Die deutsche Mannschaft ist bei der Weltmeisterschaft ausgeschieden. Wieder einmal in der Vorrunde. Oliver Bierhoff, der Geschäftsführer der Nationalmannschaft ist bereits zurückgetreten (worden), Trainer Hansi Flick scheint (noch) im Amt zu bleiben.
Die Ursachenforschung ist in vollem Gange: wie konnte es passieren, dass die Mannschaft schon wieder so früh ausgeschieden ist? Neben den üblichen Diagnosen (falsche Spieler, falscher Trainer, falsche Taktik) gibt es auch eine für jeden Philosophen interessante Diagnose: die Mannschaft ist an ihrer Moral gescheitert.

Was war passiert?

Einige Länder, unter ihnen Deutschland, hatten sich vorgenommen, ein Zeichen zu setzen gegen den Gastgeber Katar und seine Feindlichkeit Homosexuellen gegenüber. Dies sollte mit der Kapitänsbinde „One love“ und den Regenbogenfarben zum Ausdruck gebracht werden. Wenige Tage vor dem Spiel wies die FIFA darauf hin, dass die Binden verboten seien. Eine erregte Diskussion in den deutschen Medien brach aus, die wohl auch in die Mannschaft hineinwirkte, in der wohl ebenfalls sehr kontrovers über diese Geschichte diskutiert wurde.
Das Ergebnis: die Spieler der deutschen Mannschaft hielten sich beim Mannschaftsfoto vor dem ersten Spiel den Mund zu, um auf ihr erzwungenes Schweigen hinzuweisen. Die Diskussion ebbte trotzdem nicht ab. Deutschland schied aus und Katarer verhöhnten die Nationalmannschaft, indem sie sich mit der Hand vor dem Mund fotografieren ließen.
In den deutschen Medien und den deutschen Stammtischen argwöhnte man schnell, dass diese aus dem Ruder geratene Diskussion nicht ganz unschuldig am Ausscheiden der Mannschaft ist, die sich einfach zu wenig auf das konzentrieren konnte, was sie eigentlich soll: Fußball spielen.


Was ist da (mal wieder) schiefgelaufen mit der deutschen Moral?

Ganz vieles (mal wieder).

Es ist ein Phänomen, das auch aus der katholischen Kirche hinlänglich bekannt ist (auch wenn sie selbst es noch nicht verstanden hat): wenn man selbst moralisch nicht ganz sauber ist, geht es immer nach hinten los, andere auf moralische Vergehen hinzuweisen.

Es kommt zu spät:

Erst einmal ist es komisch, jetzt auf moralische Vergehen in Katar hinzuweisen, die seit vielen Jahren bekannt sind. 2010 erhielt Katar die Weltmeisterschaft und gerade der deutsche Fußballbund bzw. die deutsche Nationalmannschaft ist in all diesen Jahren nicht gerade mit scharfer Kritik aufgefallen.

Man kassiert seit Jahren Geld von Katar:

Deutsche Vereine (und mit ihnen deutsche Nationalspieler) kassieren direkt oder indirekt seit Jahren ziemlich viel Geld aus katarischen Quellen, über das man sich auch nicht beschwert hat. Im Gegenteil wies man gegen jede Kritik lange Zeit darauf hin, dass die Situation in Katar sich ja bessern würde und alles nicht so schlimm sei.

Man hat sich nur halbherzig mit der Thematik beschäftigt:

Thomas Müller, Quelle: wikimedia.

Wenn man dann spät, aber vielleicht nicht zu spät aktiv werden will, muss man gut informiert und glaubwürdig sein. Was machte der DFB? Er bot eine Informationsveranstaltung für die Spieler an. Wir wissen nicht genau, was dort gemacht wurde, das Ergebnis war jedenfalls … naja. Thomas Müller trat anschließend vor die Presse und sagte, das mit Katar sei zwar nicht toll, aber „auch in Deutschland gibt es Menschenrechtsverletzungen“. Wir wissen nicht, woher Müller seine Informationen über in Deutschland staatlich geduldete Zwangsehen oder inhaftierte Homosexuelle hat. Jedenfalls entstand der Eindruck, dass man sich nicht wirklich tiefgreifend mit der Materie beschäftigt hat.



Spieler falsche Botschafter

Eine Trennung von Sport und Politik hat es noch nie gegeben. Zumindest seitdem der Sport im öffentlichen Interesse steht. Wenn es nun darum geht – wie im Falle Katars – eine politische Botschaft zu senden, ist das in erster Linie Aufgabe des Verbandes. Erst einmal müssen die Verbandsvertreter im (jahrelangen) Vorfeld der Veranstaltung bestimmte Dinge deutlich anprangern und – wenn ihnen das Anliegen wichtig ist – mit Konsequenzen drohen.

Wenn man dann im Turnier ist, sind die Möglichkeiten beschränkt. Wenn dann die Mannschaft aus sich heraus deutlich macht, einen Akzent setzen zu wollen, dann soll sie es machen. Wenn dies nicht der Fall ist, sollte man als Verband bei der Mannschaft auch nicht insistieren, weil es keinen Sinn macht, einer Mannschaft eine symbolische Handlung aufzudrücken, die sie nicht ausführen will.

