Es ist mein Traum: Trainer einer Fußballmannschaft zu werden. Immerhin habe ich es als Jugendlicher zum Trainer der Messdienermannschaft im heimischen Mülheim gebracht, die dann auch das Fußballturnier der Kirchengemeinde gewann – zum ersten Mal überhaupt. Dass dies nur gelingen konnte, weil ich einige gute Spieler vom SV Dümpten 13 hinzuholte und ehrenhalber für diesen einen Tag zu Messdienern machte, sei nur nebenbei erwähnt. Schließlich zeichnet es auch einen guten Trainer aus, zu wissen, wann man mit der eigenen Gurkentruppe nichts erreichen kann und diese etwas Blutauffrischung braucht.
Francesco Farioli
Mit dieser Trainerkarriere im Rücken sehen meine Chancen, einmal einen Erstligisten zu trainieren, nicht gut aus. Es gab sicherlich einige Trainer, die sich etwas tiefgründiger als ihre Kollegen über ihren Sport geäußert haben und so den Titel “Philosoph” erhielten, etwa Johan Cruijff, Jorge Valdano oder César Luis Menotti. Dass sich Fachphilosophen als Trainer durchsetzen, ist eher ungewöhnlich. Entsprechend interessiert verfolge ich seit einiger Zeit den Weg eines Italieners, Francesco Farioli, der jetzt immerhin Trainer von Ajax Amsterdam ist – und Philosoph.
Im Unterschied zu den meisten Fußballtrainern kann Farioli auf keine Karriere als Fußballspieler zurückblicken. Er studierte in Florenz Sportwissenschaften und Philosophie. Seine Abschlussarbeit in der Philosophie trägt den Titel: „Philosophie des Spiels. Die Ästhetik des Fußballs und die Rolle des Torhüters“. Sein Betreuer hatte die Arbeit mit einem „Wir sind hier an der Uni und nicht bei der Sportzeitung“ zuerst abgelehnt.
In seiner Freizeit war Farioli Torwarttrainer eines Viertligisten. Im Laufe der Zeit wurde seine Fähigkeit immer angefragt, Spiele zu analysieren. Aus dieser Fähigkeit machte Farioli immer mehr ein Hobby: Youtube-Videos, Facebook, Blogs über Fußball und Fußballtaktik.
Schließlich entdeckte ihn ein junger Trainer und holte ihn in sein Trainer-Team, der dann in den nächsten Jahren selbst steil nach oben gehen sollte und mittlerweile als eines der größten taktischen Trainertalente überhaupt gilt: Roberto de Zerbi, mittlerweile Trainer bei Olympique Marseille.
Nach mehreren Jahren zusammen mit Zerbi übernahm Farioli schließlich eine eigene Mannschaft in der Türkei, mit 30 Jahren. Von da an ging es aufwärts. Insbesondere bei OGZ wurde Farioli in ganz Europa bekannt, nun ist er bei einem der bedeutendsten Clubs Europas gelandet: Ajax Amsterdam. Er ist 35 Jahre alt.
Was zeichnet Farioli aus? Inwiefern sind diese Fähigkeiten durch die Philosophie gestärkt worden? Inwiefern verrät Farioli etwas darüber, welchen großen Nutzen die Philosophie haben kann?
Denken in Systemen
Die Haupteigenschaft, die Fariolis Trainerlaufbahn nach vorn gebracht hat, sind seine analytischen Fähigkeiten: das Lesen des Spiels. Wie bewegt sich die gegnerische Mannschaft, welche Laufwerke hat sie? Wie bewegt sich die eigene Mannschaft, wie soll sie sich eigentlich bewegen?
Das Geschehen auf dem Spielfeld ist eines mit insgesamt 23 beweglichen Punkten: je 11 Spielern und dem Ball. Als Trainer kommt es darauf an, das Zusammen der eigenen und der gegnerischen Elf zu erkennen. Es sind Systeme, die miteinander agieren und die man als Trainer abstimmen muss.
Es sind Eigenschaften, die in der Philosophie seit Jahrtausenden beschrieben werden: von Heraklit bis hin zur Systemtheorie oder dem Strukturalismus des 20. Jahrhunderts: die Wirklichkeit ist immer in Bewegung und organisiert sich in Systemen.
Flexibilität
Fariolis Fußball wird oft als „anarchisch“ beschrieben. Auch von ihm selbst. Das stimmt allerdings nicht, da er organisiert ist. Er ist nur viel flexibler als bisher üblich. Flexibilität bedeutet nicht, alles, was Ordnung ist, über Bord zu werfen und alles dem Zufall zu überlassen. Flexibilität bedeutet vielmehr, die Starrheit der Ordnung aufzubrechen. Die Ordnung nur da einzusetzen, wo sie nötig ist und die Freiheit da zu gestatten, wo sie nötig ist. Zu erkennen, wo was nötig ist, ist das Ergebnis einer guten Analyse und klaren Denkens. Wie man es in der Philosophie lernt.
