Zum Autor:

Arnd Pollmann ist Professor für Ethik und Sozialphilosophie an der Alice Salomon Hochschule Berlin und u.a. Mitherausgeber der Zeitschrift für Menschenrechte. Er lehrt und forscht im Bereich der Praktischen Philosophie, vor allem auf den Gebieten der Ethik und Moralphilosophie, der Sozialphilosophie und der Politischen Philosophie. Soeben ist im Suhrkamp-Verlag sein neues Buch erschienen: „Menschenrechte und Menschenwürde. Zur philosophischen Bedeutung eines revolutionären Projekts“, Berlin 2022.

 

Oft heißt es feierlich: „Alle Menschen haben Menschenrechte“ oder „Alle Menschen haben die gleiche Würde“. Doch angesichts des Ukraine-Krieges und auch mit Blick auf viele weitere globale Missstände, wie etwa Flucht, Klimawandel oder Armut, stellt sich derzeit einmal mehr die Frage: Wem genau „nützen“ diese mit Pathos proklamierten Ansprüche, die man als Mensch – gewissermaßen ideell – auch dann haben soll, wenn man sie – faktisch – gerade nicht zuerkannt bekommt. Die ukrainische Zivilbevölkerung wird bombardiert, terrorisiert, getötet. Unzählige andere Menschen, die vor politischer Verfolgung, Bürgerkriegen oder Umweltzerstörung fliehen, werden an den EU-Außengrenzen abgewiesen. Weltweit leben fast 800 Millionen Menschen in „absoluter“ und damit langfristig tödlicher Armut. Wer ist verantwortlich für den effektiven Schutz der Menschenwürde dieser zahllosen Opfer sehr konkreter Menschenrechtsverletzungen?

Während es nach Gründung der Vereinten Nationen im Jahr 1945 lange Zeit so aussah, als sei mit einem stetig fortschreitenden, globalen „Siegeszug“ der Menschenrechte zu rechnen, ist heute der politische Befund kaum mehr von der Hand zu weisen, dass die Menschenrechte längst schon wieder unter massiven autoritären „Druck“ geraten sind. Die innen- und außenpolitischen Verwerfungen in der Folge des 11. Septembers 2001, die traurige Aussichtslosigkeit militärischer Interventionen direkt im Namen der Menschenrechte in Afghanistan oder im Irak, die Krisen der kapitalistischen Weltwirtschaft, das Widerstarken von Nationalismus und Protektionismus selbst in „Mutterländern“ der Demokratie und nicht zuletzt die völkerrechtswidrige Invasion Russlands in die Ukraine: Diese weltpolitischen Krisen und geopolitischen Kriege beweisen neuerlich, dass „uns“ die Menschenrechte keineswegs fraglos gegeben sind. Sie mussten und müssen stets aufs Neue gegen politische Willkürherrschaft und autoritäre Widerstände erkämpft werden. Und sie können erneut alten und neuen Ideologien nationalistischer Selbstbehauptung zum Opfer fallen.

Daraus aber den voreiligen Schluss zu ziehen, dass das Pochen auf Menschenrechte naiv, „von gestern“ oder gar entbehrlich sei, wäre völlig verfehlt. Zumindest die unzähligen Opfer weltweit grausamer Menschenrechtsverletzungen werden derartige Abgesänge als zynisch empfinden. Es ist trotz aller Rückschläge ein historisch und politisch kaum zu unterschätzender, wenn auch immer bloß vorläufiger Fortschritt gewesen, dass die in den Vereinten Nationen direkt nach dem Zweiten Weltkrieg sehr plötzlich wieder zusammenrückende Menschheit seinerzeit damit begonnen hat, einen Katalog völkerrechtlicher Vereinbarungen zum Schutz der Menschenrechte anzulegen und dann auch institutionell umzusetzen, der inzwischen etwa 20 maßgebliche Übereinkommen umfasst. In Reaktion auf die totalitären Barbareien und die beiden Weltkriege griff damit schon bald nach 1945 eine weltpolitisch revolutionäre Vision um sich: Die Vereinten Nationen verpflichteten sich auf universelle Menschenrechte, die allen Menschen weltweit ein mindestens menschenwürdiges Leben ermöglichen sollen.

Ein international koordiniertes Schutzregime sollte fortan jeder nationalstaatlichen Herrschaft legitime Grenzen setzen. Die Mitgliedstaaten verpflichteten sich jeweils dazu, in ihrem Innern für menschenwürdige Lebensverhältnisse zu sorgen. Und sie verpflichteten sich nach außen hin, mit der internationalen Staatengemeinschaft zu kooperieren, falls es in den jeweils anderen Ländern zu massiven Verletzungen der Menschenrechte oder auch der Menschenwürde kommen sollte. Stets geht es dabei um das schon in der Allgemeinen Erklärung der Menschenrechte von 1948 dokumentierte Bekenntnis, dass die „Anerkennung der angeborenen Würde und der gleichen und unveräußerlichen Rechte aller Mitglieder der Gemeinschaft der Menschen die Grundlage von Freiheit, Gerechtigkeit und Frieden in der Welt bildet“. Dabei sind die Ideen der Menschenwürde und der Menschenrechte als zwei Seiten derselben Medaille zu verstehen: Wer an die Menschenwürde glaubt, muss notwendig deren Schutz durch Menschenrechte proklamieren, und wer sich ausdrücklich zu den Menschenrechten bekennt, wird dies immer auch im Namen der Menschenwürde tun.

