Am letzten Wochenende las ich in der niederländischen Zeitung NRC ein Interview mit dem VVD-Politiker Caspar van den Berg. Es ging um die neue „Bauern- und Bürgerbewegung“ (BBB), die hier vor zwei Wochen bei den Wahlen für die Provinzen gewonnen hatten. Das Interessante: so ein Interview habe ich in Deutschland noch nie von einem Politiker gelesen.

Worum geht es? Zur Zeit tobt in den Niederlanden ein „Bauernkrieg“, ausgelöst durch die Debatte über den Stickstoffausstoß. Die Bauern wollen (und können) diesen Ausstoß nicht reduzieren und gehen wütend auf die Straßen. Ein Kulturkampf entsteht. Mit viel Polemik und Populismus. Land gegen Stadt.

In diesem Kontext entstand das Interview vom letzten Wochenende. Was sagte der Politiker? Es kam kein Jammern. Es kam kein Klagen über diese Bauern, die alles kaputt machen wollen und den klassischen Parteien den Kampf angesagt haben. Es kam eine Analyse.

Van den Berg legte dar, dass in der Tat in den letzten Jahrzehnten der ländliche Bereich sträflich vernachlässigt worden ist. Er zählte auf, welche Infrastruktur auf dem Land nicht mehr finanziert wurde, welches Personal auf dem Land fehlt usw. Und er kündigte an, dass diese Dinge behoben werden.

Warum erstaunt mich dieses Interview? Weil ich so etwas von einem deutschen Politiker nicht gewöhnt bin. Da gibt es eine Bewegung, die mit Populismus nach oben kommt. Was ist die Reaktion eines deutschen Politikers? Wie sah sie aus, als bei Pegida die ersten Menschen auf die Straße gingen? Laut Politikern waren das alles Nazis. Polemik wurde mit Polemik beantwortet. Nicht mit Nachdenken. Das Ergebnis ist bekannt.

Die spannende Frage wäre gewesen: warum gehen die auf die Straße? Was sind das für Menschen? Warum sehen die in ihrem Leben und in ihrem Umfeld einfach keine Perspektive mehr?

Darüber wurde nicht nachgedacht. Stattdessen kam die Moral. Die sind böse. Vielleicht waren sie das. Aber warum eigentlich?


Moral in der Öffentlichkeit

Dieser Unterschied fällt mir immer wieder auf: das deutsche Moralisieren und der niederländische Pragmatismus.

Bei der Klimadebatte läuft es eigentlich genauso ab. In Deutschland wird schnell moralisiert, der Einzelne in die moralische Pflicht genommen – ohne dass effektiv viel passiert. In den Niederlanden sind solche Debatten absoluter Luxus. Dieses Land kämpft seit Jahrhunderten gegen das Wasser. Das hat die Niederländer gelehrt: wir müssen handeln, sonst saufen wir ab. Entsprechend konkret bereitet man sich hier auf den Klimawandel vor.

Natürlich ist auch in den Niederlanden nicht alles Gold, was glänzt. Aber diese unterschiedliche Herangehensweise an Probleme fällt schon auf. Es gibt in Deutschland einen weit verbreiteten Glauben, dass die Moral ein Problem lösen kann. Wenn ich das moralisch Verkehrte einer Sache benenne, wird es aufhören.

Die Moral kann aber kein Problem lösen. Im Gegenteil wird der Moralisierte im Normalfall noch stärker in die Opposition gehen. Natürlich wäre toll, wenn die gefundene Lösung moralisch gut ist. Das ist aber eine andere Ebene. Die Lösung soll moralisch sein. Sie ist aber nicht die Moral.


Moral im Unternehmen

Brechen wir das einmal runter auf die Ebene eines einzelnen Unternehmens.

In diesem Unternehmen gibt es einen Missstand. Es herrscht schlechte Stimmung, viele Mitarbeiter werden gemobbt. Keiner traut keinem.

Jetzt kann man hingehen und den Mitarbeitern klarmachen, dass das moralisch schlecht ist. Dass man einander mit Respekt begegnen sollte, dass jeder Mitarbeiter einen Wert und eine Würde hat usw.

Es wird nichts helfen. Die meisten Menschen wissen, wenn sie etwas Moralisch Schlechtes machen. Es ist meist kein kognitives Problem, sondern es sind die Umstände. Das entbindet den Einzelnen davon, dass er für das verantwortlich ist, was er tut. Aber es gibt eben Faktoren, die dieses Verhalten begünstigen und hervorrufen. An die muss ich ran, wenn ich einen neuen Zustand erreichen will.

Die Frage muss also lauten: warum gibt es schlechte Stimmung? Wo und in welchen Situationen entsteht Mobbing? Wie kann ich das verhindern?

Die Moral ist hier nicht die Lösung des Problems, aber die Moral hilft, in welcher Richtung man nach der Lösung suchen muss.

 

Moral ist keine Lösung, aber sie hilft, die richtige Lösung zu finden

Das gilt auch in den großen gesellschaftlichen Fragen:

Es bringt nichts, jedem, der bei Pegida mitgelaufen ist, für einen Bösewicht zu halten. Er wird dann auch zu einem Bösewicht werden. Warum lief er mit? Was fehlte ihm? Was suchte er dort, was er anderswo nicht bekam?

Es bringt nichts, jeden Autofahrer als Klimateufel zu bezeichnen. Er wird nur in seiner Meinung bestärkt, ein Klimateufel zu sein. Warum will er (oder muss er) Auto fahren? Wie kann Mobilität zukünftig gestaltet werden, dass der heutige Autofahrer mit seinen Bedürfnissen zufrieden ist und es trotzdem klimaneutral ist?

Moral ist keine Lösung. Im Gegenteil verhindert der moralische Zeigefinger Lösungen, weil er Gräben schafft. Moral ist keine Lösung, aber sie kann helfen, eine gute Lösung zu finden. Insofern ist die Moral natürlich notwendig. Sie ist nicht die Lösung, aber sie gibt der Lösung die Richtung vor.

Das ist ein feiner, aber wichtiger Unterschied. Der gerade in den deutschen Debatten viel Feuer und unnötige Polemik rausnehmen würde.