Die beiden Wörter „Mythos“ und „Logos“ sind vielen bekannt als zwei Begriffe aus der Antike:

Vertreter des Logos und Kämpfer gegen den Mythos: Aristoteles (384-322 v. Chr.) (wikimedia)
Auf der einen Seite der Mythos: bildhafte, eingängige Geschichten mit märchenhaften Elementen. Die Reisen des Odysseus. Die Heldentaten des Herakles.
Auf der anderen Seite der Logos: die kristallklare Vernunft, das Denken, die Rationalität. Platon, Aristoteles. Die großen Philosophen.
„Mythos“ und „Logos“ sind vor allem bekannt als Markierungen eines tiefgreifenden Konfliktes: der Kampf der Vernunft gegen die Unvernunft.
Wenn man „Mythos“ und „Logos“ nicht von ihren Inhalten her denkt, also nicht Herakles gegen Platon, sondern von ihren Mechanismen her, davon, wie ihre Inhalte erzeugt wurden, ergeben sich für „Mythos“ und „Logos“ folgende Eigenschaften:
Es ist wichtig, Mythos und Logos als zwei verschiedene Formen der Weltwahrnehmung und des Weltausdrucks zu verstehen. Der Mythos ist das Ergebnis einer schnellen, unreflektierten Wahrnehmung. Mit starken Bildern zielt er auf das Unbewusste und setzt sich dort fest. Der Logos ist das Ergebnis eines zähen Nachdenkens. Er gebraucht keine Bilder, sondern sachliche Argumente. Er zielt nicht auf die Emotionen, sondern auf den Verstand.
Wenn man sich diese unterschiedlichen Funktionsweisen von Mythos und Logos ansieht, wird deutlich, dass diese beiden nicht nur in die Antike gehören, sondern zwei stets aktuelle Arten sind, die Welt zu verarbeiten: emotional oder kognitiv. Dies wird auch immer so bleiben, weil wir Menschen beides sind: emotionale und kognitive Wesen.
Edward Bernays
Nun hat vor knapp 100 Jahren ein Mann großer Klarheit und zugleich mit großer Skrupellosigkeit mit diesen beiden Elementen gearbeitet und damit unser heutiges Leben mehr beeinflusst, als uns bewusst und lieb sein dürfte: Edward Bernays (vgl. auch den Blog: „Edward Bernays„).