Für Aufklärungsarbeit ist es beim Turnier selbst zu spät, die hätte vorher erfolgen sollen. Ansonsten drückt man etwas durch, was die Mannschaft halbherzig ausführt und nebenbei den sportlichen Erfolg gefährdet, weil Unruhe herrscht.

Nach der Absage der berühmten Kapitänsbinde hätte der Verband bei den Spielern kurz nachfragen sollen, ob sie was machen wollen, und wenn es keine schnelle positive Antwort gibt: „Jungs, geht trainieren!“ Als Verband hätte man dann beispielsweise nach dem Turnier aufgrund dieser Geschehnisse (wie z. B. Dänemark) einfach mal laut über einen Austritt aus der FIFA nachdenken oder einen Gegenkandidaten von FIFA-Chef Infantino aufbauen können. Was nicht passiert ist. Und das macht die Geschichte zu einer halbherzigen Aktion, die auf dem Rücken der Spieler ausgetragen wurde.

Wertlose Geste

Die Spieler die Hand vor den Mund halten zu lassen, ist eine wertlose Geste. Sie ist wertlos, weil die Mannschaft nichts riskierte. Selbst eine gelbe Karte für die verbotene Kapitänsbinde war zu viel Risiko gewesen, weswegen die Binde im Schrank blieb. Dann kann aus einer solchen Hand-Mund-Geste nichts werden. Sie wirkt halbherzig, weil keiner etwas riskiert, weil viele Spieler vor und nach dieser Geste deutlich machten, dass sie dieses ganze Theater einfach lächerlich finden und in Ruhe Fußball spielen wollen.
Über diese Haltung kann man durchaus streiten. Es ist natürlich zynisch, in Ruhe Fußball spielen zu wollen, während einige Tausend Familien um ihre Familienväter trauern, die beim Bau dieser Arenen zu Tode geschunden wurden. Aber eine Diskussion über diese Haltung muss bereits im Vorfeld des Turniers stattfinden.

Unglaubwürdige Geste

Deutschland kämpft für Homosexuelle in Katar. Wow. Wie sieht es im deutschen Fußball aus? Bis heute hat sich nicht ein einziger (!) männlicher deutscher Fußballprofi während seiner aktiven Laufbahn als homosexuell geoutet. Offizielle weisen immer wieder darauf hin, dass man ja nichts gegen Homosexuelle habe, aber man würde eher abraten, dass sich ein Spieler outen würde, weil dieser dann ja vielleicht in den Stadien angefeindet würde. Abgesehen davon, dass man mit dieser Aussage bereits die Hemmschwelle für Homophobie in den Stadien etwas niedriger macht, wird die Ebene des Problems nicht erkannt: nicht das Outing ist das Problem, sondern der Umgang mit dem Outing ist das Problem. Und kann durchaus bearbeitet werden.

Als Jugendlicher in den 1980er und 1990er Jahren hörte ich noch oft in den Stadien moralisch wie logisch fragwürdige homophobe Gesänge über die gegnerischen Fans (“Schwuler Kinderchor”). Diese Zeiten mit diesen Gesängen sind zwar vorbei, dennoch gibt es noch immer eine sehr präsente Homophobie in den deutschen Stadien. Die anscheinend hingenommen wird.


Fazit:

Der deutsche Fußball hat sich bei dieser Weltmeisterschaft nicht nur sportlich, sondern auch moralisch blamiert. Jahrelang machte man gar nicht und hielt die Hand auf, auf einmal sah man sich als die große moralische Instanz des Weltfußballs. Mit der Situation überforderte Spieler wurden nach vorne geschickt und geopfert, während der Verband aus seinen großen Möglichkeiten nichts machte.

Es war pure Symbolpolitik, die weder von denen gewollt war, die sie ausführten, noch für irgendjemanden Konsequenzen haben konnte – weder für den DFB, noch für die FIFA, noch für Katar. Es war eine perfekte Doppelmoral, die auch genauso in Katar und vielen arabischen Ländern ankam: jahrelang kassieren sie unser Geld, jahrelang sind sie hier in Trainingslagern zu Gast und jetzt sagen sie von oben herab, dass sie uns verachten.

Quelle: wikimedia.

Man hat ja oft auf Verbindungen zwischen der Nationalmannschaft und der deutschen Gesellschaft hingewiesen, beginnend in Bern 1954 und dem Wirtschaftswunder nach dem II. Weltkrieg über München 1970 und dem Geist der Moderne, Italien 1990 und der Deutschen Einheit und die Heim-WM 2006 mit dem offenen, gastfreundlichen Deutschland.

Vielleicht kann sich Deutschland heute auch in der Doppelmoral des deutschen Fußballs erkennen. In nahezu allen Debatten, angefangen beim Klima, wird immer mit hohen moralischen Ansprüchen argumentiert, die bei genauem Hinsehen aber auf der Strecke bleiben. Mit unvergleichlicher und unverblümter Klarheit hat es Markus Söder auf den Punkt gebracht:

“Moral ist in der Politik selbstverständlich keine Kategorie, außer wir wollen jemandem schaden.”

Nur darf sich dann Söder genausowenig wie die Nationalmannschaft oder sonstwer darüber wundern, ein dickes Glaubwürdigkeitsproblem zu haben.