Ballhausschwur 1789, Quelle: www.wikipedia.org

Diese überaus enge Verknüpfung beider Grundideen, die sich bekanntlich auch in Artikel 1 des deutschen Grundgesetzes wiederfindet, mutet aus heutiger Sicht geradezu selbstverständlich an. Zumeist jedoch wird die ideengeschichtliche und auch rechtshistorische Tatsache übersehen, dass dieser begriffliche Zusammenhang vor dem Zweiten Weltkrieg kaum einmal hergestellt wurde. Sicher, die philosophischen Begriffe der Menschenwürde und der Menschenrechte sind beide sehr viel älter und jeweils auch schon vor 1945 geläufig. Aber „neu“ ist deren begründungstheoretische, rechtsarchitektonische Verknüpfung. Wenn nämlich vor 1945 von Menschenrechten die Rede war, etwa in den revolutionären Verfassungsentwürfen des späten 18. Jahrhunderts in Nordamerika und Frankreich, so wollte man diese Rechte zwar auf ein typisch menschliches Interesse an „Freiheit“ und „Gleichheit“ gründen. Doch zu keinem Zeitpunkt kamen die Gründer:innen des modernen Menschenrechtsdenkens auf die Idee, diesen für die Menschenrechte lange Zeit maßgeblichen Leitgedanken gleicher Freiheit ausdrücklich im Rückgriff auf den Begriff der menschlichen Würde zu interpretieren.

Damit liegt die philosophisch wichtige Frage auf der Hand, wie es zu dieser inzwischen geradezu selbstverständlich anmutenden, aber lange Zeit eben keineswegs selbstverständlichen Verknüpfung gekommen ist. Was genau ist geschehen? Warum wirkt dieser vergleichsweise neue begründungstheoretische Zusammenhang zwischen Würde und Rechte heute nahezu unauflöslich? Offenbar sind es die massiven, ja, monströsen Gewalterfahrungen des kriegerischen und totalitären 20. Jahrhunderts selbst gewesen, durch die jene beiden vormals getrennt voneinander verlaufenden Diskurse so miteinander verschmolzen wurden, dass es zu einem sich im Völker- und Verfassungsrecht niederschlagenden Lernprozess hat kommen können. Das in der Folgezeit auf Ebene der vereinten Nationen institutionalisierte Schutzsystem zu Gunsten von Menschenrechten und Menschenwürde mag auch heute noch unzureichend ausgestaltet und aktuell in einen geradezu besorgniserregendem Zustand sein. Dennoch oder gerade deshalb liegt der globale Sinn der Menschenrechte darin begründet, all denen, die jeweils „vor Ort“ politische Gewalt ausüben, in grundlegenden Hinsichten vorschreiben zu wollen, wie jene, die dieser Gewalt unterworfen sind, regiert werden sollen, und zwar „menschenwürdig“.

Die inzwischen auch akademisch und interdisziplinär weit verzweigte Debatte wird stets inmitten eines komplexen Wirrwarrs aus philosophischen Ideen, historischen Entwicklungen, humanitären Forderungen, politischen Kämpfen, juristischen Bedenken oder auch ökonomischen Sachzwängen geführt, die deren nationale und globale Verwirklichung bis auf weiteres utopisch anmuten lassen. Dennoch handelt es sich um eine „realistische“ Utopie, und zwar in dem Sinn, dass ihre Verwirklichung im Rahmen demokratisierter Rechtsstaaten, eingebunden in eine nicht länger ohnmächtige internationale Staatengemeinschaft, möglich wäre. Die Welt müsste sich lediglich dazu entscheiden, diese Realisierung dann auch tatkräftig zu wollen; obgleich der Weg dorthin derzeit weiter und steiniger denn je erscheint.

Lange Zeit schien das historisch und politisch Projekt der Menschenrechte auf dem Siegeszug. Aber heute muss es erneut gegen vielerlei Anfeindungen und auch gegen zynische Nekrologe und verächtliche Abgesänge verteidigt werden. Der autoritäre und nationalistische Terror dieser Tage lässt den revolutionären Traum von einem weltweit durch Menschenrechte geschützten Leben in Menschenwürde beinahe illusorisch erscheinen. Gerade deshalb will das Buch „Menschenrechte und Menschenwürde“ entschlossen an diesem Projekt festhalten. Zu hoffen wäre: Im Zuge der Globalisierung wächst nicht nur das weltweit krisenanfällige Geflecht aus Politik, Wirtschaft, Kultur und Kommunikation, sondern zugleich auch die Aufmerksamkeit für die „Universalität“ menschlichen Leidens. Kommt es irgendwo auf dieser Welt zu massiven politischen Ungerechtigkeiten, zu inhumaner Unterdrückung, kriegsbedingter Vertreibung oder barbarischen regierungsamtlichen Verbrechen, so gilt es – mehr denn je – daran zu erinnern: Alle Menschen haben die gleichen Menschenrechte, die ein mindestens menschenwürdiges Leben für jeden und jede ermöglichen sollen! Und um an dieses historisch und politisch fragile, aber ungebrochen dringliche Erbe zu erinnern, wird mit dem Buch eine überaus umfangreiche philosophische Deutung und Rechtfertigung jenes revolutionären Projekts vorgelegt.