Es gibt Werke, die Wahrheiten aussprechen, die nicht schön sind. Sie blicken mit einer gewissen Gnadenlosigkeit auf die Realität und präsentieren dem Leser derart ungeschminkt die brutale Wahrheit über sich und seine Gesellschaft, dass man sich oft fragt, ob es gut ist, dass zu wissen, was einem da präsentiert wird.

Das berühmteste dieser Bücher ist sicherlich „Der Fürst“ des Machiavelli. Ein weiteres Buch, das fast genauso berühmt ist, ist die „Psychologie der Massen“ von Gustav Le Bon.

 

Gustav Le Bon (1841-1932), Quelle: www.wikipedia.org

Der Franzose Gustav Le Bon lebte von 1841 bis 1931. Im zarten Alter von knapp sieben Jahren wurde er 1848 Augenzeuge der Unruhen der sog. „Februarrevolution“. 1871 erlebte er dann die turbulenten Zeiten der „Pariser Kommune“. Beide Ereignisse haben bei Gustav Le Bon einen tiefen Eindruck hinterlassen.

Obwohl eigentlich Mediziner, interessierte sich Le Bon zeit seines Lebens für die Psyche des Menschen – aber nicht für die Psyche des Einzelnen, sondern dafür, wie die Menschen sich als Gruppe verhalten. Le Bon unternahm viele Reisen, kämpfte 1870 als Soldat im deutsch-französischen Krieg – immer mit der Frage im Hinterkopf: was passiert da eigentlich, wenn der Mensch nicht einzeln ist, sondern sich in der Masse befindet? Wie reagiert er? Wie denkt er? Wie fühlt er? Was beeinflusst ihn?

1895 erschien sein bedeutendstes Werk „Die Psychologie der Massen“, das ihn zum Begründer der sog. „Massenpsychologie“ machen sollte. Der Einfluss seines Werkes ist beträchtlich: es wurde zur Pflichtlektüre für alle, denen es um eine gewisse Wirkung in der Öffentlichkeit geht – damit auch für Politiker und Diktatoren, die es zur Verfeinerung ihrer Propagandatechniken einsetzten.


Die Psychologie der Massen

Wenn der Mensch in einer Masse ist, so fühlt und handelt er nicht mehr als Einzelner, sondern als Teil der Masse. Diese Masse fühlt und handelt nun gemeinsam, sie bildet, so Le Bon, eine „Massenseele“.

Ganz allgemein kann man sagen, dass die Masse nicht rational, sondern emotional handelt. Le Bon spricht hier von einer „Herrschaft des Unbewussten“: der Einzelne verliert in der Masse seine persönliche Kritikfähigkeit, seine eigene Fähigkeit, die Dinge zu hinterfragen und zu durchdenken. Hierbei spielt es eigentlich keine Rolle, so Le Bon, wie gebildet jemand ist: als Teil der Masse wird er mitgezogen.

Quelle: www.pixabay.com

Die Masse denkt in Bildern. Sie braucht Material, das sofort und unmittelbar zu verarbeiten ist. Logik muss nur simuliert werden und das passiert, indem Dinge als miteinander verknüpft dargestellt werden, es aber nicht sind. Der Anschein reicht, und die Sache gilt als bewiesen – eine traurige Tatsache, die bis heute der Markenkern des Populismus ist. Die Wahrheit spielt keine Rolle: „Je dreister die Lügen, desto eher werden sie geglaubt.“

Dies macht die Masse sehr anfällig für „Führer“: eine Masse drängt zu einem Führer. Ohne einen Führer, d. h. ohne einen, der die Meinung vorgibt, ist die Masse wie eine Herde Schafe ohne Hirte, so Le Bon. Wenn es dem Führer gelingt, die Menge zu begeistern, bildhaft zu sprechen, die Emotionen zu wecken, gewinnt er Macht über sie.

Hierbei ist es ausgesprochen wichtig, immer Handlungen im Auge zu haben: die Masse will nicht denken, sie will etwas machen:

„Je weniger die Masse vernünftiger Überlegung fähig ist, umso mehr ist sie zur Tat geneigt.“

Diese Taten müssen zumindest scheinbar mit dem Weltbild der Masse verknüpft sein. Das Weltbild der Masse, so Le Bon, ist eher konservativ und religiös. Hintergrund ist wohl der Wunsch nach einem gewissen moralischen Halt, nach gemeinsamen Werten, der gerade in der Masse sehr präsent ist und der vor allem in der Tradition und in der Religion gestillt werden kann.

 

Bildung

Gustav Le Bon schaute sehr kritisch auf die Gesellschaften seiner Zeit, in der durch die Medien die Masse eine immer größere Rolle spielte. Le Bon sah den Untergang des damaligen Bildungsbürgertums und sah eine furchtbare Herrschaft der Massen aufziehen, die manipulierbar und verführbar sind.

