Die Niederlande haben gewählt. Und das Wahlergebnis hat durchaus interessante Aspekte für die politische Landschaft in Deutschland, das vor ähnlichen Herausforderungen steht wie die in den Niederlanden.
Die Startposition: was war los?

Mark Rutte, VVD (Quelle: wikimedia)
Beginnen wir mit der Situation vor etwas über zwei Jahren, im Sommer 2023. Die Niederlanden werden von einer einigermaßen stabilen Koalition regiert, bestehend aus der federführenden rechtsliberalen VVD von Premier Rutte, der linksliberalen D66, der christdemokratischen CDA und einer kleinen christlichen Partei, der CU. Trotz gewisser Skandale – die Premier Rutte („Teflon-Mark“) routiniert an sich abperlen ließ – war die Regierung relativ stabil.
Bis die VVD auf die Idee kam, mit dem Thema Migration die Koalition zu beendigen: man stellte sehr harte Forderungen, bei denen klar war, dass die Koalitionspartner nicht mitgehen können – im Glauben, man könne bei Neuwahlen Stimmen vom Rechtspopulisten Geert Wilders abgreifen und gestärkt in eine neue Koalition gehen.
Das ging krachend schief. Sämtliche Koalitonspartner fuhren herbe Verluste ein, die VVD – bis dahin unangefochten stärkste Partei – war mit der neuen Vorsitzenden Dilan Yesilgöz nur noch abgeschlagen die Nummer zwei. Hinter der PVV von Geert Wilders.
Die VVD schloss sich nun als Juniorpartner einer dezidiert rechten Koalition an, bestehend aus der Bauernpartei BBB, der neugegründeten konservativen Partei NSC und der nun federführenden PVV. Wilders wurde nicht Premier, war aber natürlich die bestimmende Person der Koalition – auch weil er buchstäblich das einzige offizielle Mitglied „seiner“ nun stärksten Partei ist.
Die Regierung Wilders

Geert Wilders, PVV (Quelle: wikimedia)
Diese neue Regierung hielt etwa 11 Monate. Diese 11 Monate waren in vielerlei Hinsicht ein Desaster, geprägt von Zankereien, Polemiken und einer sich immer mehr anheizenden Stimmung im Land. „Regiert“ im engeren Sinne wurde kaum, die Regierung hat es nicht geschafft, in diesen 11 Monaten auch nur ein einziges Gesetz zu verabschieden.
Stattdessen „führte“ man das Land mit Emotionen: Auffanglager und Integrationsgelder wurden gekürzt (was beabsichtigterweise zu größeren Problemen führte), den Universitäten wurden große Kürzungen in Aussicht gestellt (die diese in vorauseilendem Gehorsam dann auch begannen durchzuführen), das Thema Umwelt wurde völlig negiert (was den Aufbau einer milliardenschweren Industrie zur Gewinnung von Wasserstoff ausbremste) usw.
In den Umfragen gingen die Regierungsparteien runter, Wilders sah sich in der Sackgasse und beendete die Koalition, in dem sicheren Wissen, dass mit ihm keiner mehr koalieren wird und er aus der Opposition heraus wieder Zugkraft gewinnen kann.
Die Wahl für die „Zweite Kammer“
Was folgte, war ein kurzer, aber heftiger Wahlkampf, der mit der Wahl am 29. Oktober ein überraschendes Ende fand.
Großer Sieger dieser Wahl ist die linksliberale D66, die sich von 9 auf 26 Sitze steigern konnte und gleichauf mit der PVV von Wilders ist, die von 37 auf 26 Sitze runterging.
Die Sozialliberalen: D66
Womit hat D66 gepunktet?
Sie hat in den letzten Wochen einen sehr konsequenten und gleichzeitig sehr geschickten Anti-Wilders-Wahlkampf geführt. Viele Menschen aus der Mitte waren enttäuscht über die bisherige Regierung, über das Chaos und die Polemiken.

Rob Jetten, D66 (Quelle: wikimedia)
D66 inszenierte sich gekonnt als Gegenentwurf: seriös, offen, die Mitte im Blick. Gleichzeitig wurde sehr gekonnt auf Wilders und die PVV draufgehalten.
Eine Szene ist hier symptomatisch. Zwei Tage vor der Wahl findet eine Talkshow mit den Kandidaten der größten Parteien vor 2000 Studenten in der Ahoy-Arena in Rotterdam statt. Die Moderatorin fragt Rob Jetten, D66, beim Thema Migration, ob die Niederlande ihre Identität verlieren würden.
Seine Replik: „Ja, die Niederlande verlieren ihre Identität. Wegen Geert Wilders.“
In diesem einen Satz hat er meisterhaft das Narrativ gedreht: nicht die Migranten ändern eine vermeintlich „reine“ niederländische Identität, sondern Wilders mit seinem Hass und seinen Polemiken ändert seit 20 Jahren eine niederländische Identität, die offen und fortschrittlich war.
Mit dieser Haltung ging D66 in den Wahlkampf und räumte ab.
Die alte, rechte Koalition
Die alte Koalition büßte ordentlich ein: große Verluste von Wilders PVV, NSC kam auf null Sitze, BBB wurde fast halbiert, die VVD sah zwischendurch sehr schlecht aus, konnte sich aber mit geringen Verlusten einigermaßen auf dem niedrigen Niveau der vorigen Wahl halten.
Die Christdemokraten: CDA
Weiterer starker Gewinner sind die Christdemokraten, die ein großes Comeback als seriöse bürgerliche Partei feiern konnten und sich bemüht ruhig und unaufgeregt gaben.
Grüne und Sozialdemokraten: GL-PvdA

