Als es mit Corona vor einem halben Jahr richtig losging, tauchte immer wieder die Frage auf: „Werden sich die Menschen ändern?“ „Werden die Menschen jetzt klüger?“

Ich war skeptisch. Als historisch sehr interessierter Mensch hatte ich vergleichbare Ereignisse längst vergangener Epochen im Hinterkopf, die mich sehr misstrauisch machten, ob die Menschen klüger werden.

Heute muss man auf die Frage, ob die Menschen angesichts von Corona klüger werden, mit einem klaren „Nein“ antworten.

Der Beweis?

Quelle: ECDC.

Es gibt eine zweite Welle.

Wären die Menschen klüger geworden, hätte es die nicht gegeben. Vor einem halben Jahr konnte man ja noch zugestehen, dass hier in Europa keine Erfahrungen mit einem solchen Virus vorhanden war. Diese Ausrede gilt in diesem Herbst nicht mehr.

Diese mangelnde Unfähigkeit, aus dem Frühjahr zu lernen, bezieht sich ausdrücklich auf Teile der Bevölkerung, aber auch auf die Regierungen in den unterschiedlichen Ländern.


Die Bevölkerung

Weite Teile der Bevölkerung sind vernünftig. Viele Menschen tragen Masken, reduzieren ihre sozialen Kontakte und bemühen sich um einen Alltag, in dem das Infektionsrisiko möglichst gering ist. Ein Großteil der Bevölkerung handelt so. Aber eben nicht alle.

Damit meine ich nicht einmal diejenigen, die in diesen Wochen immer wieder in den Nachrichten auftauchen. Die das Virus für eine Erfindung halten und/oder durch 5G verursacht. Die glauben, dass uns Chips von Bill Gates eingepflanzt werden. Die den Reichstag stürmen, weil dort Trump anwesend sei, oder auf einen Vegan-Koch hören und in einem Berliner Museum Kunstwerke beschädigen, weil dort nachts Menschen geopfert würden. Nein, diese Leute sind zwar in den Schlagzeilen, aber eigentlich in jedem Sinn eine lächerliche Minderheit.

 

Der problematische Teil der Bevölkerung ist ein anderer.

Vor ein paar Wochen gab es hier in den Niederlanden ein Interview mit einem Studenten aus Delft über das Thema Corona. Der sagte:

„Ist mir völlig egal. Ich gehe weiter feiern. Ich habe für mich die Entscheidung getroffen, dass ich weiter feiern will, auch wenn ich mich anstecke. Ist meine Entscheidung und die darf ich treffen.“

Diese Haltung ist ausdrücklich nicht nur bei Studenten anzutreffen, sondern bei allen Generationen. Dennoch scheint die Generation der unter-30jährigen besonders betroffen und glaubt sich besonders fit.

Das medizinische Problem bei dieser Haltung ist dasjenige, dass auch ein knackiger, junger, symptomfreier 20jähriger das Virus weitergeben kann ohne überhaupt zu merken, dass er selbst infiziert ist. Das betrifft dann ältere Personen in seinem Umfeld, aber auch viele jüngere Personen, die evtl. unbekannterweise irgendwie vorerkrankt sind. Der gleichaltrige 20jährige, der an Asthma leidet, wird obiges Interview nicht so entspannt hören.

Bei vielen Menschen ist so etwas wie ein „soziales Bewusstsein“ anscheinend nicht vorhanden bzw. das Bewusstsein dafür, dass das, was man tut, auch Konsequenzen für andere Menschen hat.

Und das ist der Fall. Man muss nüchtern feststellen, dass aufgrund dieser Haltung vieler Menschen das Virus wieder präsent ist, immer mehr Menschen medizinisch betreut werden müssen, immer mehr Krankenbetten in Beschlag genommen werden müssen, was wiederum die medizinische Versorgung anderer Krankenfälle gefährdet.

Diese Haltung, die Konsequenzen für andere Menschen überhaupt nicht in Betracht zu ziehen, betrifft ausdrücklich nicht nur Studenten und die jüngere Generation, sondern alle Generationen. Wenn eine Ärztin nach dem Spanienurlaub mit eindeutigen Symptomen ihre Praxis öffnet und keinen Test macht, um keinen Einnahmenverlust zu erleiden (selbst erlebt!), oder jemand anderes sich für unverzichtbar hält und mit Symptomen ins Büro geht, dann ist das keinen Deut besser als eine Studentenparty. Eher noch fahrlässiger.