Das oft vorgebrachte Rezept: „Es braucht mehr Bildung!“, wird von Le Bon sehr entschieden abgelehnt. Der Bildungsgrad des Einzelnen spielt in der Masse keine Rolle mehr. Le Bon spricht von einem „Bankrott der Wissenschaften“: diese haben zwar eine Wahrheit verkünden können, aber kein Glück und keinen Frieden.

Es ist hier sehr wichtig, darauf zu schauen, was Le Bon eigentlich unter „Bildung“ versteht. Damit meint er natürlich die Bildung seiner Zeit. Und die, so Le Bon, bestehe nur aus dem „Auswendiglernen von Texten und Büchern“, aber nicht in der Vermittlung der Dinge, auf die es im Leben wirklich ankommt: „Urteil, Erfahrung, Tatkraft und Charakter“.

Le Bon plädiert damit also durchaus für Bildung, aber eben für eine Bildung, die auf die wesentlichen Fragen des Lebens vorbereitet und den Menschen auf befähigt, politische Urteile abzugeben.


Demokratie?

Gustav Le Bons Schrift über die „Psychologie der Massen“ ist kein Werk, das einem großes Vertrauen in die Demokratie einflößt. Die Menge ist manipulierbar, sie ist sehr emotional und folgt demjenigen Führer oder derjenigen Sache, die auf diese emotionale Befindlichkeit hin ausgerichtet ist.

Quelle: www.washingtonpost.com

Diese Problematik zu leugnen oder als arrogant gegenüber dem „Volk“ darzustellen, ist naiv. Sowohl die Wahlen von Leuten wie Donald Trump oder Silvio Berlusconi (um nicht auf andere Gestalten der deutschen Vergangenheit verweisen zu müssen), aber auch die Volksabstimmung über den Brexit sind genau in dieser Lage entschieden worden. Die ersten Versuche der Demokratie im antiken Griechenland sind genau an dieser Befindlichkeit der Massen gescheitert.

Eine Konsequenz aus diesen uralten Erfahrungen ist das Parlament, und damit nicht die direkte, sondern die indirekte Herrschaft des Volkes. Eine andere Konsequenz ist die Gewaltenteilung des Staates.

Dennoch erweisen sich diese Sicherungsmechanismen oftmals als hilflos. Dies gilt gerade in diesen Zeiten, in denen durch das Internet und die sozialen Medien sehr schnell das erzeugt werden kann, was Le Bon die „Massenseele“ nennt.

Was ist zu tun?

  • Bildung: Le Bon selbst beschreibt die Bildung, die es braucht: „Urteil, Erfahrung, Tatkraft und Charakter“. Das wichtigste ist das Urteil. Bildung ist nicht identisch mit der Wissensvermittlung. Zu Le Bons Zeiten wurden Bücher auswendig gelernt, heute schaut man bei Wikipedia. Es darf in der Bildung nicht nur darum gehen, wie komme ich an Wissen heran, sondern wie gehe ich mit Wissen um: wie kann ich eine Situation rational beurteilen?
  • Schutz der Demokratie: Demokratie ist kein Selbstläufer und Demokratie heißt auch nicht nur: die Mehrheit entscheidet, was sie will. Demokratie lebt von bestimmten Werten (Meinungsfreiheit, Rechtsstaatlichkeit usw.), diese Werte müssen in der Bildung vermittelt werden, aber sie müssen auch effektiv geschützt werden. Dies heißt, sensibler als bisher auf diejenigen zu schauen, welche diese Werte angreifen und die sich der Mechanismen bedienen, die Le Bon beschrieben hat. Hier gilt es, besser hinzusehen und auch schneller als bisher einzuschreiten.

 

Fazit

Le Bons Werk ist bis heute eine Herausforderung, aber eine Herausforderung, der man sich stellen sollte. Zum einen ist dieses Buch für jeden interessant, der etwas in die Öffentlichkeit tragen will: dies gilt auch für den Vertrieb eines Unternehmens oder allgemein für die Außendarstellung eines Unternehmens.

Dieses Buch ist aber in besonderer Weise für jeden interessant, der sich mit dem politischen Diskurs der heutigen Zeit beschäftigt. Natürlich kann dieses Buch lehren, wie man sich manipulativ in der Gesellschaft verhält. Aber dieses Buch lehrt vor allem, diese Manipulationen zu erkennen, wenn sie geschehen. Es ist ähnlich wie bei der Rhetorik: natürlich kann man die Rhetorik missbrauchen, um andere Menschen zu manipulieren. Man kann sie aber einsetzen, um Manipulationen zu erkennen. Ganz abgesehen davon, dass man diese Mittel und dieses Wissen auch selbst für gute Zwecke einsetzen kann. Massenpsychologie, Rhetorik und auch Framing sind erst einmal neutrale Methoden. Ob sie moralisch gut oder schlecht eingesetzt werden, liegt nicht an der Methode, sondern an dem, der sie einsetzt.