Hamsterkäufe, Ausgangssperren, Versammlungsverbote, Schließungen von Geschäften und Restaurants, Grenzen werden dichtgemacht, das soziale Leben eines jeden wird immer mehr eingeschränkt, das Corona-Virus hat uns im Griff.
Ich teile die Ansicht, dass die jetzigen Maßnahmen der einzelnen Regierungen notwendig sind. Diese Ansicht teile ich, auch wenn ich weiß, dass die Regierungen in der Beurteilung der Gefahrenlage Fehler gemacht haben und bei der Durchführung der einzelnen Maßnahmen Fehler machen und machen werden.
Dennoch halte die jetzigen Maßnahmen für notwendig, um eine humanitäre Katastrophe zu verhindern, wie sie in Italien oder mittlerweile auch in Spanien stattfindet. Ich lese seit jeher aufgrund meiner italienischen Vergangenheit alle paar Tage in den italienischen Medien. Was man da in den letzten Wochen zu lesen bekommt, macht einen durchaus zum Freund eines rigorosen Durchgreifens.
Zumal die Unvernunft vieler Bürger anscheinend keine andere Wahl lässt.
Vernunft?
Aber ich habe Bauchschmerzen dabei.
Die habe ich, weil ich als liberaler Mensch immer ein ungutes Gefühl dabei habe, wenn der Staat meint, etwas besser zu können als die Bürger. Wenn die Staatsministerin und CSU-Politikerin Dorothee Bär sagt: „Nur auf die Vernunft der Bürger zu setzen, reicht nicht mehr!“, dann fallen mir nicht nur die vielen Fälle staatlichen Versagens in dieser Krise ein, sondern dann ist das auch ein Angriff auf meinen Glauben an die menschliche Vernunft.
Das heißt nicht, dass ich glaube, dass jeder Bürger vernünftig ist. Natürlich nicht. Und dafür gab es in den letzten Wochen sicherlich genug Beispiele, nicht nur bei Corona-Partys.
Aber ich bin der festen Überzeugung, dass es die menschliche Vernunft ist, die in der Lage ist, die wesentlichen Probleme zu lösen. Es ist keine Frage, in der jetzigen Situation muss schnell reagiert werden, um eine humanitäre Katastrophe zu verhindern. Aber wenn diese Phase vorbei ist, wird es auf die Vernunft der Bürger ankommen, wie und ob diese Krise vorbeigeht.
Was ist in einigen Wochen?
In wenigen Wochen werden die repressiven Maßnahmen wieder zurückgeschraubt. Natürlich wird das Virus noch präsent sein, dennoch wird man den Bürgern wieder mehr Freiheiten geben müssen. Weil alles andere weder psychisch noch ökonomisch zumutbar sein wird.
Psyche:
Bei der psychischen Zumutbarkeit kann man eigentlich darauf verweisen, dass es zumutbar sein muss, ein paar Wochen zu Hause zu verbringen. Und ich muss gestehen, dass ich doch etwas genervt darauf reagiere, wenn ich nach zwei Tagen Quarantäne bereits Hilfeschreie von Eltern lesen muss, die an ihren Kindern verzweifeln. Aber das Problem darf dennoch nicht unterschätzt werden. Die Sozialverbände weisen zu Recht auf eine Zunahme der häuslichen Gewalt hin. Eine Quarantäne ist eine psychische Drucksituation und nicht beliebig verlängerbar.
Ökonomie:
Die andere Komponente ist die ökonomische. Damit meine ich nicht, dass die großen Unternehmen ihre Gewinne gefährdet sehen. Sondern ich meine die Kellner, Restaurantbetreiber, Klempner, Friseure, Ladenbesitzer und Kleinstunternehmer, die jetzt vor dem Ruin stehen. Jeder Tag kostet Milliarden. Diese Milliarden fehlen am Ende des Tages diesen vielen Leuten, die keine großen Reichtümer horten, sondern jeden Euro brauchen, um irgendwie über die Runden zu kommen. Der Staat wird definitiv nicht in der Lage sein, jeden Fall aufzufangen – auch wenn Herr Altmaier dies behauptet.
Das gesellschaftliche Funktionieren ist davon abhängig, dass es einen Austausch an Gütern und Dienstleistungen gibt. Dieser Austausch gibt den Menschen nicht nur die Möglichkeit, finanziell zu überleben, er schafft auch die Güter, die wir zum täglichen Leben benötigen – und erwirtschaftet über Steuern und Sozialabgaben nebenbei noch die Mittel, die Staat und Gesundheitssystem zum finanziellen Überleben benötigen. Ein Unterbrechen dieses Austauschs ruiniert nicht nur wirtschaftliche Existenzen, er entzieht uns allen nach und nach die Alltagsgüter und entzieht dem Staat und dem Gesundheitswesen die finanzielle Grundlage.
Das heißt: aus genannten Gründen wird der Staat die Maßnahmen gegen das Coronavirus in einigen Wochen lockern müssen – sobald es humanitär gegenüber der Situation im Gesundheitswesen vertretbar ist.
Und dann wird es spannend: in einigen Wochen wird das Virus noch präsent sein. Es wird noch Tausende Infizierte geben, die unter uns sind.
Die Frage aller Fragen wird lauten: wie wird ein privat und beruflich einigermaßen normales Leben mit dem Virus möglich sein?
