Nach meinem vorigen Blog, den ich für das „Bilingual Solutions Institute“ über die Niederlande schrieb, ist wieder einiges Wasser die Maas runtergeflossen. Ein halbes Jahr lebe ich nun in den Niederlanden. Man hat sich an vieles gewöhnt – fast sogar an das pappige Brot – und hat durchaus schon so etwas ähnliches wie Heimatgefühle, wenn man über die Van-Brienenoord-Brücke in Rotterdam die letzten Meter „nach Hause“ fährt.

Ein Aufenthalt im Ausland hat immer auch viel von Aufbruch, Abenteuer und Neuanfang – auch wenn ich mir durchaus der Tatsache bewusst bin, dass es da Länder gibt, die in dieser Hinsicht größere Herausforderungen bieten. An dieser Stelle herzliche Grüße an einen guten Bekannten, der gerade in Fortaleza in Brasilien weilt, wo jede Nacht 30 Mordfälle gezählt werden, weil die Militärpolizei mal wieder streikt.

Dagegen sind die Niederländer ein sehr friedliches Volk. Wie soll man die Mentalität der Niederländer beschreiben?



Um die Niederländer zu verstehen, ist es hilfreich, darauf zu schauen, woher sie kommen: aus dem Wasser. Strenggenommen kamen natürlich nicht die Niederländer aus dem Wasser, sondern das Land. Das wurde dem Meer in vielen Jahrhunderten abgerungen.

„Gott schuf die Erde, wir schufen Holland!“ sagen die Niederländer bis heute selbstbewusst über ihren erfolgreichen Kampf gegen die Gewalt des Meeres. Etwa die Hälfte der Niederlande liegt unter dem Meeresspiegel. Wenn ein Land gegen das Wasser kämpfen kann, dann die Niederlande. Was den niederländischen Ingenieuren in Zeiten des Klimawandelns weltweit geschäftliche Termine veschafft.

 

Die Poldermentalität

Im Mittelalter begannen die Einwohner der Niederlande, Küsten- und Sumpfgebiete trockenzulegen, zu „poldern“. Diese Trockenlegung war Sache der ganzen Dorf- oder Stadtgemeinschaft und war auch nur so möglich. Individualinteressen mussten sich im gemeinsamen im Kampf gegen das Meer erst einmal unterordnen.

Dieser ewige Kampf gegen das Meer und das Grundwasser schuf eine bestimmte Mentalität, die „Polder-Mentalität“. Diese lebt davon, gemeinsam und sehr pragmatisch eine Sache anzupacken. Es gibt keine ausgeprägten Hierarchien, jeder ist gleich und jeder muss mitanpacken. Bis heute legen die Niederländer sehr wenig Wert auf Titel und Hierarchien, Ausreißer nach oben oder unten werden eingefangen, kulturell und sozial.

Hier entstand eine Gesellschaft, die darauf aufbaut, Kompromisse zu schließen. Man muss sich untereinander verständigen, sonst geht es nicht weiter. Dass diese Mentalität dann auch zu endlosen geschäftlichen Gesprächsrunden (“afspraken” ist eines der am meisten benutzten Wörter im Land) führen kann, die einem Deutschen manchmal etwas ziellos vorkommen, ist eine Nebenwirkung.

 

Die Niederländer besprechen alles, wissen aber immer, dass es vielleicht ganz anderes kommt und sind entsprechend flexibel.

Die Deutschen planen alles sehr zielgerichtet, versuchen alle Eventualitäten miteinzubeziehen und reagieren dann eher verstört, wenn die Wirklichkeit sich nicht so verhält, wie in den Plänen vorgesehen.

„Mout kunnen“, „muss können“, sagen die Niederländer und vertrauen auf ihre Flexibilität und ihren Pragmatismus. Entsprechend anders fallen auch die bisherigen Reaktionen auf das Coronavirus aus. Wo in Deutschland oft schon deshalb Panik ausbricht, weil etwas passiert, das nicht geplant ist, bleiben die Niederländer relativ ruhig und gelassen.

Die Tatsache, dass beim deutschen Nachbarn Panik herrscht, führte vor einigen Tagen in den Niederlanden in einer Talkshow immerhin zu der Frage, ob es sein könnte, das man bisher etwas zu cool reagieren würde.

Um keine Missverständnisse aufkommen zu lassen: auch hier laufen die Vorbereitungen für das Virus. Aber man geht bisher mit der gleichen gelassenen, aber konzentrierten Grundhaltung zu Werke, mit der man seit Jahrhunderten dem Meer einen Quadratmeter nach dem anderen abgewinnt und Tag für Tag und Jahr für Jahr das Grundwasser in die Flüsse hochpumpt.

Als 1982 die Niederlande in einer Wirtschaftskrise steckten, schlossen die verschiedensten Interessensvertreter aus Politik und Wirtschaft sich zusammen und suchten gemeinsam und in Kompromissen aus der Krise. Der Name dieses Zusammenschlusses? Natürlich das „Polder-Modell“.



Jede Mentalität hat ihre Stärken und Schwächen, auch die niederländische und die deutsche. Bei dem einen kann das Gespräch und das gemeinsame Ausloten zum Selbstzweck werden, bei dem anderen die Planung und die Planungsergebnisse, die zu moralischen Prinzipien werden.

Die Geschichte kann nicht alles, aber sehr vieles an diesen Mentalitäten erklären. Da gibt es kein besser und kein schlechter. Aber man muss die Mentalitäten kennen, in denen man lebt und die – ob man will oder nicht – zu einer Realität des eigenen Lebens werden, wenn man nicht nur im eigenen Haus leben und aus der Luft versorgt werden will. Diesen Schritt zu machen, ist sicherlich einer der ganz wichtigen, in einem Land wirklich anzukommen.

 

P.S. Der niederländische Ministerpräsident Mark Rutte erklärt das Verbot, wegen des Coronavirus die Hände zu schütteln. Holländischer geht’s nicht.