Vor etwa drei Wochen wollte Bernd Lucke an der Uni Hamburg seine Vorlesung halten. Es ging nicht um eine politische Veranstaltung, sondern um das Fach Makroökonomie, für das er Professor an dieser Universität ist. Das Ergebnis ist bekannt: stundenlange Beschimpfungen als Sch…Nazi, Abbruch der Veranstaltung.
Ich bin sehr weit davon entfernt, die politischen Tätigkeiten von Herrn Lucke gutzufinden. Die Geschehnisse an der Hamburger Uni stehen allerdings für eine gewisse gesellschaftliche Grundtendenz, die durchaus bedenklich ist: den Verlust einer Diskussionskultur.
An den Universitäten ist dieser Verlust sehr spürbar. Es gibt die großen öffentlichen Fälle. Jörg Baberowski und Herfried Münkler in Berlin, Dieter Schönecker in Siegen oder Susanne Schröter in Frankfurt sind allesamt Opfer kleiner, aber lautstarker studentischer Gruppierungen, die sie mit allen Mitteln an der Lehre und an einem normalen Arbeiten in der Wissenschaft hindern.
Die Situation an den Universitäten
Das Problem, das hier auftaucht, ist nicht nur eines kleinerer studentischer Gruppen, sondern geht tiefer, es betrifft die Fähigkeit zu diskutieren, sich kontrovers über Themen auszutauschen und die Meinung des anderen zu akzeptieren. Es geht tiefer und es betrifft nicht nur kleine studentische Randgruppen.
Eine Umfrage unter Studenten der Politologie und Soziologie in Frankfurt fand heraus, dass knapp die Hälfte der Studenten dagegen waren, Personen mit kontroverser Meinung ein Rederecht an der Universität zuzugestehen. Viele plädierten dafür, auch entsprechende Bücher aus der Bibliothek zu entfernen.
Wissenschaft kann sich nur dann weiterentwickeln – und nur dann ist Wissenschaft Wissenschaft –, wenn es einen Austausch gibt, eine konträre Auseinandersetzung um Themen, ein gemeinsames Ringen um eine wissenschaftliche Wahrheit – um die dann wieder neu gerungen werden muss.
Studenten der Philosophie fragen in Vorlesungen und Seminarveranstaltungen bei offenen Fragen und Diskussionen den Dozenten nach der „Lösung“. Nun geht es in der Philosophie allerdings erst einmal um den Weg zur Lösung hin, um die Fähigkeit, bisherige Lösungen zu hinterfragen und neue Lösungen zu finden. Dies widerspricht aber der Mentalität vieler Studenten, wie auch meine Frau erfahren musste, die sich bei einer Diskussion um eine ethische Frage in der Vorlesung folgenden Einwand anhören musste:
„Ich habe doch meine Meinung. Wenn jemand eine andere Meinung hat, dann versuche ich den vielleicht zu überzeugen, aber da werde ich doch meine Meinung nicht ändern. Was bringt mir das denn, philosophisch über sowas nachzudenken?“
Ich hielt vor einigen Jahren eine Vorlesung über mittelalterliche Philosophie. Dieses Thema ist jetzt nicht der große Renner unter den Studenten. Bemerkenswert ist allerdings die Absage einer Studentin, die per Mail mitteilte: „Ich kann mich leider nicht mit diesem Thema beschäftigen, weil es mich nicht interessiert.“
Man hat Meinungen. Das ist völlig legitim. Nur muss man darum wissen, dass auch andere Menschen Meinungen haben und diese Meinungen auch legitim sind und vertreten werden dürfen. Wo ist die Bereitschaft, sich auf Neues, auf fremde Impulse einzulassen? Sich mit neuen Inhalten zu beschäftigen und damit zu neuen Inhalten zu kommen?
Die Gesellschaft
Diese Unfähigkeit betrifft nicht nur Studenten. Studenten fallen nicht vom Himmel, sondern wachsen in der Gesellschaft auf. Diese Unfähigkeit ist ein gesellschaftliches Problem.
Es betrifft die Politik. Populismus kann da am besten greifen, wo es um Meinungen geht. Nicht um Austausch und Diskussionen, nicht um ein tieferes Hinterfragen, sondern um Meinungen, die aufgegriffen und instrumentalisiert werden. Das Ergebnis sehen wir in einer Radikalisierung und Vergiftung des öffentlichen Diskurses, der den gesellschaftlichen Stillstand anprangert und gleichzeitig hervorruft. Zu sehen in der Migrations- und Flüchtlingsfrage wie auch in der Klimadebatte (vgl. dazu den Blog “Die Klimadebatte“).
Das Unternehmen
Diese Unfähigkeit betrifft die Unternehmen und die Wirtschaft. In den Unternehmen wächst die Bereitschaft, die eigenen Strukturen dezentraler zu gestalten. Die Unternehmen sollen und wollen „agiler“ werden und das heißt inhaltlich: mehr Flexibilität und mehr Innovation durch mehr Verantwortung der einzelnen Mitarbeiter. Hierarchen werden abgebaut, der Einzelne soll neues Gewicht erhalten.
Die Frage, die sich allerdings zusehends stellt: sind die Mitarbeiter in der Lage, dieser Verantwortung gerecht zu werden? Verfügen Sie über die Fähigkeit, sich mit anderen Menschen über neue Themen zu verständigen? Können Sie überhaupt innovativ sein, wenn sie diese Fähigkeit nicht besitzen?
Diskutieren und Denken
Eine Diskussion ist der Austausch von verschiedenen Gedanken. Das, was in der Diskussion zwischen zwei oder mehreren Menschen passiert, ist das gleiche, was im Denken in unserem Kopf passiert: Austausch von Gedanken. Vergleichen. Abwägen. Zu neuen Entscheidungen kommen. Neues denken.
Die Unfähigkeit zu diskutieren ist zugleich die Unfähigkeit des Denkens. Unsere Gesellschaft ist genauso auf Denker angewiesen wie es die Unternehmen sind.
Wir brauchen Denker, Menschen, die diskutieren, die abwägen, die sich für Neues interessieren, die nicht nur Meinungen haben, sondern um sie ringen.
Hier liegt die große Chance der Philosophie, dieses wieder neu ins Bewusstsein zu bringen, in der Gesellschaft und in der Wirtschaft: die Fähigkeit des Diskutierens. Die Fähigkeit des Denkens.
Ich kann Ihnen nur beipflichten. I. Kant empfahl Erkenntnisse gerade mit Hilfe von Menschen anderer Denkschulen zu überprüfen. Er Unterschied aber noch in Meinen, Glauben und Wissen. Gibt es diesen Unterschied noch? Manchmal habe ich den Eindruck, dass Reiz und Rührung mit Denken verwechselt wird.