Ein Impfstoff wird nach Angabe der Experten frühestens im Herbst, vielleicht auch erst im Winter vorhanden sein. Bis dahin wird es schlicht und einfach nicht möglich sein, eine ganze Gesellschaft einzusperren.
Leben mit dem Virus?
Wie bis zur Möglichkeit einer Impfung das gesellschaftliche Leben gestalten?
Darauf kann es jetzt noch keine definitiven Antworten geben. Die Antworten müssen gefunden werden. Viele alltägliche Antworten. Dasjenige, das diese Antworten finden wird, wird nicht der Staat sein, sondern die Vernunft der Bürger – die Vernunft und das Verantwortungsgefühl eines jeden Einzelnen, sein Leben und seinen Alltag so zu gestalten, dass es wieder einigermaßen normal ist, aber dennoch berücksichtigt, dass das Virus noch präsent ist.
Dabei wird es viele Fehlversuche und Irrtümer geben. Gegen diese wird man dann auch einschreiten müssen. Aber die positiven Lösungen des Alltags werden nicht verordnet werden können, sondern von jedem Einzelnen gefunden werden müssen.
Das meint Vernunft.
Vernunft heißt nicht, davon auszugehen, dass unter 80 Millionen Deutschen 80 Millionen Menschen sind, die sich immer vernünftig verhalten und immer nur weise und klug sind.
Vernunft heißt, dass diese 80 Millionen Menschen – unter der Voraussetzung, über die nötige Freiheit und Gestaltungsmöglichkeit zu verfügen – im Austausch untereinander die Lösungen und Verhaltensweisen entwickeln werden, die ein psychisch und ökonomisch gesundes Leben mit dem Coronavirus erlauben werden.
Hierzu muss sich die Politik mit ihren Ideen einbringen, die Medizin, die Sozialverbände, die Wirtschaft, die Psychologie, die Soziologie, die Philosophie, die Experten der verschiedenen Branchen und Wissenschaften, auch die Kirchen. Sie alle müssen diskutieren und Ideen entwickeln.
Entscheiden wird aber die Vernunft aller Bürger, die eigene Ideen haben wird, aber auch darüber entscheidet, welche Idee der sog. Experten weiterverfolgt wird und welche nicht.
Vernunft!
Vernunft heißt, dass es einen freien, gesellschaftlichen Austausch gibt, in dem die Bürger des Landes neue Regeln des Zusammenlebens finden. Der Staat hat hier sicherlich die Pflicht, einen Rahmen zu setzen und Grenzen dieses Zusammenlebens vorzugeben – wie es ja aktuell auch berechtigt zu Abwehr einer humanitären Katastrophe passiert. Der Staat selbst hat aber auch Grenzen, an die er sich zu halten hat. Der Staat ist weder in der Lage, noch darf er es auch nur versuchen, positiv zu bestimmen, wie das Leben seiner Bürger im Detail zu gestalten ist. Und um diese Details wird es in den nächsten Wochen gehen.
Krisensituationen sind immer Zeiten der Exekutive, weil schnelles Handeln gefragt ist. Aber danach kommt eine andere Ebene ins Spiel, bei der es nicht um schnelles Handeln geht, sondern um Vernunft und gesellschaftlichen Konsens. Es ist keine Frage, auch eine Gesellschaft handelt nicht immer vernünftig, das sollte gerade die deutsche Geschichte lehren. Aber ohne ein Grundvertrauen in die Vernunft einer Gesellschaft kann es keine Demokratie geben.
Diese öffentliche Vernunft wird in wenigen Wochen greifen müssen, wenn es darum geht, verantwortungsvoll mit den wiedererlangten Freiheiten umzugehen und ein einigermaßen normales Leben mit einem immer noch präsenten Coronavirus führen zu wollen.
Und auch nach der Verbreitung des Impfstoffs werden die europäischen Gesellschaften über Konsequenzen aus der Pandemie nachdenken müssen:
- Welche Mechanismen haben bei der Corona-Pandemie versagt und wie kann man eine solche Pandemie zukünftig besser verhindern?
- Wie kann man die Verwundbarkeit durch die Globalisierung minimieren, ohne wirtschaftliche und persönliche Freiheiten auf Dauer einzuschränken?
Schließen möchte ich mit einem Zitat eines alten Griechen, Isokrates, aus seiner Rede an Nikokles. Isokrates war einer der größten Rhetoriker der Antike, einer, der es wie wenige andere verstand, Sprache und Worte einzusetzen. Der Austausch von Sprache und Worten ist die Quelle der Vernunft und durch diese wurde erst möglich, was wir als Menschen geworden sind. Darauf sollten wir auch jetzt vertrauen. Das ist Humanismus.
„Von allem, was die menschliche Natur besitzt, ist die Rede Ursache der meisten Güter.
Denn mit allem anderen, was wir haben, unterscheiden wir uns nicht von den übrigen Lebewesen.
Dadurch aber, dass wir die Fähigkeit haben, miteinander zu sprechen,
und uns selbst klarzumachen, worauf immer sich unser Wille richtet,
dadurch haben wir nicht nur die tierische Lebensweise verlassen,
sondern haben uns vereinigt.
Wir haben Städte gegründet, Gesetze gegeben und Künste erfunden,
ja, man kann sagen, dass von allem, was wir ersonnen haben, der gegenseitige Austausch Mitursache war.“
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