Es ist der 20. Juli 2019. Bei Protesten gegen die Brexit-Politik Johnsons lassen Demonstranten einen Ballon steigen: ein aufgeblasener Johnson mit der Summe von 350 Millionen Pfund auf der Brust – die Summe, die Johnson als wöchentliche Ersparnis nach einem EU-Austritt versprochen hatte.

So inhaltlich richtig diese Aktion war: die Demonstranten haben vor allem eins bewiesen: nicht verstanden zu haben, wie Johnson oder allgemein Populismus funktionieren. Dann hätten die Demonstranten verstanden, dass dieser Ballon für Johnson keine Niederlage, sondern eine tolle Werbung ist.

Denn diese Demonstranten wiederholen seine Botschaft.


Johnson am Ende? Von wegen!

In diesen Tagen überschlagen sich die Nachrichten mit den Schlagzeilen, dass Johnson am Ende sei: die Parlamentsmehrheit ist verloren, Minister treten zurück, sein Ziel, den Brexit ohne Deal mit der EU zu vollziehen, soll gesetzlich verboten werden.

Johnson ist am Ende? Das ist die Frage. Vielleicht läuft es ja sogar glänzend für ihn. Alles eine Frage der Interpretation. Und diese Interpretation ist zuallerst von der Frage abhängig, was eigentlich das Ziel von Johnson ist.

In der Tat, wenn es um den schnellen Brexit geht, da sieht es für Johnson nicht gut aus. Was aber, wenn das Hauptziel, um das Johnson geht, nicht der Brexit ist?

Wenn man sich die bisherige Karriere von Johnson und seine Persönlichkeit ansieht, kann man durchaus auf die Idee kommen, dass es ihm letztlich gar nicht um den Brexit geht, sondern um etwas anderes, nämlich um … Johnson.

 

Und aus dieser Perspektive sieht es gar nicht mal schlecht aus. Ein Blick auf Johnson aus der Perpektive Johnson:

Wenn ich das Problem nicht lösen kann, muss ich anderen die Schuld dafür geben können.

Läuft. Johnson weiß genau, dass das Brexit-Problem aktuell nicht lösbar ist – wenn es überhaupt lösbar ist. Er macht aber nicht den Fehler von Theresa May, immer wieder zu verhandeln und zum Märtyrer für die Sache zu werden. Er verhandelt nicht, er spitzt zu – mit dem Ergebnis, dass die Gegenseite klar „nein“ sagen muss und er der Gegenseite die Schuld am Scheitern zuspielen kann. Das geht dann besonders, wenn eigene Leute im Parlament erbost die Seiten wechseln und er keine Mehrheit mehr hat. Johnson kann unschuldig fragen: „Was soll ich machen? Ich habe gute Ideen, kann sie aber nicht durchsetzen?“ Seine Anhänger glauben an die Ideen und wählen ihn wieder. Weil die anderen Schuld am Scheitern sind.

 

Ich muss das Problem am Köcheln halten.

Läuft. Johnson hat kein Interesse an einem Ende der Brexit-Debatte. Je länger die dauert, desto deutlicher wird jedem Beobachter, dass das alte politische System am Ende ist. Trump macht es so mit den Migranten, die AfD mit den Ausländern: ob die Probleme stärker oder schwächer werden: egal, weiter zuspitzen, das Problem muss präsent bleiben, damit man selbst sich als Problemlöser feiern lassen kann – ohne je das Problem lösen zu wollen.

 

Ich muss die Leute aus meiner Partei loswerden, die mir nicht bedingungslos folgen.

Läuft. Zuspitzen, provozieren … und schon verlassen die eigenen Leute die Partei, die man eh nicht gebrauchen kann. Dass man dabei die Mehrheit verliert, kann ja sogar Vorteile haben. Keiner kann einem vorwerfen, mit einer Mehrheit keine Lösungen herbeigeführt zu haben (siehe Punkt 1). Also erst einmal die eigene Partei sortieren, und dann der nächste Schritt:

 

Ich brauche Neuwahlen, um eine neue Mehrheit mit meinen Leuten zu bekommen.