 

Die Regierungen

Kommen wir zu den Regierungen. Auch hier muss man feststellen, dass sie aus den Ereignissen des Frühjahrs nicht gelernt haben.

Das Zugeständnis, dass man im Frühjahr ja noch keine Erfahrungen hatte und unvorbereitet war, gilt hier nur bedingt. Schließlich gab und gibt es Seuchenpläne, die seit vielen Jahren in der Schublade schlummern. Der nationale Pandemieplan Deutschlands von 2012 sah mehrere wichtige Maßnahmen vor: Vorhalten von ausreichendem Mundschutz für die Bevölkerung, schnelle Einstellung der Flugverkehrs zu betroffenen Gebieten usw.

Unterm Strich muss man sagen, dass sämtliche Maßnahmen des Plans gar nicht oder zu spät ausgeführt worden sind.

 

Wie sieht die Situation ein halbes Jahr später aus?

Markus Söder (Quelle: www.wikipedia.org)

Deutschland macht schrittweise wieder dicht, mal mehr, mal weniger. Je nachdem, welche Chancen sich ein Ministerpräsident auf CDU-Parteivorsitz oder Kanzlerkandidatur machen kann. In purem Aktivismus werden Maßnahmen wie das Beherbergungsverbot angekündigt, dessen medizinische Relevanz fragwürdig und dessen geographische Relevanz unklar ist. Ähnliches gilt bei nächtlichen Sperrstunden in der Gastronomie usw. Entsprechend oft werden angeordnete Maßnahmen zur Zeit von den Gerichten kassiert.

Hier in den Niederlanden ist es nicht besser. Mittlerweile hat sich die Erkenntnis in der Regierung durchgesetzt, dass Maskentragen zwar kein Allheilmittel ist, aber durchaus die Verbreitung des Virus hemmen kann. Das Problem: man kann keine Maskenpflicht durchsetzen, weil es dafür keine rechtliche Grundlage gibt. Es gibt kein dem deutschen Infektionsschutzgesetz vergleichbares Gesetz, das der Bevölkerung verpflichtende Maßnahmen zum Schutz der Gesundheit verordnen kann. Erst vor drei Wochen wurde ein entsprechender Gesetzesantrag im Kabinett auf den Weg gebracht.



Was haben die Regierungen im letzten halben Jahr gemacht? Alle (!) Experten haben Anfang des Jahres vorhergesagt, dass im Herbst eine zweite Welle droht. Vermitteln die Regierungen in dem, was sie tun, und in dem, wie sie es tun, das Gefühl, auf diese zweite Welle vorbereitet zu sein?

Hier ist der Punkt, an dem der Vorwurf, die Pandemie zeige das Versagen des Kapitalismus, ins Leere geht. Volksgesundheit ist Aufgabe des Staates. Kein Unternehmen muss für die Bevölkerung Masken vorhalten und kein Unternehmen darf die Flughäfen dicht machen. Hier liegt ein Versagen der Regierung vor, die ihre eigenen Notfallpläne sträflich missachtet hat und auch nach einem halben Jahr irrlichternd durch die Krise taumelt.

Langfristigkeit

Als es mit Corona im März richtig losging, habe ich in einem Blog darauf hingewiesen, dass die aktuellen harten Maßnahmen zwar gerechtfertigt sind, aber in dieser Härte gar nicht über einen längeren Zeitraum durchgeführt werden können.

Neben das notwendige feuerlöschende Krisenmanagement muss die langfristige Perspektive treten, und so habe ich im März die Frage gestellt:

“Wie wird ein privat und beruflich einigermaßen normales Leben mit dem Virus möglich sein?”

An dieser Frage ist in den letzten relativ ruhigen Monaten in verheerender Weise nicht gearbeitet worden. Als Reaktion auf eine Viruspandemie darf es nicht nur darum gehen, das gesellschaftliche Leben dichtzumachen, um eine weitere Ausbreitung zu verhindern, sondern zu schauen, wie einigermaßen normales gesellschaftliches Leben mit dem Virus möglich ist:

Wie können die meisten Dinge stattfinden, auch wenn das Virus noch umhergeistert?