Frans Timmermans, GL-PvdA (Quelle: wikimedia)
Die linke Seite musste Stimmenverluste hinnehmen, der Vorsitzende Frans Timmermans trat noch am Wahlabend zurück. Hier spielt wohl eine große Rolle, dass die Fusion aus Grünen (GL) und Sozialdemokraten (PvdA) nicht hinhaut. Man muss nüchtern zur Kenntnis nehmen, dass diese beiden Gruppierungen trotz vieler Überschneidungen eben nicht identisch sind.
Die Regierungsbildung dürfte sehr schwierig werden. Zwar gäbe es eine Mehrheit der Mitte zwischen links-(D66) und rechts-(VVD) liberalen, den Christdemokraten (CDA) und der bürgerlichen Linken (GL-PvdA), aber die VVD-Vorsitzende Yesilgöz hat im Wahlkampf sehr deutlich eine Koalition mit GL-PvdA ausgeschlossen. Man wird sehen.
Mögliche Lehren für Deutschland
1. Ein Kokettieren mit rechten Themen hilft nur dem rechten Rand.
Die VVD ließ vor zwei Jahren die Koalition platzen mit dem Thema Migration, um Stimmen vom rechten Rand abzufischen. Man muss zwei Wahlen später nüchtern feststellen, was Experten vorhergesehen haben: es ist schiefgegangen.

Dilan Yesilgöz, VVD (Quelle: wikimedia)
Die VVD hat ordentlich Stimmen eingebüßt, weil Wähler der Mitte sich anderen Parteien zuwandten und Wähler von der rechten Seite das Original wählten: die PVV von Wilders, die genau deshalb ordentlich zulegen konnte, weil sie endlich eine klare Machtoption vor sich hatte.
Genauso ist in den Umfragen ganz klar sichtbar, dass die PVV erst dann im Wahlkampf deutliche Verluste erlitt, als die VVD eine Koalition mit ihr ausschloss. Die Machtoption war weg, die PVV verlor.
Grüße an die deutschen Unionsparteien, die glauben, mit dem Migrationsthema rechte Stimmen abzufangen oder öffentlich über eine mögliche Zusammenarbeit mit der AfD und einem Ende der Brandmauer nachdenken.
Genausowenig wie die SPD Linksextreme abwerben könnte mit dem Thema „Enteignung von Reichen“ kann die Union Rechtsextreme abwerben mit dem Thema „Wir machen dicht!“
2. Man kann den Rechtspopulismus bekämpfen. Man muss es aber auch tun.
Das Besondere an der erfolgreichen Kampagne von D66 war, dass sie Wilders und die Rechtspopulisten direkt anging, sich aber nicht in Details verlor. D66 gab zu, dass es Fehler in der Migrationspolitik gibt, die korrigiert werden müssen. Darüber wurde aber kein Wahlkampf gemacht, sondern mit dem großen Thema: Was passiert eigentlich in unserer Gesellschaft? Wo kommt das Gift her, das uns in den Niederlanden seit Jahren gegeneinander aufheizt? Warum ist unser Optimismus verflogen?

Unruhen in Den Haag am 20.9., Quelle: NOS.
Das wurde direkt in Richtung Wilders adressiert, der nur mit dem antworten konnte, was er zu bieten hatte: Polemik. Und damit das bewies, was ihm D66 vorwarf. Dass rechte Demonstranten die Parteizentrale von D66 bei den Unruhen in Den Haag am 20.9. verwüsteten, war der letzte Beweis, dass D66 auf dem richtigen Weg war.
Grüße an die Parteien der Mitte in Deutschland, die diese Klarheit vermissen lassen und sich von der AfD immer wieder die Themen diktieren lassen und sich dann verheddern.
Hier sei hinzugefügt, dass dieser Weg nicht schnell gehen kann. Viele (aber nicht alle) der Stimmen für die PVV gingen dieses Mal an andere rechtsextreme Parteien. Aber es braucht auf Dauer eine effektivere Bekämpfung der Partei am rechten Rand, die eben gerade am erfolgreichsten ist. Es geht um das Beschneiden von Machtoptionen und um das Zurückgewinnen einer Deutungshoheit.
3. Liberalismus geht, aber breiter aufgestellt und sozial.
D66 ist der große Gewinner der Wahl. Mit einem Liberalismus, der optimistisch nach vorne blickt und die Probleme aller Menschen im Blick hat. D66 hat nicht für Reiche gekämpft und nicht von Bürokratieabbau gesprochen, sondern von einer Linderung der Wohnungsnot, den Mängeln in der Bildung, einer Verbesserung der Integration und einer Zukunft, in der Wohlstand und Klimaveränderung zusammen möglich sind. Diese breite Aufstellung konnte D66 glaubhaft verkörpern, weil man dafür auch das entsprechende personelle Angebot hatte und seit jeher nicht nur auf das Thema Wirtschaft gesetzt hatte.
Nur aus dieser breiten Aufstellung heraus war es möglich, Wilders und die Rechtspopulisten direkt anzugehen: weil man in allen Bereichen deutlich machen konnte, wie wichtig Freiheit und Offenheit sind, dass Freiheit und Offenheit Grundpfeiler der niederländischen Identität sind, die gefährdet sind.
Grüße an die deutsche FDP, die mit der Fokussierung auf das Thema Finanzen und Steuern die großen Themen der Gesellschaft überhaupt nicht im Blick hatte und daher auch nicht deutlich machen konnte, wo und warum die Freiheit gefährdet ist und warum es eine FDP braucht. Und dabei noch nach rechts blinkte. Dann gilt Punkt 1.
Danke für diesen Text und die klaren Worte.
Ich hoffe, dass viele Menschen diesen Text lesen.
MfG Claudia Lutschewitz
Sehr treffend und sauber analysiert!
Danke wie immer Michael. Vielleicht lernen deutsche Parteien tatsächlich was von der niederländischen Realität.