Edward Bernays (1891-1995), wikimedia
Er ist der Vater des modernen Marketings, das uns jeden Tag umgibt. Die entscheidende Wende, die er durchführte, ist folgende: es gab ein Bedürfnis, also stellte ich die Waren her, um sie zu verkaufen.
Bernays geht den entscheidenden Schritt, indem er sagt: wir müssen nicht schauen, ob es ein Bedürfnis gibt. Wir können es auch machen. Und dann verkaufen.
Das Hilfsmittel, Bedürfnisse zu schaffen: Mythen. Geschichten, Bilder, die auf das Unbewusste zielen. Bernays ist derjenige, der den Cowboy als Werbeträger für die Zigarettenindustrie erfand. Die Zigarette als Ausdruck der Freiheit: ein genialer Mythos.
Bernays arbeitete auch für die damalige US-Regierung und er betonte immer wieder: diese Art der Werbung und des Marketings ist absolut notwendig für eine Demokratie, die davon lebt, dass die Kommunikation der Regierung bei den Menschen ankommt. Oder anders gesagt: Propaganda ist erst einmal eine neutrale Methode. Die Frage ist nur, ob man sie für gute oder schlechte Ziele einsetzt.
Mythos und Logos in der politischen Kommunikation
Vor diesem Hintergrund von Mythos und Logos ergibt sich eine interessante Analyse der aktuellen politischen Kommunikation. Sie wird dominiert von Akteuren, die eindeutig dem Mythos zuzuordnen sind: sie sprechen in Bildern, die eingängig und schnell zugänglich sind, sie legen keinen Wert auf Wahrheit oder Belege, sie zielen auf Stimmungen und Emotionen.
Trump ist sicherlich das schillerndste Beispiel dieser Kommunikation, sie lässt sich aber auch in nahezu allen anderen Ländern beobachten. Auch in Deutschland.
Hier ist es vor allem die AfD, die auf Emotion und Bilder setzt. Solche Sätze wie „Deutschland ist voll“, „Deutschland muss deutsch bleiben“, „Die Ausländer sind an allem schuld“, „Die Ausländer sind Teil einer geplanten Umvolkung“ sind nichts anderes als absichtsvoll inszenierte Mythen, die absolut zielsicher sind, da sie direkt mit entsprechenden Bildern im Kopf des Zuhörers verbunden sind.
Um es zu betonen: natürlich gibt es Probleme bei der Migration, keine Frage. Und dass die seit Jahrzehnten nicht gelöst werden, ist eigentlich ein Skandal. Es gibt Probleme, aber dass Deutschland aufgrund der Migration kurz vor dem Untergang steht, ist nichts anderes als inszenierte Propaganda. Die jährlichen Kosten für die mangelhafte Digitalisierung in Deutschland sind beispielsweise etwa 5x so hoch wie die der Migration. Es sind eben nicht immer die großen Probleme, die in den Schlagzeilen stehen.
Nun haben wir ja aus der Geschichte gelernt: dem Mythos mit dem Logos begegnen, der Emotion mit der Vernunft. Nun wissen wir aber auch spätestens seit Sigmund Freud, dass das mit den Emotionen nicht so einfach ist: sie lassen sich nicht abstellen. Und das sehen wir auch im politischen Alltag: es ist fast unmöglich, gegen Bilder und Emotionen zu argumentieren. Wenn beispielsweise die AfD den messerschwingenden Migranten an die Wand malt, dann hilft kein Verweis auf Statistiken oder wirtschaftliche oder demographische Notwendigkeiten. Es geht ins Leere und das sehen wir jeden Tag.
Demokratie braucht Mythos
Nun kommt Bernays und sagt: eine Demokratie braucht Propaganda! Übersetzt: wir brauchen nicht nur den Logos, wir brauchen den Mythos. Wir brauchen nicht nur die Fakten, wir brauchen auch die Bilder und die Erzählungen, diese Fakten zu vermitteln.
Es geht nicht darum, niveauloses Gehetze mit niveaulosem Gehetze zu beantworten. Es geht darum, dass die Inhalte, die durch die Vernunft gewonnen werden, die durch Abwägung und freie Diskussion errungen werden, so vermittelt werden müssen, dass sie auch ankommen. Um nichts anderes ging es Bernays.
Das bedeutet: man kann lange auf Fakten verweisen, warum Migration gut ist. Es wird nichts helfen. Was hilft, sind Bilder und Visionen, die deutlich machen, dass Lebendigkeit, Entwicklung und Fortschritt nur im kulturellen Austausch möglich ist. Und historisch gesehen auch nur in diesen Zeiten gelang. Dass es dumm und stumpfsinnig ist, sich nach allen Seiten abzuschotten und auf eine reine deutsche Kultur zu hoffen, die es nie gegeben hat. Lebendigkeit gegen dumpfes Dahinvegetieren. Dafür gibt es Bilder, Geschichten und Erzählungen.
Warum konnten Leute wie Martin Luther King so viel bewegen? Weil sie Mythen und Bilder erzeugen konnten.

Quelle: theconversation.com
Die Demokratie ist darauf angewiesen, mehr Bilder und Visionen davon zu entwickeln, dass unser gesellschaftliches Zusammenleben nicht von einem Führer oder einer Partei dominiert werden darf, sondern immer neu austariert und lebendig ausdiskutiert werden muss. Dass nie eine Gruppe immer nur Recht hat und nie eine Gruppe immer schuld ist. Dass eine Gesellschaft nicht stehenbleibt, sondern etwas Lebendiges, sich immer weiter Entwickelndes ist. Auch dafür gibt es Bilder.
Bernays weist darauf hin, dass Kommunikation immer auch aus „Mythos“ bestehen muss, aus Bildern und Visionen, die schnell eingängig sind. Kommunikation darf nicht nur aus dem „Logos“ bestehen, aus den nüchternen Fakten, weil ein Mensch nicht nur logisch tickt, sondern auch emotional. Gelingende Kommunikation zielt auch auf die Emotionen. Hier muss die Politik noch viel lernen an „mythischer Kreativität“, an der Fähigkeit, ihre Botschaften in Bilder und Visionen zu vermitteln.
Denn wenn Bernays darauf hinweist, dass eine Demokratie auf solche Bilder angewiesen ist, weist er zugleich darauf hin, dass sie in ihrem Bestand gefährdet ist, wenn sie es nicht tut.