Am 19. Februar 2024 verstarb im Alter von 85 Jahren der Ägyptologe Jan Assmann. Normalerweise stehen Ägyptologen nicht gerade im Brennpunkt des öffentlichen Interesses – erst recht, wenn es sich um Bücherwürmer handelt und nicht um solche, die Goldschätze in der Wüste entdecken.

Jan und Aleida Assmann (Quelle: wikimedia)

Bei Jan Assmann ist das etwas anderes. Er und seine Frau Aleida haben sich nicht darauf beschränkt, davon zu erzählen, was damals in Ägypten passierte, sondern sie gingen dem nach, warum und nach welchen Mechanismen damals etwas passierte. Und warum diese Mechanismen auch heute noch gültig sind. Nicht nur im alten Ägypten, sondern auch in unserem 21. Jahrhundert.

 

Das kulturelle Gedächtnis

Die wichtigste Idee, die Assmann uns geschenkt hat, ist die des „kulturellen Gedächtnisses“, das nicht nur wichtig ist, unsere Gesellschaften als Ganze zu verstehen, sondern jede Ansammlung von Menschen, von der Familie bis zum Sportverein, von der Partei bis zum Unternehmen.

Worum geht es beim „kulturellen Gedächtnis“?

Bereits in der Psychoanalyse hat es – angedeutet von Freud und weiter ausgearbeitet von C.G. Jung – die Idee gegeben, dass wir Menschen unbewusst auch von Bildern und Ideen geprägt werden, die nicht persönlich, sondern überpersönlich sind: das „kollektive Unbewusste“.

Der französische Soziologe Maurice Halbwachs sprach dann vom „kollektiven Gedächtnis“: dieses bestimmt das Leben und die Identität einer Gesellschaft. Wie wir uns erinnern, wie wir über unsere Gesellschaft und unsere Nation denken, ist nichts Individuelles, sondern stärker als bisher gedacht etwas Allgemeines und Soziales.

Assmann knüpft hier an. Ihn interessierte mit Blick auf die alten Kulturen wie Ägypten die Frage: wie wird eigentlich eine Gesellschaft über viele Jahrhunderte zusammengehalten? Es sind kollektive Erinnerungen, in denen Bilder und Geschichten weitergegeben werden und in denen dann ein bestimmtes Bild einer Gesellschaft entsteht und sich immer weiterentwickelt.

Gedächtnis, so Assmann, ist eben nicht nur etwas Individuelles und Persönliches. Es hat eine Außenseite. Es wird von Dingen geformt, die von außen in uns eindringen: etwa die Sprache, aber eben auch Texte, Geschichten, Bilder, Mythen usw. All das formt unser Persönlichkeit, wird von uns aber auch weitergetragen. Und so lebt eine bestimmte Form der Gesellschaft weiter.

Langlebige Kulturen, wie etwa die ägyptische, haben es meisterhaft verstanden, starke und gute Inhalte zu formen, die dann Teil des „kulturellen Gedächtnisses“ wurde und somit immer weiter getragen wurde.


Das kulturelle Gedächtnis heute

Während Jan Assmann eher aus der Historie kam, war die Perspektive seiner Frau Aleida eher sprachwissenschaftlich. Vielleicht ist es gerade diese Kombination, die etwas Besonderes hat entstehen lassen, das nicht nur für Ägyptologen, sondern für jeden relevant ist, der sich für seine Gesellschaft interessiert.

Das kulturelle Gedächtnis ist der Kitt, der eine Gesellschaft zusammenhält: dasjenige, was die Menschen einer Gesellschaft oft unbewusst verbindet. Diese Frage stellt sich für die deutsche Gesellschaft mit Blick auf zwei Problembereiche:

  • Deutsche Leitkultur?
    Mit Blick auf die Migration wird verstärkt eingefordert, einen Rahmen zu definieren, der als „Leitkultur“ gilt und der von Menschen, die nach Deutschland einwandern, unbedingt zu respektieren ist. Hier ist erst einmal zu sagen, dass Treue zur Verfassung und zum Grundgesetz in der Tat notwendige Bedingungen einer gelingenden Integration sind. Darüber hinaus wird es aber schwierig. Das kulturelle Gedächtnis, wie es das Ehepaar Assmann verstanden hat, ist nichts Festgelegtes, sondern etwas sich immer Weiterentwickelndes. Eine kulturelle Weiterentwicklung kann in der Tat beeinflusst werden, aber nicht befohlen werden. Jede Nation – so auch die deutsche – muss in ihrer Bildungs- und Kulturarbeit sehr genau beachten, welches Selbstbild sie pflegt und damit gelebt haben will.
    Was ist Deutschland und was sind die Deutschen?
  • Holocaust/ 3. Reich:
    Ausdrücklicher Bestandteil der deutschen „Erinnerungskultur“ ist das 3. Reich, und hier insbesondere die millionenfache Vernichtung von Juden im Holocaust. Gerade AfD-Politiker fordern regelmäßig, diese Erinnerungskultur zu revidieren, indem die 12 Jahre des 3. Reichs als letztlich unbedeutend dargestellt wird („Fliegenschiss“), das Gedenken an den Holocaust als „Schuldkult“ dargestellt wird oder Gedenkstätten als „Mahnmal der Schande“ dargestellt wird. Gerade die letzten Monate, in denen antisemitische Tendenzen gerade auch von politisch linker Seite immer deutlicher machten, lassen zumindest fragen, wie gut und effektiv die bisherige Erinnerungskultur in Deutschland ist und ob das Gedenken an den Holocaust nicht oft eher ein oberflächliches Ritual als ein wirkliches Einfühlen geworden ist.
    Was war damals passiert und was heißt das für uns heute? Was heißt „nie wieder“?



Fazit

Jan und Aleida Assmann (Quelle: wikimedia)

Das Ehepaar Assmann hat aus ihrer tiefen Kenntnis des antiken orientalischen Denkens auf viele Mechanismen hingewiesen, die für uns heute relevant sind. Dies betrifft die Religion und die Frage, welche Gefahren in einem Monotheismus und dem damit verbundenen Wahrheitsanspruch liegen können, dies betrifft das Bild, das wir heute von unseren Gesellschaften haben.

Darüber hinaus sind die Probleme, die die beiden angesprochen haben, aber auch viele weitere Bereiche unseres Zusammenlebens relevant, auch für Unternehmen und Organisationen.

Auch diese verfügen über eine Kultur und über bestimmte Faktoren, die diese Kultur prägen – im Guten wie im Schlechten. Die Idee des „kulturellen Gedächtnisses“ lenkt die Aufmerksamkeit darauf, wie diese Kultur eigentlich funktioniert, wie genau sie weitergegeben wird und was sie am Leben erhält.

Fragen, die für jedes Unternehmen und jede Organisation, aber auch für jede Partei und jede Gesellschaft überlebenswichtig sind.

Danke, Jan und Aleida Assmann!

Literaturempfehlungen:
Assmann, Aleida: “Erinnerungsräume: Formen und Wandlungen des kulturellen Gedächtnisses
Assmann, Jan: “Das kulturelle Gedächtnis: Schrift, Erinnerung und politische Identität in frühen Hochkulturen
Halbwachs, Maurice: “Das Gedächtnis und seine sozialen Bedingungen