Wir leben in Zeiten tiefgreifender Veränderungen:

  • Digitalisierung und die Künstliche Intelligenz stellen unser Leben und Arbeiten auf immer neue Proben. Sie erleichtern viel, werfen aber auch neue Fragen auf, die wir nur schwer erfassen, geschweige denn beantworten können.
  • Die Globalisierung und die Internationalisierung stellen den Zusammenhalt und die kulturelle Identität unserer Länder auf die Probe. Auch hier gilt: es werden viele neue Möglichkeiten eröffnet, aber es gibt auch Schwierigkeiten.
  • Immer neue Kriege und Krisen zerstören das Bild einer Welt, die festen Regeln folgt und der es um den Frieden und den Zusammenhalt der Völker geht. Kriege sind keine Relikte der Vergangenheit mehr, sondern Teil der heutigen und auch zukünftigen Realität.

Um all diese Veränderungen zu beschreiben, wird oft ein Kunstwort benutzt: VUCA. Es steht für Volatility, Uncertainty, Complexity and Ambiguity. Auf gut deutsch: schwankend, ungewiss, komplex und mehrdeutig.

Was all diese Änderungen – seien sie jetzt technisch, sozial, kulturell oder außenpolitisch– schwer fassbar macht, ist das Fehlen eines eigenen Fundaments, eines inneren Kompasses, der Orientierung gibt und einem erst einmal eine Grundlage verschafft, all das einzuordnen, was passiert und auf einen einprasselt.



 

Christentum als Orientierung

Hier hat das Christentum in den vergangenen 2000 Jahren eine große Rolle gespielt. Das Christentum hat den Menschen Orientierung gegeben, ein stabiles Wertegerüst, das den Menschen erst einmal half, sich und ihr Leben groß einzuordnen und das zu identifizieren, was gut oder schlecht ist.

Seit geraumer Zeit verliert das Christentum diese Funktion. Gerade in den letzten Jahrzehnten brechen die beiden großen christlichen Kirchen in Europa zusammen, sei es, weil die Menschen aus vielerlei Gründen nicht mehr so gottesgläubig und –fürchtig sind wie früher, sei es, weil die Kirchen selbst in entscheidenden Bereichen völlig versagen. Das Stichwort Missbrauch dürfte hier genügen.

 

Unabhängig von dem bedenklichen Zustand der Kirchen stellt sich die Frage, wie nun mit dem umzugehen ist, was seit 2000 Jahren unsere Kultur und unsere Gesellschaften in Europa geformt und geprägt hat: dem Christlichen.

Und hier weniger in seinem religiösen, als vielmehr in seinem moralischen Gehalt. Weniger in der Frage, ob man an den christlichen Gott glauben soll, als vielmehr in der Frage, wie das Christentum mit seinen moralischen Vorstellungen das Leben der Menschen in den letzten 2000 Jahren verbessert hat und was wir heute davon mitnehmen können.

 

Christentum als Menschlichkeit

Das Christentum hat eine Idee in die Welt gesetzt, die schon damals in den Anfängen als sehr auffällig empfunden wurde, aber auch schnell als etwas Besonderes anerkannt wurde: die Nächstenliebe.

Die Aufforderung Jesu, seinen Nächsten zu lieben wie sich selbst, ist sicherlich der Kern der christlichen Botschaft, das Markenzeichen des Christentums schlechthin.

Nun ist das Wort „Liebe“ in der Tat sehr hoch gegriffen. Es soll nicht darum gehen, inwiefern es möglich oder unmöglich ist, seinen Nächsten zu lieben. Sondern darum, was dieser Grundgedanke in den letzten 2000 Jahren freigesetzt hat:

Die Idee,

  • dass man seinem Gegenüber erst einmal positiv und mit Respekt begegnen sollte,
  • dass jeder Mensch es sogar wert ist, geliebt zu werden,
  • dass man für das Wohl eines anderen Menschen eine Verantwortung besitzt,
  • dass man denen nach Kräften hilft, die auf Hilfe angewiesen sind,
  • dass man einen Menschen nicht nur über seine Leistung definiert,
  • dass in jedem Menschen etwas ist, das ihm eine unverlierbare Würde gibt, unabhängig von Nation, Religion oder Geschlecht
  • dass es letztlich immer um den Menschen geht.

 



Ein Mensch, der sich dieser christlichen Grundwerte bewusst ist und sie zu eigen macht, lebt, arbeitet und führt anders. Ein solcher Mensch ist eher in der Lage,

  • mit Veränderungen und Krisensituationen umzugehen, weil er über einen inneren Kompass verfügt, an dem er sich orientieren kann,
  • Verantwortung zu übernehmen und Dinge zu gestalten, weil er ein Ziel vor Augen hat,
  • mit anderen Menschen umzugehen und andere Menschen zu führen, weil er den Menschen als solchen im Blick hat.

 

Christentum als Leben

Ich war viele Jahre tätig als katholischer Priester und als Professor an einer katholischen Universität. Trotz aller Distanz, die ich mittlerweile zur Kirche habe, fühle ich mich noch immer als Christ, weil ich nicht nur die Defizite der Kirche sehe, sondern auch das Großartige und Wertvolle, das das Christentum in den letzten 2000 Jahren hervorgebracht hat.
Vielleicht kann gerade das Wissen um die Schattenseiten des Christentums umso besser und auch umso glaubwürdiger auf das Gute blicken, das es auch immer gegeben hat.

Dazu zählt ohne Frage das, was das Christentum über den Menschen gelehrt hat und welches Gerüst an moralischen Werten damit geschaffen wurde. Dieses Gerüst hat trotz des Untergangs der Kirchen nichts von seiner Gültigkeit verloren. Es kann auch heute noch ein Fundament sein, um sich selbst Orientierung und einen inneren Kompass zu verschaffen.

Das ist gerade heute wichtig, wo überall Unsicherheit um sich greift und viele neue Entwicklungen nach immer neuer Orientierung verlangen.

Diese Orientierung und ein eigenes Wertegerüst sind gerade da nötig, wo Verantwortung und Führung für andere Menschen gefragt sind – sei es in der Politik, in der Gesellschaft, im Unternehmen.

Das Christentum spricht vom Wert und von der Würde eines jeden Menschen – eine Botschaft, die nichts von ihrer Relevanz eingebüßt hat.