulisten oder -extremisten angeheizt und ausgeschlachtet wird – dabei stark unterstützt von Russland.
Man kann es deutlich ablesen an dem, was Trump tut, oder was Leute wie Orban in Ungarn oder Meloni in Italien oder die PiS in Polen getan haben oder Le Pen in Frankreich, Wilders in den Niederlanden oder die AfD in Deutschland ankündigen:
Presse, Medien, Justiz und Bildung werden als unabhängige Größen gelöscht, weil sie „Lügen“ verbreiten, das bedeutet: Dinge nicht so sehen wie gewünscht.
Genau hier steckt folgender gleichermaßen anziehender wie verderblicher Gedankengang: was nicht mit dem Willen des Volkes übereinstimmt, ist nicht demokratisch und muss weg.
Nun gibt es aber – und das ist das fundamentale Prinzip der Gewaltenteilung und ein Überlebensmittel einer Demokratie – Dinge, die nichts mit dem Willen des Volkes zu tun haben dürfen: Gerechtigkeit, Menschenrechte, aber auch wissenschaftliche Erkenntnisse sind Dinge, über die man nicht abstimmen darf.
Wo das passiert, werden die Mittel entmachtet, durch die eine Demokratie ihre Machthaber einhegen und begrenzen kann.
Denn das ist das Grundprinzip der Demokratie: nicht die besten Machthaber zu besitzen (die gibt es einfach nicht!), sondern die Machthaber immer kontrollieren und entmachten zu können, wenn es nötig ist.
Das klingt zwar toll: wir schaffen das ab, was die Demokratie und den Volkswillen aufhält! Nur ist dieser Volkswille nie so eindeutig wie vorgegeben und hat jeder Volkswille eben auch Grenzen. Das sollten wir gerade als Deutsche wissen.
Die Bundestagswahl
Scholz hat vor drei Jahren nach dem russischen Überfall auf die Ukraine von einer „Zeitenwende“ gesprochen. Dass er selbst hieraus nahezu keine Taten ableitete, ändert nichts an der Richtigkeit dieser Diagnose. Wir stehen an einer Zeitenwende, die zumindest für die westlichen Länder einschneidender ist als der Zusammenbruch der kommunistischen Systeme in Osteuropa, weil die gesamte äußere und innere Sicherheitsarchitektur sich in der Auflösung befindet und neu aufgebaut werden muss:
- Wie kann man die Sicherheit nach außen herstellen? Wie weit muss die militärische Aufrüstung gehen? Braucht es wieder eine Wehrpflicht? Eine europäische nukleare Abschreckung? Eine gemeinsame europäische Armee?
- Wie kann man die Sicherheit im Inneren herstellen? Wie kann man den Feinden der Demokratie wirksam begegnen? Wie kann man die Unabhängigkeit von Justiz, Medien und Bildung stärken? Wie kann man Zuwanderung gelingen lassen? Wie kann man das Land ökonomisch, aber auch klimatisch fit machen für die Zukunft?
Das sind die Fragen, die über unsere Zukunft entscheiden werden und mit denen wir in wenigen Tagen zur Wahl aufgerufen sind.
Die Unsicherheit, wo man das Kreuzchen machen soll, ist so groß wie noch nie zuvor. Keiner der aktuellen Politiker und keine Partei drängt sich wirklich auf, obige Probleme klar zu sehen und beheben zu können.
Genau das ist ein Grundprinzip, auf dem die Demokratie fußt: es gibt keinen Politiker und keine Partei, die perfekt sind. Die gibt es nie. Und jeder, der anderes behauptet, verspricht etwas, was er nicht einhalten kann.
Es geht nicht darum, perfekt zu sein. Aber es geht darum, die Zeichen der Zeit zu erkennen und auf die Gefahren endlich zu reagieren, die die freien Gesellschaften in Europa bedrohen.
Vance hat in München keine schöne, aber eine sehr bedenkenswerte Rede gehalten, die ein Weckruf sein muss. Nicht nur die Politiker der letzten Jahrzehnte haben geschlafen, sondern vor allem auch die Wähler, die genau diese Politiker mit genau diesen schläfrigen Eigenschaften gewählt haben: Nichtveränderung war das Ziel. Warm und gemütlich, beschützt von Amerika, beheizt mit russischem Gas und die Rente ist sicher.
Diese Zeiten sind vorbei, ob wir wollen oder nicht. Und wir brauchen eine realistische und demokratische Politik, die sich diesen Wahrheiten stellt und deutlich macht, die vielen Weckrufe verstanden zu haben. Dafür müssen nicht nur die Politiker aufwachen, sondern erst einmal die Wähler.
Das spricht mir sehr aus dem Herzen: Migration ist ein wichtiges Thema, aber vermutlich sollte es nicht als das wichtigste behandelt werden. Und entgegen der oft so lauten Annahme geht es ohnehin nicht ohne Migration.
Die Wirtschaft ist in meinen Augen ein bedeutenderes Thema. Und mit meiner liberalen Einstellung denke ich, dass der freie Markt die Migration auch auf eine bessere Bahn leitet. Gemäß der so richtigen Aussage, dass niemand Spezialist für alles sein kann, bin ich stark auf der Seite der originalen Partei für eine brauchbare Wirtschaft: FDP.