Kritik
Eine wichtige Grundlage der Philosophie ist die Kritik: um etwas zu verstehen, muss man sich distanzieren können. Um etwas zu überwinden und dem Neuen Raum geben zu können, muss man erkennen warum das Alte schlecht war und sich kritisch mit ihm auseinandersetzen. Farioli beschreibt seinen eigenen Weg so: „Wir stellen die Dogmen infrage, von denen der Fußball voll ist, die aber oft überholt sind.“ Farioli wirft den klassischen taktischen Systemen vor, zu eng zu sein und feste Identitäten festzulegen, die aber in dieser Festigkeit einfach nicht sinnvoll sind und mehr behindern als nützen. Wenn man so will eine Reminiszenz an die Postmoderne.
Der Blick auf das große Ganze
Um die eigene, kleine Welt einordnen zu können, muss man sie in das große Gesamt der ganzen Welt einordnen: nur dann kann man die kleine Welt wirklich verstehen und auch sinnvoll verändern. Wenn ein Unternehmen über die eigene Identität oder auch nur über ein Produkt nachdenkt, muss es sich und sein Produkt einordnen in die dafür relevante Welt: die Gesellschaft, den Markt. Erst dieser große Blick ermöglicht es, sich selbst wirklich zu verstehen. Und verändern zu können.
Farioli verfügt über einen interessanten Blick auf den Fußball, der vor allem vom niederländischen Historiker Johan Huizinga geprägt ist und seinen Analysen des Menschen als einem „spielenden Menschen“ (homo ludens). Das Spiel ist nicht etwas Zufälliges oder gar Überflüssiges, es ist die wesentliche Antriebskraft des Menschen: der Mensch ist ein kulturelles Wesen und diese Kultur funktioniert nach den Mechanismen eines Spiels. Der Mensch ist ein Spieler. (Vgl. dazu den Blog: “Der Mensch ist ein Spieler“)
Farioli half dies, so wörtlich, im Fußball „eine ernsthafte Tätigkeit zu sehen, bei der der scheinbare Dualismus zwischen Freiheit und Regeln, Ernst und Leichtigkeit, Realität und Fiktion überwunden wird“. Mit anderen Worten: es verändert Deine Sicht auf ein Spiel, wenn Du weißt, dass das ganze Leben ein Spiel ist.
Hier liegt auch der Schlüssel zu einer gelingenden Flexibilität: Flexibilität bedeutet nicht, dass es keine Regeln gibt, sondern dass sich die Regeln auf einer höheren Ebene als bisher gesehen orientieren. Ein flexibler Fußball ist flexibel, weil er mit den bisherigen Annahmen der Fußballwelt bricht, aber er funktioniert, weil er sich an den Regeln der allgemeinen Welt orientiert. Deshalb ist es keine Anarchie, sondern gelingende Flexibilität. Für die braucht es die Ebene drüber.
Führung
Farioli gilt als jemand, der einen guten Zugang zu seinen Mannschaften findet. Dabei ist er kein Motivationskünstler wie etwa Jürgen Klopp oder gar Jose Mourinho. Farioli kommt über eine Art engagierte Sachlichkeit: er erklärt viel und überzeugt seine Spieler mit Wissen und mit seinen Analysen. Dabei hat er jedoch sehr genau seine Spieler im Auge, weiß, was er ihnen zumuten kann und was nicht. All das verlangt eine sehr klare Sicht auf den einzelnen Spieler und das Zusammen der Mannschaft. Ein System funktioniert im Zusammen der einzelnen Teile.
Fazit
Seitdem Farioli vor 1,5 Jahren in Nizza Nachfolger des von mir ebenfalls sehr geschätzten Lucien Favre wurde, verfolge ich seine Trainerlaufbahn, zum einen, weil er als Schüler von Zerbi einfach interessante fußballtaktische Dinge vermittelt, zum anderen schlicht und einfach, weil er studierter Philosoph ist und ich es spannend finde, wie diese Expertise in einem Umfeld wie dem Fußball sichtbar wird. Seine Biographie ist ein schöner Beleg dafür, wie wichtig und wie erfolgreich Philosophie auch in Gebieten sein kann, in denen man nicht damit rechnet.
P.S. Am nächsten Sonntag kommt Ajax Amsterdam hier nach Rotterdam und spielt gegen meinen Club, Sparta Rotterdam. Ich hoffe, dass Farioli an diesem Tag mit seiner Philosophie am Ende ist.
Da bleibt mir nur die Weisheit zu verkünden: Der Ball ist Rund, dass Spiel dauert 90 Minuten und der nächste Gegener ist der schwerste.