Läuft. Johnson kämpft für Neuwahlen und er wird sie auch kriegen. Johnson kann zu Recht darauf verweisen, dass das aktuelle Parlament nicht in der Lage ist, eine stabile und verantwortungsvolle Regierungsarbeit zu gewährleisten (dass er selbst dafür mitverantwortlich ist, lassen wir mal beiseite). Also muss neu gewählt werden. Die Opposition wehrt sich dagegen, aber mit welchen Argumenten kann man sich dagegen wehren, das aktuelle Chaos durch den Willen des Volkes zu beseitigen? Johnson kann diesen Wahlkampf auf sich zuspitzen und es ist auch klar, dass die Tories, die dann im Parlament sitzen, nicht so nervöse Hemden sind, die bei Schwierigkeiten mit so komischen Sachen wie Verantwortungsgefühl und demokratischen Werten angelaufen kommen.


Chance und Risiko

Für das Ziel „Johnson“ läuft es für Johnson prächtig. Die Situation wird immer weiter zugespitzt, er selbst scheint immer ohnmächtiger, besitzt damit anscheinend immer weniger Verantwortung für dieses Chaos und kann sich gerade deshalb als die einzig wahre Lösung definieren, die eben noch keine richtige Chance hatte. Das Problem „Brexit“ ist in genialer Weise unlösbar und wird auch die nächsten Jahre noch sehr gut geeignet sein, sich zu profilieren. Die Neuwahlen werden kommen und aus ihnen wird Johnson gestärkt hervorgehen.

Natürlich ist Johnsons Handeln nicht ohne Risiko. Realistisch sind drei große Gefahren für ihn und das große Ziel „Johnson“:

  • Die eigene Partei stürzt ihn.
    Durch den Austritt oder Rauswurf einiger unliebsamer Mitglieder wird dieses Risiko zwar geringer, ist aber durchaus noch gegeben.
  • Das wirtschaftliche Debakel vertreibt die Wähler.
    Wenn das wirtschaftliche Debakel eines Brexits immer deutlicher am Horizont spürbar wird und der Wähler weniger Geld im Geldbeutel hat, könnte er auf die Idee kommen, dass der Brexit keine gute Idee ist. Diese Gefahr ist sehr groß für Johnson. Entsprechend häufen sich in den letzten Tagen bereits die Töne von Johnson-Anhängern, dass es beim Brexit um demokratische Grundwerte ginge: man muss auch wirtschaftliche Nachteile in Kauf nehmen, um den Willen des Volkes umzusetzen. Diese Argumentation wird nicht verfangen, die Frage ist jedoch, wann der kommende Brexit für den Wähler spürbar ist.
  • Er selbst.
    Das größte Risiko für seine Zukunft ist er selbst. Auch wenn er planvoller und systematischer vorgeht als viele vermuten: er ist immer für eine Überraschung gut und manchmal kann ihn seine Begeisterung für sich selbst zu Dingen verleiten, die auch für ihn selbst nicht gut sind.

Fazit

Es geht nicht in erster Linie um den Brexit, es geht um Johnson. Wenn man die Ziele eines Menschen erkennen will, soll man nicht auf das hören, was er sagt, sondern in die Richtung schauen, auf die er hinarbeitet.

Es ist naiv, Johnson danach zu beurteilen, wie erfolgreich er sich für den Brexit einsetzt. Das ist genauso naiv und kurzsichtig wie eine Beurteilung Trumps nach seinem Erfolg, die Mauer gegen Mexiko zu bauen. Beides ist Gerede, das nur einem Zweck dient: der Polarisierung. Klappt es, kann man sich von den Anhängern feiern lassen. Klappt es nicht, kann man den Gegner attackieren. Beides erfüllt seinen Zweck.

Dieser veränderte Blickwinkel wirft ein anderes Licht auf die bisherige Amtszeit von Johnson, der keineswegs planlos durch die Gegend irrt, sondern gezielt und zynisch seine Ziele verfolgt.

Wenn dann die Demonstranten einen aufgeblasenen Johnson zum Himmel steigen lassen: schön für Johnson. Hätten sie ihn gefragt, hätte er selbst sogar den Ballon aufgepustet.