Wie kann gesellschaftliches Leben funktionieren, solange es noch keinen Impfstoff gibt oder wenn es keinen effektiven Impfstoff geben wird?

Feuerwehr als Krisenmanagement

Die Regierungen beschränken ihr Krisenmanagement auf die Feuerwehr. Wenn es anfängt zu brennen, halten sie drauf. Brandschutz ist aber nicht nur das Löschen aktueller Brände. Sondern hat auch mit Prävention zu tun: Baumaterialen, Fluchtwege, Kontrollen usw. Damit es gar nicht erst brennt.

Die Regierungen beschränken sich weitgehend auf das Feuerlöschen und haben die mittel- und langfristige Perspektive eines gesellschaftlichen Lebens mit Corona überhaupt nicht im Auge.

Wenn ich die Krise aber so manage, kommt sie immer wieder. Wenn ich Brände nicht in der Entstehung verhindere, sondern nur lösche, muss ich immer wieder löschen.

 

Um ein normales Leben mit dem Virus zu ermöglichen, braucht es – so die Erfahrungen aus Asien – ein schnelles Erkennen, wer infektiös ist, und ein schnelles Nachverfolgen der Infektionsketten.

Dazu werden etwa in Asien Schnelltests eingesetzt, die zwar „nur“ 90% Ergebnissicherheit bieten, aber dafür nicht nach 3 Tagen, sondern nach 15 Minuten ein Ergebnis haben, sowie Temperaturmessgeräte, die ich hier in Europa noch nie live gesehen habe.

Zur schnellen Nachverfolgung werden dort verpflichtende (!) Handy-Apps eingesetzt. Die Handy-App in Deutschland war 10x so teuer, kam sehr spät und wurde zudem von der Bevölkerung nicht akzeptiert. Das Ergebnis: die Gesundheitsämter telefonieren den Gästelisten hinterher – wenn sie das nicht schon aufgegeben haben wegen mangelnder personeller Ressourcen.

Von solchen Elementen, die uns helfen, ein zwar eingeschränktes, aber einigermaßen normales Leben weiterzuführen, gäbe es sicherlich eine Menge. Sieht man die? Oder hat man das Gefühl, dass sie gerade entwickelt werden?


Sind wir in den letzten Monaten schlauer geworden?

Mit Blick auf das Ergebnis (zweite Welle Corona) muss man das verneinen.

Weite Teile der Bevölkerung sind nicht willens, auf bestimmte Dinge im Alltag zu verzichten oder sie zu reduzieren, um eine Ausbreitung des Virus zu verhindern.

Noch einmal: der größte Teil der Bevölkerung handelt vernünftig und tut sein Bestes. Aber auch eine große Minderheit ist eben epidemisch relevant.

Bei den Regierungen sieht es nicht viel besser aus. Zu spätes, dann schlecht koordiniertes und aktivistisches Handeln wohin man sieht. Hierbei sollte man keiner Regierung böse Absicht oder gar diktatorische Umstürzpläne unterstellen. Es ist eine Mischung aus Naivität („Wird schon gutgehen“), Aktivismus (“Seht her, ich habe alles im Griff!”), strukturellen Schwierigkeiten („Wer entscheidet was?“) und einem sehr kurzfristigen Denken, das immer wieder sehr augenblicksgesteuert ist und eine mittel- und langfristige Perspektive überhaupt nicht im Auge hat.

 

Gibt es Hoffnung?

Ja, gibt es. Und die ist begründet in der Kreativität und im Forschungsdrang vieler Menschen.

Die medizinische Erforschung des Corona-Virus schreitet voran. Unabhängig davon, wann und ob (!) eine Impfung möglich sein wird, verbessern sich die Behandlungsmethoden und das medizinische Wissen darüber, wie dieser Virus funktioniert und wie man ihn sich vom Leib halten kann.

Darüber hinaus sind viele kreative Menschen dabei, kreative Lösungen zu finden. Für ihren Alltag. Für ihren Beruf. Für ihr Gesellschaftsleben. Einige von diesen Dingen werden sich durchsetzen und unseren Alltag mit dem Virus positiv verändern.

Insofern: ja, vielleicht werden wir doch schlauer. Aber eben nicht so schnell. Und mit großen Opfern, die nicht alle nötig gewesen wären.